Murau: Wo der Frust über die Abwanderung den Populisten in die Hände spielt
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Menschen machen eine Stadt lebendig. In Murau fehlen sie. Nur „die Alten“ sind übriggeblieben, sagt die einzige Frau, eine Pensionistin, die man an diesem Dienstagvormittag in der früher so belebten Anna-Neumann-Straße antrifft. „Hier is es a bisserl erstarrt“, sagt sie. Schon im Mittelalter war die Hauptstraße das Herz der Innenstadt. Der ganze Handel spielte sich dort ab. Heute ist hier niemand mehr. Die Straße ist verlassen. Übrig geblieben sind leere Geschäfte mit staubigen Auslagen und nackten Schaufensterpuppen. An den Türen der ehemaligen Lokale hängen Schilder mit einer deutlichen Botschaft: „Geschlossen“. Für immer offenbar. Und auch die Pensionistin ist schon längst um die Ecke gebogen.
In Murau leben nur noch 3365 Menschen. So wenig wie zuletzt vor über 100 Jahren, im Jahr 1923. Die meisten von ihnen sind zwischen 60 und 74 Jahre alt – fast 800 Leute. Kaum eine andere Region Österreichs verliert so viele Einwohner wie die Obersteiermark. 2015 kamen Flüchtlinge aus Syrien, 2022 aus der Ukraine. Doch auch sie haben Murau bald wieder verlassen. Wie lebt es sich in einer Stadt, die ihre Zukunft hinter sich hat? Ist die Region noch zu retten? Was wird aus dem ehemaligen Industriegebiet? Welche Versprechen machte die Politik?
2000 Ideen in der Schublade gelandet
Die Mur-Mürz-Furche galt lange Zeit als Inbegriff der Industrialisierung. Bis Mitte der 1980er-Jahre war die Region das Zentrum der Stahlindustrie, die bis zu 26.000 Menschen Arbeit und Wohlstand brachte. Dann folgte der dramatische Niedergang: Die Bezirke wurden von Krisen erschüttert: Stahlkrise, Verstaatlichtenkrise. Rund 10.000 Menschen verloren ihre Jobs, Fabriken sperrten zu, Gemeinden und Städte starben mehr und mehr aus. Die Obersteiermark gilt heute quasi als der „Rust Belt“ Österreichs: Der Begriff ist aus den USA bekannt, der „Rostgürtel“ markiert das ehemalige Industriegebiet im Nordosten – eine Hochburg von Donald Trump.
Die Folgen des Niedergangs sind bis heute spürbar – auch in Murau. Im Nachbarort Laßnitz musste die Volksschule dieses Jahr schließen. Im gesamten Bezirk, mit 27.062 Einwohnern, gibt es nur noch eine Postfiliale. Murau, Murtal, Leoben und Bruck-Mürzzuschlag haben seit 1991 Einwohner im zweistelligen Prozentpunktbereich verloren, die dominierende ÖVP viele ihrer Wähler. Bei den Nationalratswahlen 1975, vor der Verstaatlichten-Krise, kam die ÖVP auf 53,7 Prozent. 1990, kurz nach der Krise, lag die Volkspartei nur noch bei 42,3 Prozent. Anders die FPÖ. Die Freiheitlichen konnten ihr Ergebnis aus dem Jahr 1975 verdreifachen und erreichten 18,6 Prozent. In Murau kam die ÖVP bei den letzten Nationalratswahlen 2019 wieder auf die absolute Mehrheit zurück (51,7 Prozent), die FPÖ erreichte 16 Prozent.
Über die Jahre starteten die Regierungen immer wieder Rettungsversuche in der Region. 2017 hat die rot-schwarze Bundesregierung, damals unter Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) und Vize Reinhold Mitterlehner (ÖVP), einen „Masterplan“ geschmiedet. Verantwortlich dafür war der damalige Landwirtschafts- und Umweltminister Andrä Rupprechter (ÖVP). Er tourte durch Gemeinden, sprach mit Bürgermeistern und sammelte 2000 Ideen, die in einer Zukunftsvision mündeten. Rupprechter versprach den Ausbau von Hochleistungsinternet, um Betriebe in der Region zu halten. In Murau wollte er ein Energiewendezentrum etablieren.
Das sucht man bis heute vergeblich. Neu sind hingegen die vielen Kaufhäuser am Rand der Stadt. Der Spar am Kreisverkehr bei der Ortseinfahrt, Hofer, Billa oder Intersport – alle Geschäfte knapp drei Autominuten voneinander entfernt. Und allesamt mit einem großen Parkplatz.
Und was wurde aus Rupprechters Plan? „Das ist alles schon so lange her“, sagt Harald Kraxner. Er ist Geschäftsführer der Holzwelt Murau, einem Förderprogramm der EU zum Schutz der natürlichen Ressourcen. Kraxner war damals bei der Präsentation des „Masterplans“ dabei: „Zum ersten Mal hatte ich Hoffnung für die ländlichen Regionen.“ Doch dann kam der Ministerwechsel. Und das 131-seitige Manifest verschwand in der Schublade.
Bevölkerungsrückgang um 25 Prozent
In der Zwischenzeit schrumpften die Gemeinden weiter. Die Abwanderung ist in einigen ländlichen Gebieten so hoch wie noch nie. Laut einer Prognose aus dem Jahr 2022 soll Murau bis 2050 fast jeden vierten Einwohner verlieren. Und Alfred Baltzer ist überzeugt: „Das wird so kommen.“ Er hat, bis auf die Zeit seines Studiums, sein ganzes Leben in Murau verbracht, war Amtsdirektor der Gemeinde und langjähriger Obmann des Stadt- und Handwerksmuseums. Er kennt die Stadt wie kaum ein anderer. Wenn Baltzer über seinen Heimatort spricht, dann am liebsten über die „guten“ Zeiten. Als die Anna-Neumann-Straße noch als florierende Shoppingmeile galt und keines der dort
angesiedelten Schuhgeschäfte ums Überleben zittern musste. In die verödete Innenstadt zieht es kaum noch jemanden. Noch seltener die Jungen. Die meisten von ihnen sehnen sich nach einem Leben fernab des Dreiecks aus Kirche, Wirtshaus und gelegentlicher Feuerwehrfeste. Auch Baltzers Kinder sind zum Studieren und Arbeiten weggezogen.
„Ein Nährboden für Populisten“
Was passiert, wenn in einem Ort immer weniger Menschen leben? Welche politischen Auswirkungen hat die Abwanderung für die Gemeinde?
Wenn Bürgermeister Thomas Kalcher (ÖVP) aus dem Fenster seines dunklen Büros hinunter auf die Straße blickt, muss er den Tatsachen in die Augen sehen. Bis auf einen Paketzusteller, der mit seinem Lieferwagen neben dem Rathaus parkt, ist dort niemand. Keine Menschen. Keine Autos. Die Stadt ist in anhaltender Leere gefangen. Bei den Nationalratswahlen rechnet Kalcher mit Verlusten für seine Partei. Seine größte Konkurrenz: die Freiheitlichen.
Alles Auswirkungen der Abwanderung? „Jene, die übrig bleiben, werden sich im Stich gelassen fühlen und den Eliten die Schuld dafür geben. Das ist ein Nährboden für die Populisten“, sagt Reinhold Lopatka, EU-Abgeordneter und ehemaliger Klubobmann der Steirischen Volkspartei. Während die ÖVP bei den EU-Wahlen 2019 noch die Kontrolle über den gesamten Bezirk hatte, verlor sie 2024 mehr als elf Prozent und fünf Gemeinden an die FPÖ.
Für Lopatka steht fest: Die Bevölkerung ist frustriert, weil so viele gehen und nichts dagegen passiert. Frust mixt sich, gegen Eliten, gegen Corona. In der Nachbargemeinde Teufenbach-Katsch feierte die Impfgegner-Partei DNA bei der EU-Wahl einen Erfolg, sie kam auf mehr als 5,2 Prozent. Zum Vergleich: Im Bundesschnitt erzielte die DNA nur 2,7 Prozent.
Lopatka sieht vor allem die Landespolitik gefordert, konkrete Pläne gegen die Abwanderung vorzulegen. Gleichzeitig betont er, dass die Mittel der Politik nur begrenzt sind. „Man kann die Abwanderung bremsen, indem man eine bessere Infrastruktur und mehr Arbeitsplätze schafft. Eine radikale Trendumkehr ist nicht möglich“, sagt der EU-Abgeordnete.
Alfred Baltzer
Der Amtsdirektor und langjährige Obmann des Stadt- und Handwerksmuseums kennt Murau wie kein anderer. Baltzer ist überzeugt, dass die Stadt in den nächsten Jahren noch weiter schrumpfen und bis 2050 rund ein Viertel der Einwohner verlieren wird.
Tourismus vs. Dorfsterben
Bürgermeister Thomas Kalcher bleibt zweckoptimistisch. Er setzt auf den Tourismus. Ein Blick auf die geparkten Autos auf dem Parkplatz unterhalb des Stadtcafés mitten im Ort lässt erahnen, was Kalcher meint. Man sieht Kennzeichen aus den Niederlanden, Liechtenstein und Tschechien. Aber auch Reisende aus Österreich, etwa aus Wien, Graz, Salzburg, dem nahen Deutschland zieht es in den Sommermonaten zum Urlaubmachen nach Murau.
Auf den Straßen begegnet man den Touristen erst am späten Nachmittag. Den Morgen verbringen die Familien – meistens sind es Eltern mit Kindern, hin und wieder auch Pensionistenpaare – in den Bergen. Man erkennt sie rasch an den festen Schuhen – die mit den vielen Schnüren. Oder an den Wanderrucksäcken – die mit den vielen Schnallen. Manchmal kann man sie auch daran erkennen, wenn andere Touristen sie nach dem Weg zum Bahnhof fragen und ein „mia san a net von do“ zu hören ist. Dann lachen alle und treffen sich wenig später in festen Schuhen und mit vollen Wanderrucksäcken in der Murtalbahn wieder. Die historische Dampflok ist das Hauptverkehrsmittel der Touristen. Zwischen Murau und Tamsweg in Salzburg verlaufen die Gleise der Mur entlang, der Kreischberg im Hintergrund macht die Kulisse komplett. Im Winter wird dort auch Ski gefahren.
Laut Statistik hat der Sommertourismus den einst so dominierenden Wintertourismus in Murau fast eingeholt. 2023 zählte man im Jänner und Februar 29.565 Übernachtungen, in den Sommermonaten Juli und August waren es 22.181. Seit 2015, und bis auf den radikalen Einbruch während der Coronajahre 2020 und 2021, nimmt die Zahl der Übernachtungen im Ort jährlich zu. 2023 erreichte man mit 106.551 Nächtigungen beinah das Rekordhoch wie vor Pandemiebeginn im Jahr 2019 mit 107.096 Übernachtungen.
Nur wenn Menschen zuziehen und dort bleiben, bleibt auch Murau lebendig.
Gekommen und geblieben
Üblicherweise fahren Touristen nach dem Urlaub wieder heim. Mit Ausnahmen. Diana van de Bunt und ihr Mann Ruud Staverman. Am Anfang waren die Niederländer so wie alle anderen, die nach Murau kommen: Touristen. Das war vor über sechs Jahren. Seitdem hat das Pensionistenpaar die kleine Stadtgemeinde nur verlassen, um ihr Auto zu beladen und den Rest ihrer Sachen aus Holland nach Österreich zu bringen. „Viele Menschen in Murau waren uns anfangs gegenüber distanziert. Ich glaube, sie haben sich gefragt, was das für Verrückte sind, die hierherziehen“, sagt Ruud und lacht. Heute ist er froh, in Murau ein neues Zuhause für sich und seine Frau Diana gefunden zu haben.
Daniela Breščaković
ist seit April 2024 Innenpolitik-Redakteurin bei profil. War davor bei der „Kleinen Zeitung“.