Grüne Klimakrise
16:48 Uhr, zwölf Minuten vor der ersten Hochrechnung, trifft der erste grüne Grande ein: Gesundheits- und Sozialminister Johannes Rauch wird im Metropol in Wien beklatscht, man streckt grüne Taferln in die Luft: „Ohne Grüne kein Klimaschutz“. So richtig laut werden die Grünen nicht, sie wissen: Hoch werden sie heute Abend nichts gewinnen. Die Frage ist nur, wie tief die Partei fallen wird.
Als der Balken der ÖVP bei der ersten Hochrechnung nach unten sackt, können manche Grüne noch leise lachen. Mehr als 29 Prozent für die Freiheitlichen lassen fast alle grünen Parteigänger verstummen. Der Schock zieht sich zum eigenen Ergebnis weiter. Der Absturz erntet nur zögerlichen Applaus. Zu tief ist der Fall. Verzweifelt ist aber niemand. Man hat die Niederlage erwartet.
Aus den ersten Hochrechnungen lässt sich noch etwas Glück im Unglück erkennen: „Dass wir uns Kopf an Kopf mit den Neos um Platz vier bewegen, ist euch zu verdanken“, ruft Rauch den Grünen zu. Und da KPÖ und Bierpartei den Sprung in den Nationalrat verfehlen, ist eine Koalition aus ÖVP, SPÖ und Grünen rechnerisch möglich: „Wir werden nicht zulassen, dass Rechte das Land regieren“, ruft Rauch, Nachsatz: „Wir hätten uns vielleicht einen etwas stärkeren Auftrag erhofft, auch für den Klimaschutz. Okay, das ist es jetzt eben nicht.“ Dass die Grünen weiter regieren werden, ist aber nicht wahrscheinlich, im Gegenteil: 2024 könnte das Jahr werden, in dem die Grünen erstmals seit 2002 weder im Bund noch in einem Bundesland regieren.
„Ohne Grüne kein Klimaschutz“, wiederholte Parteichef Werner Kogler im Wahlkampf beinahe mantrahaft. Den anderen Parteien könne man hier ebenso wenig vertrauen wie der FPÖ. 2019, am Höhepunkt der „Fridays for Future“-Bewegung, redeten die Österreicher:innen vor der Wahl laut SORA noch am häufigsten über Umwelt- und Klimaschutz, gefolgt von der Käuflichkeit der Politik – eine direkte Folge des Ibiza-Videos. Beide Themen besetzten die Grünen im Wahlkampf vor fünf Jahren erfolgreich.
Renaturierung und Realität
Die Folge: Die Grünen stellten mit Leonore Gewessler die Klimaschutzministerin, Alma Zadić führte das Justizressort. Unter Zadić wurde die Justiz personell wie finanziell aufgestockt und konnte selbst gegen hochrangige Politiker wie Sebastian Kurz vorgehen. Unter Gewessler ist das Land erstmals am Pfad, seine Klimaziele zu erreichen – und die grüne Ministerin riskierte für das EU-Renaturierungsgesetz den Zorn des Koalitionspartners.
Mehr als eine Minute lang zollen die Grünen Gewessler kurz vor 20 Uhr Standing Ovations – bevor die Klimaministerin überhaupt zu reden beginnen kann. So viel Applaus bekam Rauch nicht, als er als erster die Bühne betrat, Zadić nicht, als sie später ihre Erfolge aufzählte – und auch Parteichef Werner Kogler wird, wenn er es nach der stetigen Serie an Interviews ins Metropol schafft, wohl kaum einen derart frenetischen Jubel von den grünen Anhängern ernten.
„Mich schmerzt dieses Wahlergebnis“, sagt Gewessler, und: „Ich glaube, es gibt in dieser Republik keine Person, die das mit so einer Überzeugung sagt, wie ich: Ohne Grüne kein Klimaschutz!“ – das muss Parteichef Kogler einschließen, der Jubel der Grünen erreicht dennoch seinen Höhepunkt. „Irgendwann wird ihre Leistung in den Geschichtsbüchern stehen“, sagt die Moderatorin über Gewessler.
Nur: Nach viereinhalb Jahren Krise fehlt dafür offenbar das Interesse der Wähler:innenschaft.
Themen-Krise
„Relativ wurscht“ seien Wahlergebnisse, wenn Klimakatastrophen wie das Hochwasser in Niederösterreich hereinbrechen, sah Rauch als erster Spitzenvertreter der Partei einen klaren Auftrag zum Weiterkämpfen. Allerdings: Die Klimafrage dürfte auch für die Wähler:innen diesmal kaum eine Rolle gespielt haben. Schon Anfang September zeigte sich in der großen profil-Umfrage, dass die Hauptthemen der Befragten Asyl und Zuwanderung, Teuerung und Gesundheitssystem lauteten. Die Klimakrise landete erst auf Platz vier.
Daran änderte offenbar auch die Hochwasserkatastrophe in großen Teilen Niederösterreichs nichts. Laut einer Umfrage im Auftrag von ORF und APA fand sich die Klimakrise unter der Bevölkerung nicht einmal unter den Top 5 der häufigsten im Wahlkampf diskutierten Themen. Die Grünen taten sich mit der Überflutung ohnehin schwer: Sie zeigt zwar, wie notwendig der Kampf gegen die Klimakrise ist. Doch mit aktuellen Bildern der Zerstörung wollte die Partei nicht um Stimmen sammeln. Zu groß sei die Gefahr, dabei unsensibel zu wirken, erklärte etwa Klub-Vizechefin Meri Disoski im Wahlkampf. Kogler & Co. hielten sich daher kommunikativ zurück. Geholfen hat das offenbar nichts.
Das Angebot für linke Wechselwähler:innen sei diesmal mit SPÖ, KPÖ und mitunter sogar der Bierpartei besonders breit gewesen, analysiert der grüne Abgeordnete Georg Bürstmayr. Den Beweis liefern zwei junge Männer in einer Ecke des Metropols. Zwischen ihnen stehen sechs Krügerl Bier, ein Vorrat, denn die Getränke zahlen die Grünen nur bis 19.30 Uhr. Ob sie für die Öko-Partei wahlgekämpft haben? „Nein, wir haben KPÖ gewählt – aber die haben keine kostenlosen Drinks.“
Zum politischen Gegenangebot am linken Rand kommt: Die türkis-grüne Regierung ist so unbeliebt wie kaum eine Koalition vor ihr. Nach viereinhalb Krisenjahren mit Corona, Krieg und Teuerung gaben vor der Wahl fast zwei Drittel aller Befragten (64 Prozent) an, mit der Regierung wenig bis gar nicht zufrieden zu sein, zeigt die ORF/APA/ISA/FORESIGHT-Wahlumfrage. Bei der letzten Wahl 2019 waren nur 46 Prozent derart mit der Regierung unzufrieden.
Als Regierungspartei konnte das den Grünen nur schaden. Dass sie nach ihrer ersten Koalition im Bund keinen großen Sieg einfahren würden, war ihnen schon 2019 klar. Denn die Partei kennt den Preis des Regierens: Noch 2014 waren die Grünen die (Landes-)Regierungspartei schlechthin: Sechs von neun Bundesländern wurden mit grüner Beteiligung geführt.
Zehn Jahre später dürften die Grünen aus der Bundesregierung fliegen. Erleiden sie dasselbe Schicksal auch bei der Vorarlberger Landtagswahl in zwei Wochen, regiert die Partei erstmals seit 2002 weder im Bund, noch im Land. Mit dem ehemaligen Innsbrucker Bürgermeister Georg Willi haben die Grünen Ende April sogar ihren einzigen Bürgermeister einer Landeshauptstadt verloren.
Kosten und Nutzen des Regierens
Doch wirklich gescheitert sind die Grünen stets an sich selbst – als die Partei 2017 im Bund und 2018 in Kärnten an internen Querelen zerbrach. Die Erinnerung an den Schmerz von damals lindert bei vielen Abgeordneten auch jenen der heutigen Niederlage. Als Regierungspartei per se wurden die Grünen bisher kaum abgestraft, im Gegenteil: In Vorarlberg konnte sich die Partei 2019 etwa aus der Koalition mit der ÖVP heraus um 1,8 Prozentpunkte steigern, auch in Wien 2020 und Oberösterreich 2021 stieg der grüne Balken am Wahlabend höher als noch bei den vorangegangenen Landtagswahlen. In Tirol 2022 und Salzburg 2023 fiel das grüne Minus marginal aus.
Und doch fielen die Grünen der Reihe nach aus den Regierungen der Bundesländer. Die Partei gilt als unangenehmer Koalitionspartner – das würden derzeit wohl auch die meisten Bundesvertreter:innen der Volkspartei unterschreiben. Umso wahrscheinlicher scheint daher eine Rückkehr auf die Oppositionsbank. Selbst wenn sich FPÖ-Chef Herbert Kickl nicht mit der Volkspartei auf eine Koalition einigen kann und ÖVP und SPÖ keine stabile Mandatsmehrheit haben dürften ÖVP und SPÖ die Neos als Dritte im Bunde bevorzugen. Umso mehr, als die Neos ihren Wahlkampf genau darauf zugeschnitten hatten.
„Ohne Grüne kein Klimaschutz“, steht auf den Taferln, die die Grünen gern hochhalten. Der überwiegenden Mehrheit der Wähler:innen scheint das am heutigen Wahltag egal zu sein.