Karl Nehammer im Porträt: Mars macht mobil
Dieses Porträt erschien erstmals im profil Nr. 17 / 2020 vom 19.04.2020. Aus aktuellem Anlass haben wir es für Sie vollständig online gestellt.
Karl Nehammer besitzt einen Bayerischen Gebirgsschweißhund namens Fanny. Hat er Zeit, führt er ihn äußerln und beobachtet dabei auch die Bürger. Ein Innenminister kann wahrscheinlich nicht anders. Was Nehammer unlängst gefiel: In einer Wiener Kleingartensiedlung hielten die Menschen voneinander brav Abstand. So soll es sein. "Danke an alle Österreicherinnen und Österreicher", sagt Nehammer bei jeder Pressekonferenz. Mit dem Zusatz: "Und an alle Menschen, die hier leben." In dieser Nuance, in die man viel hineininterpretieren könnte, unterscheidet sich Nehammer von seinem Chef, Sebastian Kurz, der meist die Staatsbürger allein begrüßt.
Unter den drei Corona-Krisenmanagern ist die Rollenverteilung klar. Der Bundeskanzler gibt die große Linie vor und strahlt als Commander-in-Chief. Der Gesundheitsminister setzt die Strategie um und besticht durch Fachkompetenz. Der Innenminister aber spielt die undankbarste Rolle. Karl Nehammer muss die Österreicher und Österreicherinnen und alle Menschen, die hier leben, buchstäblich in die Schranken weisen. Er tut das so rigide, dass man den Eindruck gewinnen könnte, Karl Nehammer schützt nicht uns vor dem Virus, sondern das Virus vor uns.
Wer ist der Mann, der den Bürgern das Zusammenleben derzeit so schwer macht? Der kontrollieren lässt, ob die Osterjause nur im Familienkreis verzehrt wird? Dessen Polizisten Strafzettel für rechtswidriges Parkbanksitzen verteilen? Dem vorgeworfen wird, das Recht der Ordnung zu opfern?
"Wir haben eine Situation zu bewältigen, die in der Geschichte der Zweiten Republik wohl einzigartig ist. Eine Situation, die Entscheidungen und rasches Handeln braucht", sagt der Innenminister. Sein Arbeitstag beginnt um 8 Uhr im Innenministerium in der Wiener Herrengasse und dauert oft bis Mitternacht. Ein Briefing folgt dem nächsten. Dazwischen konferiert er mit Politikern und Behörden in den Bundesländern oder EU-Ministern.
Kommunikation in der Krise ist wichtig, daher verkündet er mehrmals pro Woche im TV die vier Gebote: Du sollst das Haus verlassen nur zum Arbeiten, zum Einkaufen, zur Fremdhilfe und zum Spazierengehen. Nehammer spricht von "normalen Normalitäten" und "neuen Normalitäten" und dankt im Schnellsprech seinen "Blzisstinen und Blzisten". Beim Reden steht der 47-Jährige gerade, mit gespannter Brust. Dreitagebart, das angegraute Haar auch ohne Friseur getrimmt und sorgfältig gegelt. In Rimini schauen so die Carabinieri aus.
Die umstrittenen Verordnungen und Gesetze zum Lockdown stammen zwar aus dem Gesundheitsministerium, aber der Innenminister ist für viele Kommentatoren der Bad Cop: "Alle Verantwortungsträger setzen die notwendigen Maßnahmen nach bestem Wissen und Gewissen. Wir leben in einer gewachsenen Demokratie, und die Rechtsstaatlichkeit ist oberste Prämisse", so Nehammer.
Mehrheit hat gute Meinung von Nehammer
Für die Mehrheit der Bürger ist Nehammer der Good Cop. Laut aktueller profil-Umfrage haben 55 Prozent eine gute Meinung vom Innenminister.
Karl Nehammer ist erst seit 100 Tagen im Amt. Seinen Bekanntheitsgrad hat er rasch erhöht. Nehammers Amtsvorgänger bleibt wahrscheinlich nur deswegen in Erinnerung, weil er Herbert Kickl hieß. Der FPÖ-Klubobmann vermutet noch heute, im Innenministerium hätten "schwarze Netzwerke" die Macht und würden diese zu parteipolitischen Zwecken missbrauchen. Was Macht und Missbrauch betrifft, blieb Kickl Beweise bisher schuldig. Dass es schwarze und türkise Netzwerke im Innenministerium gibt, ist allerdings kein Hirngespinst. Zum Beweis genügt ein Blick auf die Liste der Amtsträger der vergangenen 20 Jahre. Dabei fällt auf: Die Reproduktionsrate der Innenminister aus der ÖVP Niederösterreich liegt nur knapp unter eins. Vor Kickl hatten der spätere Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka und die nunmehrige Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner das Amt inne. Die Innenminister Liese Prokop und Ernst Strasser stammten ebenfalls aus der ÖVP NÖ. Und jetzt der gebürtige Wiener Karl Nehammer, der in Niederösterreich politisch sozialisiert wurde.
Selbst Sebastian Kurz muss bei aller Machtfülle akzeptieren, dass seine niederösterreichischen Parteifreunde das Ressort als Erbamt betrachten und Personalentscheidungen nicht in Wien, sondern in St. Pölten fallen. Seit über einem Jahr steht etwa die Ernennung des neuen niederösterreichischen Landespolizeidirektors an. Gegen den Wunschkandidaten von Johanna Mikl-Leitner sträubten sich zunächst Herbert Kickl und nach dem Regierungswechsel auch das Beamtenministerium von Vizekanzler Werner Kogler. Karl Nehammer wird wohl bald Vollzug nach St. Pölten melden können.
Kommunikativer Netzwerker
In einer Parteiendemokratie werden Minister auf die Republik vereidigt, bleiben aber auf die eigene Gesinnungsgemeinschaft eingeschworen. Bei jeder administrativen Handlung werden türkise, rote, blaue und nun auch grüne Interessen mitgedacht. Niemand ist dafür anfälliger als gelernte Parteimanager. Sebastian Kurz besetzte Schlüsselressorts seiner Regierung mit drei ehemaligen ÖVP-Generalsekretären: Finanzminister Gernot Blümel, Tourismus- und Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger und Nehammer. Drei steile Karrieren mit unterschiedlichen, aber typischen Verläufen: Köstinger ist die Berufsfunktionärin, die von der Jungbauern-Obfrau zur Europa-Abgeordneten und dann ins Ministeramt aufstieg. Blümel ist der zielstrebige Sekretär, der das politische Handwerk im Hintergrund der Kabinette erlernte. Und Nehammer ist der kommunikative Netzwerker, der es in der heutigen Politik weiter bringt als jeder Jurist.
Laut der Website des Parlaments ist Nehammers Zivilberuf "Trainer für strategische Kommunikation und Rhetorik". Sein Rüstzeug holte er sich an der Donau-Universität Krems bei Peter Filzmaier. Nach Matura und dem Einjährig-Freiwilligen-Jahr war er beim Bundesheer geblieben und schulte Informationsoffiziere. Nehammer war Abteilungsleiter "Service und Mobilisierung" in der ÖVP-Bundesparteizentrale (2007 bis 2008), dann Bereichsleiter "Training und Netzwerk" in der Parteiakademie (2008 bis 2009). Von dort holte ihn Ernst Strassers früherer Pressesprecher Gerhard Karner, heute Zweiter Präsident des Landtags, nach St. Pölten, wo Nehammers Verniederösterreicherung begann. Er wurde Geschäftsführer der Parteiakademie der ÖVP NÖ und Leiter der Kommunalabteilung. Sein Auftrag: politische Landschaftspflege. Wahrscheinlich ist Nehammer der Einzige, der mehr niederösterreichische ÖVP-Funktionäre zwischen Waldviertel und Wechsel kennt als Erwin Pröll. Der langjährige Landeshauptmann war nicht Nehammers großer Förderer, sondern Wolfgang Sobotka. Pröll ist Bauernbündler, Sobotka, Landeshauptfrau Mikl-Leitner und Nehammer kommen vom Arbeitnehmerbund ÖAAB, der mittlerweile die Landespartei dominiert.
Bisher größte Niederlage 2016
Im Jahr 2016 kassierte Karl Nehammer seine bisher größte Niederlage, die er allerdings nicht selbst verschuldete. ÖVP-Kandidat Andreas Khol ging im ersten Durchgang der Bundespräsidentenwahl mit elf Prozent unter. Mitten im holprigen Wahlkampf hatte Nehammer als Troubleshooter übernommen. Seinem Image als Stratege schadetet die Schlappe nicht. Der neue Bundesobmann des ÖAAB, ÖVP- Klubobmann August Wöginger, machte ihn 2016 zu seinem Generalsekretär. Und nach der Wahl 2017 holte ihn Sebastian Kurz in die Bundespartei.
Formal war Nehammer für den gloriosen ÖVP- Wahlkampf 2019 verantwortlich. Zum engsten Kreis um Kurz zählte er aber nicht. Am Hauptregler saß Kanzler-Berater Stefan Steiner. Nehammer fiel die (wieder einmal) undankbare Aufgabe zu, das Schreddern von Festplatten durch einen Kanzler-Mitarbeiter und hohe Parteispenden von Mulitmillionären zu erklären. Den Respekt seines Chefs erwarb er sich mit Tugenden, die in jeder Partei geschätzt werden: Einsatzfreude, Fleiß, Organisationstalent und am allerwichtigsten: absolute Loyalität.
Angestellte Politikmanager, wie es Generalsekretäre sind, leben gefährlich. Sie sind mächtig, aber auch schnell wieder ohne Job. Wer klug ist, baut vor. Karl Nehammer schuf sich nach seiner Rückkehr aus St. Pölten einen eigenen Machtcluster in Wien. Sein Mittel: Ämterkumulierung. 2016 wurde er Landesobmann des ÖAAB Wien und 2017 Bezirksparteiobmann der ÖVP Hietzing. Was auch immer in den kommenden Jahren passiert, ein Nationalratsmandat ist damit so gut wie abgesichert.
Everybody's Darling in der ÖVP
In der ÖVP scheint Nehammer Everybody's Darling zu sein. Man muss sehr viele ÖVP-Funktionäre anrufen, um kleine Dosen Kritik zu hören: die mangelhafte Rasur, die Phrasen, das Sprechtempo, das Parteisoldatentum, die Ämter-Sammlung. Härtere Kritik kommt aus jenen kirchlichen und bürgerlichen Kreisen, die auch die rigide Flüchtlingspolitik von Sebastian Kurz verurteilen. Nehammer stellte von Beginn an klar, dass er als Innenminister den harten Kurs weiter exekutieren werde. Österreich nimmt weiterhin keine unbegleiteten Minderjährigen aus griechischen Flüchtlingslagern auf.
Die ÖVP ist die Partei, die zwischen Kirche und Staat sauber trennt. Im Zweifel zählt auch für Nehammer, Alter Herr der Mittelschüler-Kartellverbindung Sonnberg Perchtoldsdorf (sein Couleurname lautet "Mars"), die Patria mehr als die Religio. Diese Spannung konnte kein christlich-sozialer Politiker bisher glaubhaft lösen.
Im Nationalrat war Nehammer Integrations-und Migrationssprecher und konnte die Pateilinie so gut auswendig wie heute die Ausnahmen zur Ausgangsbeschränkung: "Wer nicht bereit ist, unsere Lebensweisen, unser Wertefundament und unsere Gemeinschaft zu akzeptieren, kann sich nicht auf die Solidarität unserer Gesellschaft verlassen."
Als Innenminister kann er Rhetorik in Praxis umsetzen: "Im Notfall sind wir auch bereit, unsere Grenzen eigenständig zu schützen." Das war Anfang März. Seit einem Monat ist Nehammer bereit, die Österreicher voreinander zu schützen.