Mythos Rothschild: Der märchenhafte Aufstieg eines Ghettojuden
"Deine Sorgen möcht ich haben und das Geld vom Rothschild noch dazu“ – ein geflügeltes Wort unter Wienern, verbreitet wie der ewige Antisemitismus, für den der Name Rothschild als Chiffre dient. Wer heute im Internet ahnungslos nach „Rothschild“ sucht, erfährt, dass es keinen Staat auf der Welt gäbe, der nicht von einer Rothschild-Bank kontrolliert werde, keine Regierung, die nicht von Rothschilds abhängig sei, keinen Krieg, den sie nicht manipulierten, keine Krise, von der sie nicht profitierten, auch vom Geschäft mit Flüchtlingen, klar: „Asylbetreuungen in Österreich und der Schweiz unterstehen der ältesten und von vielen als mächtigsten bezeichneten Bankiersfamilie der Welt, den Rothschilds“, behauptete die FPÖ-nahe „Internetplattform „unzensuriert.at“ im März 2016.
Weltumspannend mächtig waren die Rothschilds tatsächlich einmal, doch damals war die Welt klein. Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Roman Sandgruber hat im Molden Verlag eine umfangreiche Studie veröffentlicht, in der er die Geschichte der Wiener Rothschilds in fünf Generationen erzählt. Vom Aufstieg aus ärmsten Verhältnissen zum größten Bankhaus der Habsburgermonarchie, zu Baronen geadelt, die in den Wirren der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen vieles und unter den Nationalsozialisten alles verloren.
Stammvater Mayer Amschel, geboren 1744, im dunkelfeuchten jüdischen Ghetto in Frankfurt, betrieb einen Trödelladen mit einem roten Schild am Tor, das der Familie den Namen gab. Arm, ungebildet und fromm, arbeitete er sich durch Münzhandel, Wechselgeschäfte und eine Frau mit ansehnlicher Mitgift empor. Sie hatten 19 Kinder, von denen zehn überlebten. Seine fünf Söhne waren sein eigentliches Kapital, die er für Transaktionen in allen Himmelsrichtungen – London, Paris, Prag, Kopenhagen, Regensburg – platzierte. Er starb 1812 als reicher Mann und knüpfte an das Erbe die Bedingung, nur Söhne, nicht Schwiegersöhne oder Töchter, dürfen das Familiengeschäft betreiben. Um das Geld zusammenzuhalten, wurde in der weiteren Verwandtschaft geheiratet. 1815 waren die Rothschilds bereits Millionäre, finanzierten mit hoher Gewinnspanne Kriege, Könige und Adelshäuser. Salomon Mayer Rothschild, traditionell jüdisch erzogen und mit einer sehr gebildeten Frau, gründete in Wien das Bankhaus S. M. v. Rothschild – nicht an der pompösen Ringstraße, sondern in den Reihen dahinter. Er setzte auf Staatsanleihen, Bergbau, Industrie und Transport, baute die Nordbahn, erwarb Eisenwerke. In der Revolution von 1848 fielen kurzfristig seine Aktien, Antisemitismus flammte auf; Sohn Anselm übernahm die Geschäfte, viersprachig, gebildet, feinnervig, bescheiden. Er starb 1874, ein Jahr nach dem großen Börsenkrach, und hinterließ Wertpapiere, Bankenanteile in Wien, Frankfurt, Paris und London, mit der Creditanstalt die größte Bank der Donaumonarchie, Kohlengruben, Montanwerke, Eisenbahnen, Häuser und Kunst. Sein Nachfolger Salomon Albert war 1910 der reichste Mann Europas. Sein Milliardenvermögen stellte selbst das Kaiserhaus in den Schatten. Auch sein älterer Bruder Nathaniel, ein ruheloser Freigeist und Philanthrop, war in Wien geblieben. Beim Theresianum ließ er sich ein Palais bauen, in Reichenau eine Villa mit 200 Zimmern. Die Rothschilds stifteten Lungenheilstätten, ein Spital, eine Nervenheilstätte, finanzierten Einrichtungen für Arme, Obdachlose, Waisenkinder und Frauen. Nach der damaligen Gesetzeslage führten sie nur fünf Prozent ihres Einkommens an den Staat ab. Sandgruber schätzt, dass die beiden Rothschilds etwas 3,5 Prozent ihres Lebenseinkommens spendeten.
Tod als "gebrochener Mann"
Doch Salomon Albert, der Krösus seiner Zeit, starb – wie er selbst sagte, als „gebrochener Mann“. Seine Frau hatte er früh verloren, sein Jüngster sich das Leben genommen, ein anderer Sohn war geisteskrank. Sein Begräbnis fiel so prunkvoll aus wie das des Kaisers fünf Jahre später.
Als Erben hatte er seine drei Söhne – Alfons, Louis und Eugen – eingesetzt, die Geschäfte jedoch nur Louis überantwortet; ein nervenstarker Junggeselle, der erst spät, in der Emigration, eine Auersperg heiratete, den Kunst, Botanik und riskante Sportarten wie Polo, Klettern, Großwildjagden und Safaris interessierten; ein Liberaler, der die Heimwehren unterstützte, weil er die Sozialdemokraten hasste.
Bisher war es für die Rothschilds immer aufwärts gegangen. Immer am Puls der Zeit, hatten sie auf die jeweils neuen Entwicklungen gesetzt, Telegrafie, Kommunikation, Goldstandard. Doch der Erste Weltkrieg und die Jahre danach brachten ihnen kein Glück. Jetzt waren sie ein Welthaus in einem Kleinstaat. „Sie zerbrachen an der Krise der Gesellschaft, an der hasserfüllten Umwelt, aber auch an ihrer eigenen familiären Krise“, schreibt Sandgruber. Durch die von der Politik erzwungene Fusionierung der maroden Bodenkreditanstalt mit der von Rothschild kontrollierten Creditanstalt waren sie wirtschaftlich geschwächt. Als 1931 die Creditanstalt zusammenkrachte, verlor Louis Rothschild 100 Millionen Schilling, die Republik fast eine Milliarde und die Stimmung gegen Rothschild wurde rau. In der Nacht vom 11. zum 12. März 1938 übernahmen die Nationalsozialisten die Macht in Österreich. In den Nachmittagsstunden des 12. März wurde Louis Rothschild, der gerade eine Maschine besteigen wollte, von der SS am Flugplatz Aspern verhaftet. Seine Brüder waren durch glücklichen Zufall schon vorher in London und Paris. Der Bankier wurde in einen Keller des Polizeigefangenenhauses an der Rossauer Lände gesperrt, mit anderen Regimegegnern, Kommunisten, Sozialdemokraten und dem extrem antisemitischen Christlichsozialen Leopold Kunschak. Ein paar Wochen später kam Rothschild in Gewahrsam der Gestapo am Morzinplatz, in das arisierte Hotel Métropole. Unten wurde gefoltert, in den oberen Stockwerken waren die Prominentenhäftlinge untergebracht. In der Zelle neben Rothschild saß der Ständestaatskanzler Kurt Schuschnigg. Das Teuflische dieser Haft bestand in der 14 Monate dauernden vollständigen Isolation. Bewachung rund um die Uhr, kein Wort mit dem Insassen, kein Reiz für Auge oder Ohr. Sandgruber vermutet, dass Rothschild die Vorlage für Stefan Zweigs „Schachnovelle“ war, in der ein Dr. B. diese Haft nur überstand, ohne verrückt zu werden, indem er sich Schachpartien ausdachte.
Von Eichmann beraubt
Als Louis Rothschild am 11. Mai 1939 auf freien Fuß gesetzt wurde, war er 57 Jahre alt und sein Haar schlohweiß. Die Nazis hatten ihn erpresst. Das Lösegeld bestand im gesamten Vermögen der Rothschilds in Österreich und Böhmen, Palais, Gärten, Wälder und Gemälde inbegriffen. In seinem prunkvollen Palais in Marmor, Silber und Gold beim Belvedere herrschte jetzt Adolf Eichmann. Er ließ die Wiener Juden antreten für ein Ausreisevisum und nahm ihnen alles, was sie hatten. Im Palais seines Bruders residierte der berüchtigte Sicherheitsdienst der SS.
Louis überlebte die Nazis in New York. Österreich machte es den Rothschilds nicht leicht, nach 1945 einen Teil ihres Vermögens zurückzubekommen. Es brauchte acht Rückstellungsverfahren, wie der Historiker Peter Melichar recherchierte.
Ihr Wiener Stammhaus in der Renngassee, in dem rund 200 Jahre zuvor alles begonnen hatte, erwarb die Schoellerbank, das Palais beim Belevedere, das 1945 völlig devastiert war, die Arbeiterkammer. Einen großen Teil ihres Waldbesitzes in Niederösterreich übertrugen sie der Republik – zur Absicherung der Pensionen der ehemaligen Rothschild’schen Mitarbeiter. Für die Erlaubnis der Ausfuhr ihrer Gemäldesammlung mussten die Rothschilds ausgewählte Gemälde der Republik schenken.
1955 wurde Louis Rothschild im jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs begraben. Zur Verwunderung vieler hatte er das so gewollt. Am selben Tag wurde sein an die Arbeiterkammer verkauftes Palais gesprengt. Weder Louis noch seine Brüder hatten männliche Erben gehabt. Das Prinzip ihres Geschäftsmodells war gebrochen.
Roman Sandgruber: Rothschild. Glanz und Untergang des Wiener Welthauses. Molden, 527 S., EUR 37