Vier gegen Kickl
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Vor der Wahl waren Meinungsforscher hoch im Kurs, seither sind es die Hofburg-Astrologen. Jede Äußerung von Bundespräsident Alexander Van der Bellen will genau gedeutet werden, könnte sie doch Aufschluss über seine Präferenzen für eine künftige Regierung geben. Als die amtierende schwarz-grüne Regierung Van der Bellen am Mittwoch offiziell ihren Rücktritt anbot und dieser sie – einem folkloristischen Staatsakt entsprechend – bat, weiterzumachen, beschwor Van der Bellen die Grundpfeiler der „liberalen Demokratie“. Ein Hinweis auf Ungarn? Eine Mahnung des Bundespräsidenten an den FPÖ-Obmann?
Premier Viktor Orbán vertritt das Prinzip einer – wie er es selbst nennt – „illiberalen Demokratie“, die zwar durch Wahlen legitimiert ist, aber Bürgerrechte und Rechtsstaat nur eingeschränkt respektiert. Herbert Kickl nannte Orbán mehrfach als Vorbild. Wird Österreich bald Ungarn werden?
Die Wahl am 29. September bedeutet einen Umbruch in der Zweiten Republik. Erstmals wurde die FPÖ stärkste Partei bei einer Nationalratswahl. Erstmals verloren die früheren Großparteien ÖVP und SPÖ gemeinsam die absolute Stimmenmehrheit. Erstmals ist die Sozialdemokratie nur drittstärkste Kraft im Land. Die kommenden Koalitionsverhandlungen werden wohl die kompliziertesten und längsten der Geschichte sein.
Über die Geschicke des Landes entscheiden hinter einer roten Tapetentür in der Hofburg der Bundespräsident und in vertraulichen Runden die Vorsitzenden der Parlamentsparteien. Unübersichtliche Zeiten führen zu waghalsigen Experimenten. Kommt eine Dreierkoalition? Riskieren ÖVP und SPÖ ein labiles Bündnis? Mit Duldung der NEOS?
Lockt die FPÖ mit Angeboten ÖVP und auch SPÖ, bisherige Festlegungen aufzuweichen und mit der FPÖ zu regieren? Oder verzichtet Herbert Kickl am Ende doch auf das Kanzleramt, um ein Bündnis aus FPÖ und ÖVP zu ermöglichen?
Blaue Sieger
Der FPÖ-Obmann sagte vor dem Treffen seines Parteivorstands bestens gelaunt in die Kameras, er werde Van der Bellen erklären, wie wichtig ihm Demokratie, Menschen- und Freiheitsrechte seien. Sein süffisantes Lächeln ließ die Deutung zu, er werde dem Bundespräsidenten sein ganz eigenes Demokratieverständnis verdeutlichen, das vorsieht, dass nun er mit der Regierungsbildung beauftragt werden müsse. Anfang 2023 ließ Van der Bellen in einem ORF-Interview offen, ob er das tun werde.
„Eine Partei, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht verurteilt, werde ich nicht durch meine Maßnahmen noch zu befördern versuchen.“
Kickl strotzt vor Selbstbewusstsein. Das wird er Van der Bellen in den kommenden Wochen der bilateralen Gespräche und Sondierungen spüren lassen. Seine FPÖ nennt Kickl nun „die neue Volkspartei“. Nicht zu Unrecht. Das Programm der FPÖ – gegen Asyl, Migration, Corona-Politik und Eliten – und ihr Obmann stellten für 1,4 Millionen Wählerinnen und Wähler das attraktivste Paket dar. Aus der Anlaufstelle für jüngere und weniger gebildete Männer ist eine Partei für alle Bevölkerungsschichten geworden. Die FPÖ ist nun stärkste Partei bei Männern und Frauen, bei den Unter-30-Jährigen, bei den 30- bis 59-Jährigen, bei den Beschäftigten sowie bei den Wählern am Land und in urbanen Gegenden, allerdings nicht in großen Städten. Bei Senioren, Pensionisten und in Großstädten schnitt die FPÖ unterdurchschnittlich ab.
In Wien (20,7 Prozent) blieb sie wie in Graz und Innsbruck deutlich unter dem Gesamtergebnis. Allerdings: In den großen Arbeiterbezirken wie Simmering und Favoriten konnte die FPÖ punkten. In Floridsdorf, dem Heimatbezirk von Bürgermeister Michael Ludwig, SPÖ, wurde die FPÖ sogar stärkste Partei. Größtes Opfer der Blauen war am Wahltag aber die ÖVP, von der die Freiheitlichen im Vergleich zur Wahl 2019 440.000 Wähler kaperten. Dazu gelang es ihnen, 260.000 frühere Nichtwähler zu gewinnen.
Dieselben Lieder
In seiner Siegesrede im Gastgarten der „Stiegl-Ambulanz“ in Wien-Alsergrund bedankte sich Kickl überschwänglich bei den Seinen: von der persönlichen Sekretärin über das Social-Media-Team bis zum Leibwächter. Bei der Wahlparty ließen sich auch Vertreter der rechtsextremen Identitären blicken. Ein Foto zeigt Kickl mit einem Identitären, der mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis formt. Allgemein steht die Geste für: „Alles okay“. In rechtsextremen Kreisen bedeutet sie „White Power“.
Die Identitären waren unter Norbert Hofer, Kickls Vorgänger als Parteichef, in der FPÖ noch unerwünscht. Jetzt werden sie wieder vorgelassen. Eine Entwicklung, die Van der Bellen sehr genau verfolgen wird. Auch viele Korporierte mit markantem Schmiss an der Backe feierten in der „Stiegl-Ambulanz“ mit. Im neuen FPÖ-Klub, der von 31 auf 57 Mandate wächst, sind auch die Alten Herren von Corps, Burschen- und Landsmannschaften stark vertreten und bilden das akademische Rückgrat der blauen Fraktion. Herbert Kickl selbst ist kein Korporierter. Als Einzelgänger fremdelte er in seiner Zeit als Student mit der bierseligen Geselligkeit auf Burschenschafter-Buden.
Doch ausgerechnet zwei seiner engsten Vertrauten sorgten kurz vor der Wahl für internationale Schlagzeilen, die alle Vorurteile gegen die FPÖ zu bestätigen schienen: Harald Stefan, Listenerster in Wien, und Klubdirektor Norbert Nemeth, der auf der Bundesliste kandidierte. Beide nahmen am Begräbnis eines „Alten Herren“ der rechtsextremen Akademischen Burschenschaft Olympia teil. Auch Nemeth ist dort Mitglied, Stefan trat vor einigen Jahren aus. Wie „Der Standard“ berichtete, wurde beim Begräbnis das SS-Treuelied („Wenn alle untreu werden…“) angestimmt. Die anderen Parteien reagierten mit Empörung. Nemeth und Stefan sowie der ebenfalls anwesende, langjährige Abgeordnete Martin Graf wiesen die Kritik an dem Lied zurück. Es sei beim Begräbnis explizit angekündigt worden, dass man „auf ausdrücklichen Wunsch des Verstorbenen“ die Originalfassung des Liedes aus dem Jahr 1814 singe.
Stefan gilt als möglicher Justizminister, falls die FPÖ Regierungspartei wird. Auch der Welser Bürgermeister Andreas Rabl und Ex-ÖBB-Manager Arnold Schiefer werden als FPÖ-Minister gehandelt. Schiefer ist Autor des FPÖ-Wirtschaftsprogramms und neu im Nationalrat. Durchaus möglich, dass der Wirbel um das Begräbnis auch kurz im Gespräch zwischen Alexander Van der Bellen und Kickl thematisiert wird. Noch schwerer als rechte Umtriebe in der FPÖ wiegen aus Van der Bellens Sicht Kickls EU-Ablehnung. In jeder Wortmeldung fordert der Bundespräsident von der zukünftigen Regierung ein klares Bekenntnis zur Union.
„Ich werde nach bestem Wissen und Gewissen darauf achten, dass die Grundpfeiler unserer liberalen Demokratie respektiert werden: etwa Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Menschen- und Minderheitenrechte, unabhängige Medien und die EU-Mitgliedschaft.”
Bundespräsident Alexander Van der Bellen am Wahlsonntag
Für Spekulationen in politischen Zirkeln sorgte der Termin des ersten Gesprächs des Bundespräsidenten mit Kickl am Freitag Nachmittag. Theoretisch hätte dieses auch schon am Mittwoch oder Donnerstag stattfinden können. Eine mögliche Erklärung: Nach ihrem Triumph mussten sich die Freiheitlichen erst einmal sammeln und eine Strategie für den Termin mit dem Bundespräsidenten finden. Oder es herrscht noch kein parteiinterner Konsens darüber, wer Nationalratspräsident werden soll.
Das Amt steht nach der parlamentarischen Usance der stärksten Fraktion zu. Viele in der Partei favorisierten den derzeitigen Dritten Nationalratspräsidenten Norbert Hofer, der sich das Amt auch wünschte. Doch Kickl versagte es ihm. Einen starken Mann neben sich kann der FPÖ-Obmann nicht brauchen. Nun wird Hofer Spitzenkandidat der FPÖ bei der Landtagswahl im Burgenland im Jänner. Kickls Favoritin für das Nationalratspräsidium ist die Abgeordnete Susanne Fürst. Möglicherweise geht das Spitzenamt auch an den freiheitlichen Volksanwalt Walter Rosenkranz.
„Der Bundespräsident hat gar nichts zu beauftragen. Die Frage ist, ob sich eine parlamentarische Mehrheit findet. (...) Es braucht überhaupt keinen Regierungsbildungsauftrag.”
Herbert Kickl zur Kronen Zeitung im März 2024
Belastete Beziehung
Die wichtigsten Entscheidungen fällt Kickl im engsten Kreis mit seinem Klubdirektor Nemeth und seinem Büroleiter, dem Klubobmann im niederösterreichischen Landtag Reinhard Teufel, auch er ein strammer Burschenschafter. Nemeth und Teufel sind auch Teil des FPÖ-Teams für die kommenden Parteienverhandlungen.
In seiner kurzen Ansprache am Wahltag wies der Bundespräsident darauf hin, dass zwischen dem Staatsoberhaupt und dem künftigen Regierungschef ein gewisses Maß an Vertrauen herrschen müsse. Mit Kickl ist dies nicht unbedingt gegeben. Am 22. Mai 2019 hatte Van der Bellen den damaligen Innenminister Kickl – als erstes Regierungsmitglied der Zweiten Republik – auf Vorschlag von Kanzler Sebastian Kurz entlassen. Seitdem grollt der FPÖ-Obmann.
„Diese Mumie in der Hofburg.“
In seiner Rede am politischen Aschermittwoch in Ried im Innkreis im Februar 2023 rächte sich Kickl und bezeichnete Van der Bellen als „senil“, „Mumie“ und „größten Demokratie- und Staatsgefährder“. Die Staatsanwaltschaft Ried leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren wegen Ehrenbeleidigung ein. Zur weiteren Strafverfolgung wäre allerdings Van der Bellens Zustimmung notwendig gewesen, die dieser nicht erteilte.
Am 18. Dezember 2017 ernannte Van der Bellen Kickl zum Innenminister. Als FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache dem Bundespräsidenten Kickl als seinen Wunsch-Innenminister präsentiert hatte, reagierte Van der Bellen überrascht. In einem vertraulichen Gespräch vor der Angelobung soll er Kickl streng darauf hingewiesen haben, dass das Innenministerium ein Staats- und kein Parteiamt sei.
Ist es vorstellbar, dass Van der Bellen einen Mann zum Kanzler ernennt, den er schon bei dessen Angelobung am 18. Dezember 2017 nicht für ministrabel hielt, und den er 17 Monate später entließ? Und würde die ÖVP tatsächlich als Juniorpartner in eine Koalition mit der FPÖ gehen?
Es passiert in Österreich äußerst selten, dass ein amtierender Kanzler bei der Wahl auf Platz 2 zurückfällt: Bisher war das nur drei Mal der Fall: Josef Klaus (ÖVP), der 1970 knapp gegen seinen SPÖ-Herausforderer Bruno Kreisky verlor. Wolfgang Schüssel (ÖVP) unterlag 2006 Alfred Gusenbauer und der SPÖ. Und Christian Kern (SPÖ) wurde 2017 hinter Sebastian Kurz und der ÖVP Zweiter.
© APA - Austria Presse Agentur
NR-WAHL: PULS-4 "ELEFANTENRUNDE" MIT SPITZENKANDIDATEN DER PARLAMENTSPARTEIEN: NEHAMMER
„Die Wählerinnen und Wähler wissen, dass es mit mir keine Regierung mit Herbert Kickl geben wird. Wenn man das tatsächlich verhindern will, ist die Stimme bei mir gut aufgehoben.”
ÖVP-Chef Karl Nehammer in der ORF-Elefantenrunde Ende September 2024
Nun reiht sich Karl Nehammer in diese unrühmliche Riege ein – obwohl die ÖVP bis zuletzt die Hoffnung auf Platz 1 aufrechterhielt. Vor fünf Jahren, nach Sebastian Kurz’ Sieg, schimmerte der Großteil Österreichs türkis. Nun wurde auf Blau umgefärbt. Die ÖVP verlor in allen Gemeinden Österreichs und hat das größte Minus ihrer Parteigeschichte zu verdauen.
Der zweiten ehemaligen Großpartei, der SPÖ, erging es nicht besser: Sie konnte weder von der Unzufriedenheit mit der ÖVP-Grünen-Regierung noch von dominanten Themen wie der Teuerung profitieren und landete auf dem blamablen dritten Platz. Nur Zuwächse in den Städten Wien, Graz und Innsbruck verhinderten den Totalabsturz unter die 20-Prozent-Marke.
Türkise Pläne
Ein Auftrag zum Regieren sieht anders aus, für beide ehemaligen Groß-Parteien. Dennoch zeigen sich ÖVP und SPÖ entschlossen, gemeinsam (mit oder ohne dritten Partner) die FPÖ auszubremsen. Um zu verhindern, dass Kickl dann eine Märtyrerrolle spielt, heckte die ÖVP einen zweistufigen Plan aus. Zunächst soll Herbert Kickl vom Bundespräsidenten mit der Regierungsbildung beauftragt werden – aber mangels Mehrheit daran scheitern. Stufe 2 des Plans sieht vor, das Kanzleramt für Karl Nehammer in einer Koalition mit der SPÖ und gegebenenfalls den Neos zu retten.
Das Vorhaben ist riskant. Eine Koalition der Wahlverlierer, die nur zur Verhinderung eines Kanzlers Kickl geschlossen wurde, macht keinen schlanken Fuß. Zerbricht sie vor der Zeit, wird Kickl noch stärker. Selbst wenn sie hält, kann die FPÖ genüsslich ständig betonen, dass sie von „Eliten“ ausgegrenzt werde. Inhaltlich liegt die FPÖ deutlich näher als die SPÖ bei der Volkspartei, die Wirtschaftsprogramme unterscheiden sich nur in Nuancen. Bei zähen Verhandlungen mit der SPÖ könnte in der ÖVP der Druck größer werden, es doch mit der FPÖ zu versuchen.
„Karl Nehammer – und damit die ÖVP – hat gesagt: Mit der Kickl-FPÖ wird es keine Koalition geben. Das war gestern so, das ist heute so und morgen wird es noch immer so sein.“
ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker nach der ersten Hochrechnung am Wahlsonntag
Rote Sorgen
Vorerst aber spielt die SPÖ beim Plan der ÖVP mit. Schon kurz nach der Wahl gab es erste Gespräche zwischen Karl Nehammer und SPÖ-Chef Andreas Babler, forciert von Wiens Bürgermeister Michael Ludwig. Der starke Mann der SPÖ zeigte Muskeln und gab schon am Wahlabend die Linie vor: Die SPÖ will regieren – und Babler bleibt. Eigentlich hatte sich Ludwig im Vorjahr aus dem SPÖ-Präsidium zurückgezogen, tauchte aber am Montag dort wie selbstverständlich auf und machte klar: Wien hat mit über 220.000 Stimmen das SPÖ-Wahlergebnis gerettet, aus dem Burgenland kamen hingegen nur 50.000 Stimmen. Dort bezweifelt man den Sinn einer Koalition mit der ÖVP, bleibt aber ungehört. „Die SPÖ ist erschöpft von der Opposition und erschöpft vom internen Streit“, schildert ein Parteigrande die interne Stimmung.
Eine Wahlanalyse fand im Präsidium nicht statt – eine Personaldiskussion auch nicht. Andreas Babler bleibt an der Parteispitze, wird aber in ein breites rotes Verhandlungsteam eingepackt: Erfahrene Profi-Verhandler wie Nationalratspräsidentin Doris Bures und Gewerkschafter Wolfgang Katzian sind dabei, ebenso Klubobmann Philip Kucher aus Kärnten und Frauenchefin Eva-Maria Holzleitner.
„Es gibt Parteitagsbeschlüsse, dass wir einfach keine Koalition mit der FPÖ machen. Wir werden ja nicht zuschauen, dass dieses Land noch einmal zusammengeschossen wird.”
SPÖ -Chef Andreas Babler Anfang Jänner 2024 in der ZIB2
Teile der Partei kritisieren, die FPÖ hätte es viel besser geschafft, emotional zu mobilisieren, ohne groß am Land unterwegs gewesen zu sein. Außerhalb des urbanen Raums würden sich viele SPÖ-affine Wählerinnen und Wähler mit Forderungen wie einer 32-Stunden-Woche schwertun. Wichtiger wäre es ihnen gewesen, konkrete Lösungsvorschläge gegen die Teuerung zu hören. Auch Bablers Mantra, dass er endlich die SPÖ von früheren Irrwegen abgebracht habe, wurde kritisiert – Partei-Altvordere haben es persönlich genommen.
Dennoch: Sieben der neun Landesvorsitzenden sprachen sich dafür aus, in Regierungsverhandlungen zu treten. Nur der Salzburger David Egger meinte vorsichtig, das Ergebnis sei kein Regierungsauftrag, und Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil sagte gleich Montagmittag deutlicher: „Mein Zugang wäre gewesen, sich in einer Oppositionsrolle komplett neu zu hinterfragen.“
Vor allem in der Parteijugend gibt es einige, die sich eine Zusammenarbeit mit der ÖVP schwer vorstellen können – noch dazu als Juniorpartner. Gleichzeitig ist man sich bewusst, dass die Alternative Blau-Schwarz wäre.
Sollten sich ÖVP und SPÖ zu einer Kooperation mit den NEOS entschließen, wäre es ein Experiment für Österreich. In anderen EU-Staaten ist eine Dreierkoalition Normalität. In 17 der 27 Mitgliedsstaaten regieren derzeit mindestens drei Parteien. Nicht immer mit Erfolg: In Deutschland kämpft die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und der liberalen FDP gegen ihre miserablen Beliebtheitswerte und die immer stärker werdende AfD.
Ein gemeinsamer Feind kann da zusammenbringen, was nicht zusammen wollte: Im Bundesland Thüringen verhandeln nun Christdemokraten, SPD und das Bündnis Sahra Wagenknecht – eine Migrations-feindliche Version der Linken, mit der die CDU eine Zusammenarbeit ausgeschlossen hatte. In Italien regiert Ministerpräsidentin Giorgia Melonis Partei Fratelli d'Italia mit der Rechtsaußen-Partei Lega und der konservativen Forza Italia. Und in den Niederlanden koalieren vier Parteien. Angeführt wird die Koalition von der sogenannten Freiheitspartei von Geert Wilders. Da niemand mit ihm zusammenarbeiten wollte, nahm er kein Regierungsamt an. Ministerpräsident ist der parteilose Dick Schoof.
„Wissen Sie, was das wäre? Wählerbetrug. Ich kann nicht als Spitzenkandidat in eine Wahl gehen und danach sagen: Ätsch, jetzt macht es wer anderer. Dafür bin ich nicht zu haben.”
FPÖ-Chef Herbert Kickl über einen möglichen Rückzug in der „Krone” im März 2024
Schlechte Karten
Kann in Österreich das Experiment „Vier gegen Kickl“ glücken? Schaffen es ÖVP, SPÖ und Neos mit der tatkräftigen Unterstützung des Bundespräsidenten, eine Regierung am Wahlsieger FPÖ vorbei zu bilden? Herbert Kickl hat schon einen Namen für das mögliche Bündnis von ÖVP, SPÖ und eventuell NEOS parat: „Verlierer-Koalition“. Die Voraussetzungen für diese Parteien, Kickl eines Besseren zu belehren, sind schlecht. Österreich steckt in einer hartnäckigen Rezession. Die Arbeitslosigkeit klettert in die Höhe. Dazu kommen persönliche Animositäten zwischen Nehammer und Babler und programmatische Differenzen zwischen den Parteien.
„Sie sind der Totengräber der politischen Mitte in diesem Land.“
SPÖ-Chef Andreas Babler im TV-Duell Mitte September 2024 zu ÖVP-Chef Karl Nehammer
Eine Reform des Bildungssystems wünschen sich ÖVP, SPÖ und NEOS gleichermaßen, die Gesamtschule der Zehn- bis Vierzehnjährigen lehnt die ÖVP aber ab. Dass Arbeit hierzulande zu hoch besteuert wird, wissen alle Parlamentsparteien, die SPÖ sieht eine Senkung der Steuern- und Abgabenquote aber nicht als Selbstzweck. Und selbst wenn sich eine neue Regierung auf strukturelle Reformen einigt, wird sie kurzfristig etwa im Bildungs- und Gesundheitsbereich mehr Geld ausgeben müssen.
Höhere Ausgaben wird sich die neue Regierung aber kaum leisten können. In der Corona-, Energie- und Teuerungskrise der vergangenen Jahre hieß das Motto von ÖVP und Grünen: „Koste es, was es wolle.“ Das Ergebnis ist ein Berg an Schulden. Laut Prognosen des Fiskalrats droht Österreichs Budgetdefizit die EU-Maastricht-Kriterien von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu überschreiten. Die SPÖ will das Loch im Haushalt mit Einnahmen aus Erbschafts- und Vermögenssteuern stopfen, die ÖVP nun aber wirklich Doppel- und Mehrfachförderungen beenden, nachdem sie dies in ihren 37 ununterbrochenen Jahren als Regierungspartei nicht zuwege brachte.
„Packen Sie daher Ihre kommunistische Mottenkiste mit Ihren Steuerfantasien wieder ein und lassen Sie die Wirtschaft und die Menschen in diesem Land arbeiten!“
ÖVP-Klubchef August Wöginger im Mai 2024 im Parlament zur SPÖ
Für Reichensteuern gibt es im neuen Parlament keine Mehrheit, und es erfordert einigen Mut, der eigenen Klientel Förderungen zu streichen. Selbst klimaschädliche Subventionen wie Dieselprivileg und Pendlerpauschale will die ÖVP daher erhalten. Ein von den NEOS gefordertes Sparpaket haben beide ehemaligen Großparteien vor der Wahl abgelehnt.
Selbst wenn sich die drei Parteien also in ihrem Nein zu Herbert Kickl einig sind, werden die Koalitionsverhandlungen dauern. Kleine, rasche Erfolge könnten helfen: Bereits jetzt einig sind sich ÖVP, SPÖ und Neos etwa beim Rechtsanspruch auf einen kostenlosen Kinderbetreuungsplatz ab dem ersten Lebensjahr und der Forderung nach einem unabhängigen Generalstaatsanwalt als Weisungsspitze.
Liberaler Tango
Theoretisch braucht es die Pinken gar nicht. Denn ÖVP und SPÖ hätten auch ohne dritten Partner eine Mehrheit im Parlament. Allerdings eine hauchdünne. Fehlen bei Abstimmungen ein, zwei Abgeordnete, oder sie legen sich quer, ist die Mehrheit dahin. Deswegen ist ein „Dreier“ eine wahrscheinliche Variante. Mit weit besseren Karten für die Neos als für die Grünen. „Wir haben bei der Wahl zugelegt. Mit uns wäre ein Dreier keine reine Verlierer-Koalition“, sagt ein NEOS-Funktionär. In dieser könnten die Pinken wohl ein Ministerium und ein Staatssekretariat besetzen.
Hinter den pinken Kulissen wird eine weitere Variante ins Spiel gebracht: Nein zur fixen Koalition mit ÖVP und SPÖ, Ja zu einem Arbeitsübereinkommen, das der pinken Reformagenda entspricht. Es gibt aber auch gewichtige – anonyme – Stimmen bei den NEOS, die dringend vor einer Koalition mit ÖVP und SPÖ abraten. „Jetzt ist noch nicht die Zeit dafür. In einer Koalition mit den beiden können wir derzeit viel mehr verlieren als gewinnen. Dann sind wir tot, und es braucht wieder 30 Jahre bis zur nächsten liberalen Partei.“
„Ich gehe nicht in den Wahlkampf und sage: Super, ich werde jetzt der kuschelige Juniorpartner.“
NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger im Juli 2024 zur APA
Oder sind die Planspiele überflüssig, weil es beim gewohnten „Zweier“ bleibt, aber unter ganz anderen Vorzeichen? Nur zwei Prozent der Blauwähler gaben laut dem Foresight-Institut an, Spitzenkandidat Kickl sei ihr vorrangiges Wahlmotiv gewesen. Dieses Detail könnte noch dramatische Bedeutung gewinnen. Der schlechte Wert würde es Kickl leichter machen, am Ende doch zur Seite zu treten, um einen FPÖ-Kanzler in einer Koalition mit der ÖVP als Juniorpartnerin zu ermöglichen. Auch wenn es alle in der FPÖ offiziell ausschließen, ist diese Variante nicht ganz obsolet. Genauso wenig wie Lock-Angebote an die SPÖ, dass diese ihren Parteitagsbeschluss gegen eine Regierung mit der FPÖ ad acta legt. Auch das schließen derzeit alle SPÖ-Spitzenfunktionäre aus. Aber je länger die Gespräche der Allianz gegen Kickl dauern, desto eher können auch derzeit völlig unrealistische Bündnisse ins Spiel kommen.
Sicher scheint derzeit nur: Die Regierungsverhandlungen werden dauern.
Gernot Bauer
ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.
Eva Linsinger
Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin
Max Miller
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und chattet für den Newsletter Ballhausplatz. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.