Michael Ludwig: „Gehen wir davon aus, dass die SPÖ nicht Dritter wird“
Wiens Bürgermeister Michael Ludwig wünscht sich eine „Koalition der Vernunft“ und appelliert an die „gemeinsame Verantwortung“ von ÖVP und SPÖ. Sein Schluss nach dem Hochwasser: bei jeder politischen Maßnahme Klimaschutz mitbedenken. Und er sagt: Wien „reißt sich nicht um Flüchtlinge“.
Österreich wurde von einem Jahrhunderthochwasser erschüttert. Wird das die Wahl beeinflussen? In den letzten Umfragen lag die FPÖ vor der ÖVP und der SPÖ.
Ludwig
Hauptsache ist, die Folgen der Unwetter einzudämmen. Ob das die Wahl beeinflusst, ist schwer vorherzusagen. Bei der EU-Wahl lagen die Parteien enger beieinander, als die Umfragen zeigten. Ich gehe davon aus, dass das bei der Nationalratswahl genauso sein könnte. Dass drei Parteien etwa gleichauf liegen. Wir werden bis zur letzten Stunde für ein gutes Ergebnis kämpfen.
Denken Sie sich manchmal: Pamela Rendi-Wagner hätte nicht schlechter abgeschnitten als Andreas Babler?
Ludwig
Ich habe Frau Doktorin Rendi-Wagner bis zum Schluss unterstützt, weil ich überzeugt war, dass sie eine gute Person an der Spitze der SPÖ war. Aber die SPÖ Wien steht prinzipiell loyal hinter dem Bundespartei-Vorsitzenden. Ich unterstütze Andreas Babler.
Die Menschen leiden unter der Teuerung, die schwarz-grüne Regierung ist unbeliebt. Dennoch kommt die SPÖ nicht vom Fleck. Was läuft falsch?
Ludwig
Es gibt eine starke Stimmung gegen Regierende. Die SPÖ wird auch als Regierungspartei wahrgenommen, obwohl sie in Opposition ist. In der Bevölkerung herrscht viel Unzufriedenheit, Populisten verwandeln sie in Zorn. Die SPÖ ist keine populistische Partei. Daher nützt ihr die Gemengelage nicht.
Andreas Babler versucht es mit Populismus von links.
Ludwig
Er tritt stark für soziale Fragen ein. Aber klar ist: Eine Partei muss geschlossen auftreten, sonst hat sie keinen Erfolg. Leider wirken die Diskussionen des Vorjahres noch nach.
Rendi-Wagner fuhr 2019 das historisch schlechteste Ergebnis mit 21,2 Prozent ein. Was passiert, wenn Babler darunter bleibt?
Ludwig
Wollen wir einmal davon ausgehen, dass das nicht eintritt. Es gibt keinen Anlass, in einem Wahlkampf über die Zeit danach zu philosophieren.
Es gibt in der Politik eine Währung, und die lautet: Erfolg.
Die SPÖ hat eine Reihe an Parteichefs abmontiert: Werner Faymann, Christian Kern, Pamela Rendi-Wagner. Jetzt wird Babler kritisiert. Das ist wie früher in der ÖVP.
Ludwig
Es gibt in der Politik eine Währung, und die lautet: Erfolg. Wenn man eine Wahl gewinnt, scharen sich viele Menschen hinter einem. Wenn das nicht gelingt, kommt es automatisch zu Diskussionen. Gerade nach Vorsitzwechseln gibt es Skepsis in Teilen der Partei. Wenn Vorsitzende rasch wechseln, haben sie zu wenig Möglichkeiten, sich zu profilieren.
Falls die SPÖ auf Platz drei landet, soll sie dann in Opposition gehen?
Ludwig
Gehen wir einmal davon aus, dass die SPÖ nicht Dritter wird. Prinzipiell bin ich dafür, dass sich die SPÖ bemühen sollte, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Nicht um jeden Preis natürlich. Aber dass nicht automatisch jene Partei, die den ersten Platz belegt, den Kanzler stellen muss, haben wir im Jahr 2000 erlebt. Damals lag die SPÖ mit Abstand auf Platz eins, und trotzdem bildeten ÖVP und FPÖ eine Koalition.
Sie haben in Wien die erste SPÖ-NEOS-Koalition Österreichs gebildet. Könnte auf Bundesebene eine Dreierkoalition mit ÖVP und NEOS funktionieren?
Ludwig
Wir schließen aus guten Gründen die FPÖ als Regierungspartner aus, aus diesem Grund wird es andere Mehrheiten geben müssen. Es wäre das erste Mal, dass in Österreich eine Dreierkoalition regiert. Leichter wird das Regieren damit natürlich nicht, ist aber in anderen europäischen Ländern schon länger üblich.
Gerade Vermögens- und Erbschaftssteuern werden mit ÖVP und NEOS schwer umsetzbar sein.
Ludwig
Man muss die Diskussion anders führen und fragen: Wofür brauchen wir in den nächsten Jahren mehr Geld? Für Bildung, Forschung, Gesundheit, Pflege, Klimaschutz. Da müssen wir mehr investieren. Um das zu finanzieren, kann man entweder Leistungen für einen großen Teil der Bevölkerung reduzieren – das wollen wir nicht. Oder man bezieht jene stärker ein, die breitere Schultern haben und in den vergangenen Jahren stark profitierten – also jene, die ihre Einkommen aus Erbschaften und Vermögen und nicht aus Arbeit beziehen.
Im Wahlkampf müssen Parteien Profil zeigen, aber dann beginnt eine gemeinsame Verantwortung für ÖVP und SPÖ, wie ich hoffe. Dabei sollten persönliche Animositäten nicht im Vordergrund stehen.
Bei der TV-Konfrontation zwischen Andreas Babler und Karl Nehammer war viel Animosität bemerkbar. Ist eine Zusammenarbeit der beiden überhaupt möglich?
Ludwig
Ich bin ein ausgeprägter Pragmatiker. Wahlauseinandersetzungen werden oft heftig geführt – und dann kommt es innerhalb von Tagen zu Koalitionen, die man sich vorher nicht vorstellen konnte, siehe etwa die ÖVP-FPÖ-Regierungen in anderen Bundesländern. Im Wahlkampf müssen Parteien Profil zeigen, aber dann beginnt eine gemeinsame Verantwortung für ÖVP und SPÖ, wie ich hoffe. Dabei sollten persönliche Animositäten nicht im Vordergrund stehen – sondern die Verantwortung für das Staatsganze. Und das bedeutet gerade nach den Unwettern: Investitionen in Klimaschutz, das muss allen klar sein.
Was müsste konkret passieren?
Ludwig
Österreich benötigt, so wie wir es in Wien vorgemacht haben, ein Klimaschutzgesetz. Zukünftig soll bei allen politischen Maßnahmen der Klimaschutz mitgedacht werden. Deswegen war ich auch so vehement für die Renaturierung.
Sie mahnten zu Jahresanfang: ÖVP und SPÖ sollten nicht alles Verbindende vor der Wahl abreißen. Passiert das im Wahlkampf gerade?
Ludwig
Ich bin bekannt als ein Politiker, der nicht so pointiert formuliert. Ich versuche, nicht andere schlechtzureden, sondern eigene Positionen in den Vordergrund zu rücken. Nicht alles, was im Wahlkampf gesagt wird, gefällt mir. Es ist auch für die Bevölkerung nicht sehr ergiebig, wenn sich Politiker wechselseitig Argumente an den Kopf werfen. Umgekehrt kenne ich den Wunsch der Zuspitzung, den Medien vorantreiben. Pointierte Sager werden öfter gebracht. Der Verlockung können nicht alle Politiker widerstehen.
Teilen Sie den Befund, dass die ÖVP und Karl Nehammer die „Mitte zerstört haben“, wie Babler es formulierte?
Ludwig
Ich bin wie gesagt nicht so ein pointierter Formulierer.
Die Wirtschaftssituation ist schwierig, Österreich ist das zweite Jahr in einer Rezession, die Arbeitslosigkeit steigt. Was muss passieren?
Ludwig
Mir macht die wirtschaftliche Situation Sorgen. Teils gibt es internationale Gründe für die Rezession, an manchem ist die schwarz-grüne Bundesregierung schuld, weil ihre Politik die Inflation steigen ließ. Das ist für die Haushalte und für den Wirtschaftsstandort ein Problem. Ich habe großes Vertrauen in die Sozialpartner, die Wirtschaftsstandort und Arbeitsmarkt immer gemeinsam im Blick haben. Wir müssen überall ansetzen. Von der Bildung über die Forschung bis zur Infrastruktur. Deswegen wäre eine Koalition der Vernunft wichtig, der es gelingt, die großen Brocken anzugehen.
Müssen Steuern und Lohnnebenkosten rasch gesenkt werden?
Ludwig
Es braucht große Investitionen in die Zukunft, Pflege, Gesundheit, Bildung, Klimaschutz. Dafür braucht es steuerliche Ressourcen. Deswegen bin ich mit Senkungen zurückhaltend. Besonders bei Lohnnebenkosten. Damit werden die sozialen Eckpfeiler wie Pensionen, Gesundheitswesen und Arbeitslosenhilfe abgesichert.
Mit der steigenden Zahl an Arbeitslosen wird auch die Zahl der Mindestsicherungsbezieher steigen. Sie wollen, dass künftig das AMS dafür zuständig ist, nicht mehr die Länder. Warum? Bezieher müssen auch jetzt schon Arbeit suchen.
Ludwig
Das stimmt. Und wenn sie Jobs verweigern, wird ihnen die Leistung auch gekürzt – in Wien 20.000 Mal seit Anfang 2023. Durch die direkte Anbindung ans AMS könnten Menschen aus der Mindestsicherung heraus noch besser, schneller vermittelt werden. Die AMS-Vorstände haben sich offen dafür gezeigt. Kinder sollte man parallel dazu durch eine Kindergrundsicherung unterstützen. Nach dem Motto: Jedes Kind ist gleich viel wert. Das ist bei der Familienbeihilfe auch so.
Nicht jedes Kind kostet im Haushalt gleich viel, etwa Wohnkosten pro Kopf sinken mit der Kinderzahl.
Ludwig
Wie viel Kinder kann man in einem Kabinett unterbringen? Ich bin noch in einem Gemeindebau mit 40 Quadratmetern aufgewachsen. Die Wohnrealität vieler asylberechtigter Familien ist alles andere als großzügig.
„6800 Euro Sozialhilfe ohne zu arbeiten. Ist das gerecht, Herr Babler?“ Das plakatiert die ÖVP.
Ludwig
Das ist eine konstruierte und falsche Zahl. Sie käme nur zustande, wenn die viel diskutierten 4600 Euro für eine Familie mit sieben Kindern addiert würde mit unserem Modell der Kindergrundsicherung, was so nie angedacht war. Aber ich verstehe, dass auch 4600 Euro monatlich für eine Flüchtlingsfamilie irritieren. Ein Extrembeispiel, das die ÖVP im Wahlkampf verbreitet hat. In der Realität gibt es in Wien aber nur 13 solcher Familien, wo kein Elternteil arbeitet. Weitere 107 Familien mit sieben Kindern stocken auf die Mindestsicherung auf, weil ihr Einkommen zu niedrig ist.
Die meisten Flüchtlinge kommen nach Wien. Wir reißen uns nicht darum.
Die Mindestsicherung ist ein Reizthema, weil sie für Flüchtlinge das erste, für Österreicher hingegen das letzte Sicherheitsnetz ist. Durch den Familiennachzug aus Syrien ist die Zahl an kinderreichen Familien in der Mindestsicherung deutlich gestiegen.
Ludwig
Deswegen ist es wichtig, dass die Mindestsicherung ein Sprungbrett in den Arbeitsmarkt ist und in Zukunft bundeseinheitlich über das AMS abgewickelt wird.
Das klappt nur bedingt. Jeder vierte Bezieher in Wien ist Flüchtling.
Ludwig
Was daran liegt, dass die meisten Flüchtlinge nach Wien kommen. Wir reißen uns nicht darum. Wir sind das einzige Bundesland ohne eigene Außengrenze. Wir haben keinen Einfluss, wie viele kommen. Aber es gibt natürlich einen Großstadteffekt, weil hier schon Menschen aus den jeweiligen Communities leben. All jene, die bereits in Wien sind, behandeln wir anständig, fordern aber auch das Einhalten der Hausordnung. Wir wollen aber auch zwei verpflichtende Integrationsjahre, damit Flüchtlinge rasch rauskommen aus der Mindestsicherung. Und eine Residenzpflicht zur besseren Verteilung, damit Asylberechtigte in ihrem ersten Bundesland bleiben.
Integrationsministerin Susanne Raab sagt, Wien soll die Sozialhilfe kürzen, dann zieht es Zuwanderer weniger stark nach Wien.
Ludwig
Ich bin ein faktenorientierter Mensch. Wir geben in der Sozialhilfe durchschnittlich nur fünf Euro mehr pro Kopf aus als der Rest Österreichs. Wir zahlen ja bloß an Alleinerzieher mit Kindern und Paaren mit Kindern mehr als der Rest. Und dazu stehe ich.
Mehr Geld gibt es auch für subsidiär Schutzberechtigte, und zwar rund 500 Euro im Monat.
Ludwig
Genau. So wie auch im ÖVP-geführten Tirol. Wir sind der Meinung, dass die Mindestsicherung ein Grundnetz ist. Sie soll Menschen in die Lage versetzen, in den Arbeitsprozess zu kommen.
Wien hat seine Offenheit gegenüber Flüchtlingen lange Zeit betont. Wenn Sie sich jetzt die Situation in Schulen, am Arbeitsmarkt, in Parks ansehen: Ist eine Grenze der Aufnahmefähigkeit erreicht?
Ludwig
Wir sind gefordert. Insbesondere in den Schulen ist die Herausforderung groß. Viele Lehrer gehen in Pension. Gleichzeitig kamen 4000 Kinder aus der Ukraine dazu und viele weitere Tausend über den Familiennachzug aus Syrien. Ich kann an der Stelle nur einen Filmtipp geben: „Favoriten“ – über eine extrem engagierte Lehrerin mit türkischen Wurzeln und ihre Kinder, die zu 100 Prozent Migrationshintergrund haben. Man sieht all die Probleme, aber auch all die Hoffnungen.
Die Filmemacherin Ruth Beckermann fordert eine bessere Verteilung. Soll man Favoritner Kinder auch in Bezirke wie Hietzing transportieren?
Ludwig
Die Kinder zwangsweise in der Stadt herumzuführen wie teilweise in den USA, davon halte ich nichts. Durchmischung muss man anders erreichen, etwa durch Wohnraumpolitik.
Zwei Drittel muslimische Mittelschüler in Bezirken wie Brigittenau oder Favoriten. Ist das noch die Durchmischung, die Sie sich vorstellen?
Ludwig
Ich habe unlängst die ORF-Sendung „Alltagsgeschichten“ von Elisabeth Spira aus dem Jahr 1991 über den Brunnenmarkt im 16. Bezirk gesehen. Der Tenor der befragten Leute war: „Wir wollen hier nur wegziehen.“ Heute wollen viele Menschen unbedingt hinziehen. Das zeigt, was man mit guter Stadtentwicklung alles schaffen kann.
Zuletzt machte genau der Brunnenmarkt mit dem angrenzenden Yppenplatz wieder Negativschlagzeilen.
Ludwig
Es gab immer schon Zuwanderungswellen und Wachstumsschmerzen. Dafür ist der Markt das perfekte Beispiel: Die sogenannten Autochthonen an den Marktständen haben gesagt, sie werden von Menschen aus Ex-Jugoslawien verdrängt, die fühlten sich später verdrängt von den Türken, und die wiederum sagen heute, sie gehen weg, weil zu viele Syrer gekommen sind. In Wien hat die Hälfte der Arbeitnehmer Migrationshintergrund. Dazu kommt die Binnenwanderung aus dem Rest Österreichs. Wenn Wien so furchtbar wäre, wie manchmal dargestellt, würden nicht so viele aus anderen Bundesländern herziehen. Wien ist die lebenswerteste Stadt der Welt.
Nicht nur Kicker und Opernsänger sollen rasch Staatsbürger werden, sondern auch diese Helden des Alltags.
In manchen Bezirken Wiens darf fast die Hälfte der Wohnbevölkerung nicht wählen. Braucht es ein anderes Wahlrecht in einem Einwanderungsland wie Österreich?
Ludwig
Wir haben uns in Wien gegen ein Ausländerwahlrecht ausgesprochen auf Bundes- und Landesebene. Ich bin aber für deutlich niedrigere Einkommensgrenzen für die Erlangung der Staatsbürgerschaft. Derzeit müssen nach Abzug aller Fixkosten über 1200 Euro netto übrig bleiben im Monat. Das ist für viele hart arbeitende Zuwanderer wie Reinigungs- oder Pflegekräfte nicht möglich. Nicht nur Kicker und Opernsänger sollten rasch Staatsbürger werden können, sondern auch diese Helden des Alltags.
Noch einmal zurück zur Wahl: Würden Sie auf einen Sieg der SPÖ wetten?
Ludwig
Ich hoffe es. Ich bin aber kein Spieler und wette daher prinzipiell nie.
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.