profil-Morgenpost: Zwischen allen Stühlen
Wir sitzen derzeit zwischen allen Stühlen. Das wusste profil – wie so häufig – sehr exklusiv schon vor einigen Monaten, weil eine Übersiedlung der Redaktion aus der Taborstraße im 2. Wiener Gemeindebezirk an den Leopold-Ungar-Platz im 19. anstand. Konkret kam es dann etwas anders, und jetzt sitzen wir, ein Kernteam aus Herausgeber, Sekretärin, Chef vom Dienst und Fotoredakteurin, zwischen sehr vielen leeren Stühlen. Die Kolleginnen und Kollegen sowie das Ersatzteam des Kernteams arbeiten im Home-Office, wo die Stühle mit Kindern in jeder Ausprägung des Erwachsenwerdens und mit Lebenspartnern sowie allen möglichen Haustieren besetzt sind wie niemals zuvor.
Glastür zum „Schlafzimmerbüro“
Kollege Clemens Neuhold hat vor Kurzem per Mail die Frage gestellt, ob er seinen Bürosessel (wegen Sesselknappheit? wegen Rückenschmerzen?) nach Hause holen kann, was ihm mit der selbst (oder gerade) in diesen Zeiten wuchernden Bürokratie ganz unbürokratisch genehmigt wurde. Eine schöne Zeile aus Neuholds Text über sein aktuelles Arbeitsumfeld für die kommende Ausgabe von profil: „Kinder brauchen Rituale. Dazu gehört ab sofort ein Abschiedskuss von Daddy, der im gewohnten Arbeits-Outfit um Punkt neun Uhr die Bürotür schließt.“ Es ist eine Glastür zum „Schlafzimmerbüro“.
Zwischen den Stühlen (das ist ein von langer Hand geplanter, uneleganter Übergang) bewegen sich auch die Intellektuellen in diesen Tagen. Sich auf der einen oder anderen Sitzgelegenheit niederzulassen, wagt aber noch niemand. Zwei Großdenker sind es wert, unbedingt gelesen zu werden.
Selbstmord aus Angst vor dem Sterben
Der eine, laut Google 2,02 Meter groß, ist ein ehemaliger Kulturjournalist, der inzwischen als Springer-CEO zum vielleicht besten deutschen Medienmanager aufgestiegen ist (und seinen Sessel mit Anteilen am Verlag dick vergoldet hat): Mathias Döpfner schreibt in einem Leitartikel für die Tageszeitung „Die Welt“ über das Spannungsfeld zwischen opportunen Einschränkungen und überzogenen Maßnahmen. Döpfners Argumente wabern unter Verwendung des etwas albernen Bildes von seinem Einschlafen, Träumen, Aufwachen; er legt sich dann aber doch mit immerhin 51 Prozent seiner Meinung irgendwie fest: „Ich fürchte, wir begehen demokratischen Selbstmord aus Angst vor dem Sterben.“
Die „taz“ kommentiert den Kommentar einigermaßen sarkastisch: Der Springer-Chef habe offensichtlich „gerade ein Praktikum bei ,Bild‘ gemacht, mit einem Extrakurs ,bedeutungsschwangeres Raunen‘ bei Franz Josef Wagner (Anm.: Deutschlands Oberboulevardist)“. Döpfners Text in der „Welt" war übrigens zunächst gratis abrufbar. Inzwischen muss man, um ihn zu lesen, ein Probeabo abschließen. „Die Welt“ gehört selbstredend zu Springer.
Kluge Warnung
Der andere Großdenker, den wir Ihnen hier ans Herz legen, ist Yuval Noah Harari. In einem (kostenfreien) Artikel für die „Financial Times“ vermisst der Historiker und Publizist die Welt angesichts von Corona: zwischen Globalisierung und nationalem Einigeln, zwischen Freiheit und Überwachung. Vor einem Jahr habe ich gemeinsam mit Martin Staudinger und Robert Treichler Harari interviewt. Es wurde ein Interview voller Warnungen. Auch dieser Text von Harari ist eine kluge Warnung, allerdings nunmehr inmitten des Eingetretenen.
Auf Hararis Gedanken bezieht sich denn auch ein Kerntext der kommenden Ausgabe von profil, der inzwischen zum Redigieren auf meinem Kernteam-Schreibtisch in 1190 Wien gelandet ist. (Das ist kein zufälliger Gedankengleichklang: Wir haben den Link zu Harari in der profil-WhatsApp-Leitungs-Gruppe verbreitet, und daher taucht er ebenso in Rosemarie Schwaigers Text auf, der nun ebenfalls bei mir am Schreibtisch aufgepoppt ist.) Die Autoren Gregor Mayer, Robert Treichler und Martin Staudinger enden mit dem Satz: „Wer glaubt, man könne Bürger in einer Demokratie permanent per Fieberthermometer kontrollieren, braucht dringend ein Zäpfchen.“
Zu „Zäpfchen“ fielen mir jetzt Assoziationen mit Stuhl und Stühlen ein, aber diese erspare ich uns.
Ich wünsche Ihnen ein geruhsames Wochenende: mit der Printausgabe von profil am Sonntag und einer weiteren Ausgabe des E-Paper, die wir kostenfrei zur Verfügung stellen (ja, auch in der Hoffnung, dass Sie sich mit einem Abonnement revanchieren, das Sie hier bestellen können).
Ihr Christian Rainer Herausgeber & Chefredakteur
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