Nationalismus im Fußball: Wie eine neue Verbundenheit in Gewalt kippen kann
Für den österreichischen Stürmer Christoph Baumgartner war es einer der traurigsten Tage seines Lebens – für viele Fußballfans wahrscheinlich auch. Kaum jemand hat das Match am Dienstagabend nicht gesehen; nicht mitzubekommen, dass Österreich im Achtelfinale gegen die Türkei spielte, war quasi unmöglich. Man war sich so sicher, dass „unsere Burschen“ das Spiel gewinnen, alle Quoten haben das schließlich auch vorhergesagt.
In fast jedem Lokal standen die Fernseher bereit, alle waren rot-weiß-rot gekleidet, man hat sich schon mal im Vorhinein gefreut, war sich des Sieges sicher. Doch statt mit einem Aufstieg ins Viertelfinale endete der Abend – zumindest am Hauptbahnhof – mit Wolfsgrüßen, rassistischen Parolen und einer Massenschlägerei zwischen kurdischen, syrischen und türkisch nationalistisch Fans. profil hat das Public Viewing am Hauptbahnhof, dem Ort mit den wahrscheinlich meisten Türkei-Fans in Wien, besucht.
Zwanzig Minuten bis Anpfiff; vor dem Haupteingang zum Bahnhof herrscht schon ein beachtlicher Menschenstau, Polizei und Security sind anwesend. Die Menschenmasse vor dem großen Bildschirm, auf dem wenige Minuten später das Spiel ausgestrahlt wird, teilt sich in zwei Gruppen – die Türkei-Fans, die ihre roten Flaggen mit weißem Halbmond hochhalten und lautstark „Türkiye, Türkiye“ und „Arda Güler“ (Anm.: ein türkischer Fußballspieler, der bei Real Madrid unter Vertrag steht und als Nachwuchstalent der Nation gilt) schreien, und auf der anderen Seite die Österreicher:innen, die ebenfalls mit ihren Flaggen anwesend sind und „Österreich, Österreich“ rufen.
Es ist keine homogene Gruppe, man sieht ältere Frauen, die rote Hijabs mit kleinen Halbmonden und Sternen tragen, aber auch Jugendliche unterschiedlicher Herkunft, die ihre Wangen rot-weiß-rot bemalt haben und Österreich-Schals um den Kopf tragen.
Minute eins – Merih Demiral schießt ein Tor. So richtig fassen kann es keiner. „Was? Nein? Oh mein Gott“, kreischen zwei verwunderte türkische Fans, die genauso fassungslos sind wie wohl der Rest des Landes.
„Türkiye, Türkiye“ versus „Austria, Austria“
Je dunkler es wird, desto unwahrscheinlicher ist es, dass der ÖFB, der ja zumindest in Österreich als EM-Geheimfavorit galt, das Spiel noch gewinnen kann. Minute 59 – Demiral legt nach, es kommt zum 2:0.
Diesmal ist die Möglichkeit, die Türken könnten das Spiel tatsächlich gewinnen, präsenter. Immer mehr Türk:innen schreien: „Türkiye, Türkiye“, einer der Fans hat sogar eine Trommel dabei, die im Takt des Geschreises gespielt wird. Gleichzeitig werden aber auch die Österreich-Fans lauter: „Austria, Austria“.
In der 66 Minute passiert es dann doch: Ein kurzer Hoffnungsschimmer, der eingewechselte Michael Gregoritsch schießt ein Tor für Österreich.
Trotz Gregoritschs kurzem Optimismustor reicht es allerdings doch nicht für den Sieg. Für die Türkei-Fans hingegen ist ein Traum wahr geworden: „Ich konnte es kaum fassen. Dass wir das erste Mal seit 2008 im Viertelfinale sind, ist einfach unglaublich! Ein Wunder ist geschehen“, erzählt der 18-jährige Alp profil, der sich mit seinen österreichischen Freund:innen das Match am Hauptbahnhof angesehen hat. „Sie hatten einfach Glück im Spiel“, kontert sein österreichischer Freund.
Dass man sich wie Alp als Türke das Spiel mit seinen österreichischen Freund:innen anschaut, ist an jenem Abend nicht selbstverständlich. Noch während der zweiten Halbzeit kommt es aufgrund einer Schlägerei zu einem Polizeieinsatz. Kurz nach Abpfiff eskaliert die Situation vor dem Wiener Hauptbahnhof komplett.
Kurden und Syrer, die Syrien-, Kurdistan- und Österreichfahnen hissen, bilden eine große Gruppe, dasselbe passiert auf der Seite der Türken. Beide Gruppen rennen aufeinander los, schubsen einander gegenseitig zu Boden, bewerfen sich mit Glasflaschen und Steinen. Wenige Minuten später kommt es zu einem Großeinsatz der Wiener Polizei inklusive Hundestaffel, die Situation beruhigt sich erst nach über einer Stunde, mehrere Menschen werden verletzt.
Laut der Polizei-Pressestelle wurden in ganz Wien im Rahmen der Public Viewings 18 Personen verletzt, es kam zu 18 Anzeigen nach dem Strafgesetzbuch und zu 27 Anzeigen wegen verwaltungsrechtlichen Übertretungen. Während des Einsatzes wurde auch ein Polizeibeamter leicht verletzt.
Fußball ist ein Politikum
Dass das Österreich-Türkei Match am Dienstag mehr als ein reguläres Fußballspiel war, war zu erwarten. Es hatte eine historische Dimension. Aber nicht nur das. Diese sportliche Begegnung war auch politisch aufgeladen. Das zeigte sich nicht nur am Wiener Hauptbahnhof, sondern auch vor Ort im Fußballstadion in Leipzig. Einige österreichische Fußballfans sollen Medienberichten zufolge rassistische Parolen zu der Melodie des Liedes „L’amour toujours“ gegrölt haben, einige türkische Stadionbesucher:innen hätten den nationalistischen und in Österreich verbotenen Wolfsgruß gemacht – so wie auch der Nationalspieler und Torjäger Merih Demiral.
Die UEFA ermittelt gegen den Fußballer, ihm wird vorgeworfen, die rechtsextremen „Grauen Wölfe“ zu unterstützen. Vorwürfe, die Demiral bestreitet: „Wir sind alle Türken, ich bin sehr stolz darauf, Türke zu sein, und das ist der Sinn dieser Geste.“
Wolfsgruß und Sivas-Jahrestag
Dieser Dienstag war nicht nur ein gewöhnlicher Abend, an dem ein Achtelfinalspiel stattfand; Der 2. Juli ist auch Jahrestag eines religiös motivierten Brandanschlages 1993 in der türkischen Stadt Sivas, bei dem Teilnehmer:innen eines alevitischen Festivals von einem islamistischen rechtsextremen Mob umzingelt und unter Brand gesetzt wurden.
Bei dem Anschlag vor 31 Jahren sind 35 Menschen gestorben. „Im Jahr 2024, an einem dieser Jahrestage, die sich wie eine Blutspur durch die Geschichte der türkischen Nation ziehen, schickt Merih Demiral einen Gruß in die Welt: Wir sind hier, die Blutspur ist hier, sie verläuft auch durch dieses Stadion, tropft auf diesen Rasen, verklebt und verschmutzt diesen Sport“, kommentierte die Berliner Journalistin Özge İnan auf Instagram den Wolfsgruß Demirals.
Am Tag danach, kursieren im Internet Videoaufnahmen der Schlägereien, der Österreichfans, die ausländer:innenfeindliche Parolen singen und des Fußballers, der dem Stadion seinen Wolfsgruß zeigt im Internet. Die dritte Halbzeit hat in der digitalen Welt eine Verlängerung gefunden.
Dabei hatte alles so optimistisch begonnen. Die Euphorie darüber, dass Österreich mit Coach Ralf Rangnick endlich wieder gute Chancen in einem Turnier hat, hat in den vergangenen Wochen die ganze Nation angesteckt. Menschen, die sich sonst nicht mit dem Sport identifizieren konnten, wurden zu Fußballfans, trafen sich mit ihren Freund:innen zum Public Viewing, man kleidete sich in den Farben seiner Lieblingsmannschaft, wettete sogar auf ihren Sieg.
Wie schnell dieser frisch entfachte Patriotismus nationalistisch und gefährlich werden kann, wie schnell auf einer vereinenden Geste Gewalt umkippen kann, hat sich dann am Dienstagabend gezeigt.
Zurück zum Hauptbahnhof: Während die Polizei im Großeinsatz Kurd:innen, Syrer:innen und nationalistische Türk:innen voneinander trennt und fernhält, lassen sich die noch übriggebliebenen türkischen Fußballfans die Freude über ihren Sieg nicht nehmen.
Ein junger Mann holt etwa fünfzig Meter von der Polizei und Massenschlägerei entfernt, seine Musikbox heraus und spielt ein Lied des türkisch-kurdischen Megastars İbrahim Tatlıses ab. Um ihn herum bildet sich eine Traube anderer glücklicher Fans, zusammen tanzen sie und rufen: „Şampiyon Türkiye!“