Interview

Motivieren Sie Ihre Studenten dazu, sich anzukleben?

50 Wissenschaftler stellen sich hinter die Straßenblockaden der „Letzten Generation“. Ihr Sprachrohr, Reinhard Steurer von der BOKU, über die Frage, warum er Rechtsbruch goutiert und wie sehr er seine Studenten zu zivilem Widerstand motiviert.

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Warum solidarisieren Sie sich als Wissenschaftler mit Menschen, die sich auf die Straße kleben und damit laufend Rechtsbruch begehen?
Steurer
Weil sich Demokratien immer wieder genau so weiterentwickelt haben. So wurden Bürgerrechte für Schwarze in den USA und Frauenrechte weltweit erkämpft. Jetzt kämpfen speziell junge Leute um Ihre Zukunft. Wichtig ist immer die wissenschaftliche oder moralische Grundlage. Hätten Anti-Corona-Demos den wissenschaftlichen Konsens auf Ihrer Seite gehabt, hätten auch diese Proteste die Gesellschaft bereichert. Leider stellten die sich gegen die Wissenschaft.
Nach dieser Logik wäre es auch legitim, in Wiener Öffis die Maske abzulegen. Dass sie keinen Sinn mehr hat, ist unter immer mehr Wissenschaftlern Konsens.
Steurer
Wenn das wissenschaftlicher Konsens ist, was ich nicht beurteilen kann, wäre es ein legitimer Akt zivilen Widerstands. Ziviler Widerstand keimt immer in einem Graubereich auf, wo Dinge zwar rechtlich festgeschrieben, aber moralisch gesehen Unrecht sind. So ist es zwar legal, weiter Öl- und Gas zu verbrennen, für die menschliche Zivilisation ist es aber längst lebensgefährlich.
Wenn Menschenrechtsaktivisten Abschiebungen als moralisch verwerflich sehen, dürfen sie die Polizei dabei hindern?
Steuerer
Das ist eine rechtlich und moralisch kompliziertere Frage. Im Fall des Klimanotstands und der säumigen Politik dazu ist ziviler Widerstand hingegen eindeutig ein legitimes Mittel, um Veränderungen zu bewirken.
In einer Demokratie passieren Veränderungen über Gesetze, die von einer gewählten Mehrheit gemacht werden. In Österreich lehnt eine große Mehrheit das Klima-Kleben ab.
Steurer
Im Amerika der 1960er Jahre meinten 75 Prozent der Weißen, die Proteste der Bürgerrechtsbewegung werde den Schwarzen schaden. Heute wissen wir, dass sich rechtlich verankerter Rassismus ohne störenden Protest damals viel länger halten hätte können. Veränderungen passierten durch zivilen Widerstand, nicht durch die rassistische Mehrheitsmeinung.
Die Letzte Generation organisiert keine historischen Bürgermärsche. Sie blockiert den Verkehr, und das kann rasch gefährlich werden.
Steurer
Auch damals wurden viele Gesetze gezielt gebrochen, auch mittels illegaler Busfahrten oder Straßenblockaden. Um zu wirken, muss ziviler Widerstand in der Mitte der Gesellschaft stattfinden und irritieren, leider.
Der Tod einer Berliner Radfahrerin, die wegen einer Straßenblockade nicht adäquat behandelt werden konnte, lässt Sie nicht zweifeln?
Steurer
Angeblich hatte die Blockade keinen Einfluss auf den Rettungseinsatz.
Laut Abschlussbericht der Berliner Feuerwehr schon.
Steurer
Diesen Bericht kenne ich nicht. Ganz grundsätzlich wären auch mir andere Protestformen lieber, die zu 100 Prozent sicher sind. Aber leider sorgt die Medienlogik dafür, dass Proteste in Kohlegruben oder vor Ministerien kaum noch Echo erzeugen. Dadurch werden die Aktivisten regelrecht auf die Straßenkreuzungen getrieben.
Sie befürworten auch Klebeaktionen in Museen. Dabei kann es zu Sachbeschädigung kommen.
Steurer
Ich sehe die überraschende Wirksamkeit dieser Proteste. Sachbeschädigung war nie deren Ziel, im Gegenteil. Sie wurden gezielt so angelegt, dass möglichst wenig passiert, außer viel Aufsehen. Im Gegensatz dazu haben die für Frauenrechte kämpfenden Suffragetten mal ein Bild zerschnitten. Ich halte es für gut und wichtig, dass das heute nicht passiert.
Wo ziehen Sie ihre rote Linie?
Steurer
Dort, wo Dinge mit Vorsatz zerstört und Menschen bewusst in Gefahr gebracht werden.
Ist das Auslassen von SUV-Reifen vertretbar?
Steurer
Wichtig wäre zu verstehen, dass der SUV-Boom moralisch höchst problematisch ist. Es hätte ihn nie gegeben, hätten wir die Klimakrise schon vor 10 Jahren ernst genommen.
Haben Sie keine Angst, dass der Ruf der Universitäten – in ihrem Fall der Universität für Bodenkultur – unter ihrer Solidarisierung mit der Letzen Generation leidet?
Steurer
Darüber habe ich lange nachgedacht, und ich bin für mich zum Schluss gekommen: Das Größte, das wir zu verlieren haben, ist die Zukunft unserer Kinder. Wir greifen zum Megaphon, weil es um den Fortbestand unserer Zivilisation geht. Das klingt pathetisch, aber es geht halt um viel.
Die Universitäten werden von Bürgern finanziert, die das Klima-Kleben mehrheitlich ablehnen.
Steurer
Ich sehe es als Verantwortung der Wissenschaft, die Gesellschaft auf drohende Katastrophen und mögliche Lösungen hinzuweisen. Wer sollte das machen, wenn nicht wir?
Und was sagt die Universitäts-Leitung dazu?
Steurer
Wir haben nicht nachgefragt, bevor wir uns auf den Praterstern stellten, sondern handelten im Einklang mit der Freiheit von Wissenschaft.
Reden Sie mit Ihren Studenten und Studentinnen offen über die Aktionen der Letzten Generation?
Steurer
Natürlich. Weil es eine potentiell wirksame Form von Protest und damit relevant für die Klimapolitik ist.
Von den jungen Menschen, die sich ankleben, studieren auffallend viele an der Boku. Motivieren Sie Ihre Studenten in den Vorlesungen, sich anzukleben?
Steurer
Ich motiviere sie nicht, sich anzukleben, zeige aber das Potenzial von zivilem Widerstand auf, auch in Bezug auf historische Beispiele.
Hätten Sie ein Problem damit, wenn Studenten Ihre Solidarisierungsaktion als Aufruf zum Ankleben verstehen?
Steurer
Die Botschaft ist klar. Friedlicher und gewaltfreier ziviler Widerstand ist ein Teil der Lösung. Wäre dem nicht so, hätten wir uns als Wissenschaftler nicht mit dieser Protestform am Praterstern solidarisiert.
Wann kleben Sie sich an?
Steurer
Das wird so bald nicht passieren, weil Wissenschaft bei gesellschaftlichen Veränderungen grundsätzlich eine andere Rolle als Aktivismus einnimmt und es gute Gründe gibt, diese beiden Dinge auseinanderzuhalten.  
Wie gehen Sie damit um, dass die Klima-Kleber die Polarisierung in der Gesellschaft verschärfen? Einfache Menschen, die mit dem Auto in die Arbeit wollen, zucken immer mehr aus.
Steurer
Die wahre Polarisierung entsteht durch die nicht angemessen bekämpfte Klimakrise selbst. Dabei haben speziell junge Leute sehr viel zu verlieren. Diese Polarisierung wird durch die Klimaproteste ansatzweise vorweggenommen.
Würden Sie sich ein anderes politisches System wünschen, das Klimaziele per Zwang durchsetzt?
Steurer
An der Demokratie zweifelt niemand in der Klimabewegung. Es geht auch nicht darum, den Kapitalismus abzuschaffen. Wenn wir demokratisch an die Wand fahren, sei es so. Aber Klimaschutz in der Verfassung – im Rang mit Meinungsfreiheit und Pressefreiheit – das wäre natürlich wichtig.

Zur Person:

Reinhard Steurer ist assoziierter Professor für Klimapolitik an der Universität für Bodenkultur (BOKU) Wien. Er beschäftigt sich seit 25 Jahren mit der politischen Dimension der Klimakrise.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.