Wen wählen wir am 29. September eigentlich?
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Wenn die Besuchergruppe im Sitzungssaal des Nationalrats steht und gar nicht mehr rausgehen will, weiß Henrike Brandstötter, 48, genau, wie sie die Gäste wieder auf den Gang locken kann. Sie verspricht, ihnen das „hässlichste Bild im Parlament“ zu zeigen, und führt die Menschentraube dann zum Porträt des früheren ÖVP-Nationalratspräsidenten Andreas Khol, das im Empfangssalon neben den Bildnissen aller anderen Präsidenten hängt.
Das Porträt ist ein bemaltes Holzrelief, das Khol mit verzerrtem Gesichtsausdruck zeigt. Geschmäcker sind verschieden. Von Khol weiß man, dass ihm das Bild besonders gut gefällt, weil man darin „seinen Schalk im Nacken“ erkennen könne.
Der NEOS-Abgeordneten Brandstötter ist es ein Anliegen, den Menschen Parlament und Parlamentarier näherzubringen, mit Inhalten und Unterhaltung, und sei es auf Kosten eines früheren Nationalratspräsidenten. „Wenn wir gerade Sitzungspause haben, glauben viele Leute, es passiert eh nichts, wir sitzen im Freibad und essen den ganzen Sommer Eis.“ Dabei gehört zum Alltag von Brandstötter und ihren 182 Kolleginnen und Kollegen im Nationalrat so viel mehr, als Gesetze zu beschließen und Reden zu halten.
Zum Beispiel jetzt gerade: Wahlkampf. Bei all den Diskussionen über Koalitionsvarianten und Kanzlerschaften gerät oft in Vergessenheit, dass am 29. September der Nationalrat und seine 183 Abgeordneten gewählt werden, und zwar über Regionalwahlkreise, Landes- und Bundeslisten. Die Parlamentarier sind es, die das Wahlvolk repräsentieren sollen, mit Gesetzen das Leben im Land regulieren, die Regierung mit Mehrheit stützen oder in Opposition kontrollieren.
Eine große profil-Umfrage gibt Einblicke in ihre Arbeit, Aufgaben und Leben. 80 von 183 Nationalratsabgeordneten machten bei der Befragung mit. Die meisten von ihnen, 61 Prozent, schätzen ihre wöchentliche Arbeitszeit auf mehr als 50 Stunden.
Kontakte mit Bürgerinnen und Bürgern machen für den überwiegenden Teil von ihnen bis zu 20 Stunden aus.
Was aber tun sie genau, die Parlamentarier?
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Eine typische Arbeitswoche von Kai Jan Krainer, 55, kann so ausschauen: Treffen mit Budget-Expertinnen und -Experten, seien es Beamtinnen oder Wissenschafter. Führungen durch das Parlament. Abenddiskussion in seinem Wahlkreis, dem 3. Wiener Bezirk, zum Bildungsthema. Unterlagen für Untersuchungsausschüsse durchackern. Diskussion im SPÖ-Klub zu den Untersuchungsausschüssen. Treffen mit Journalistinnen oder Journalisten. Plenarsitzung im Parlament. Rhetoriktraining. Aufnahme für die TV-Sendung „Hohes Haus“.
Krainer sitzt seit über zwei Jahrzehnten, konkret seit Dezember 2002, für die SPÖ im Parlament, ist das rote Gesicht der Untersuchungsausschüsse und Budgetsprecher: „Meine Aufgabe ist, den Mächtigen auf die Finger zu schauen.“ Etwa indem er entdeckte, dass der damalige Finanzminister Gernot Blümel sechs Nullen im Budget vergaß und nur 102.389 Euro statt 102 Milliarden Euro für den Staatshaushalt eines Jahres plante.
Meine Aufgabe ist, den Mächtigen auf die Finger zu schauen.
Selbst altgediente Abgeordnete wie er halten „nicht mehr als zwei, drei Reden im Parlament pro Monat. Das ist nur ein kleiner Bruchteil meiner Arbeit.“ Aber „natürlich ist es kein Nachteil, wenn man reden kann“. Krainer hat beides erlebt: Abgeordneter der Kanzlerpartei SPÖ (2007 bis 2017) und der Oppositionspartei SPÖ (2002 bis 2007 und 2017 bis jetzt) und beschreibt den Unterschied so: „Als Abgeordneter einer Regierungspartei ist man mehr mit Gesetzgebung beschäftigt, als Oppositionspartei mehr mit Kontrolle.“
Herrschen und prüfen
21 Mal saßen die 183 Abgeordneten heuer bisher im Plenum des Nationalrats zusammen, die Sitzungen dauerten über 105 Stunden. Dabei beschlossen die Parlamentarier 70 Gesetze. Kein einziges davon kam auf Antrag der Opposition zustande. Nicht, weil SPÖ, FPÖ und NEOS keine eigenen Ideen hätten, sondern weil die Regierungsparteien ÖVP und Grüne ihnen die notwendigen Mehrheiten verwehrten. Trotzdem passierten seit 2019 fast 1000 Gesetze den Nationalrat. In der Regel wird rund jedes vierte Gesetz einstimmig beschlossen. Nur im Corona-Jahr 2020 war der Nationalrat mit 43 Prozent aller Gesetzesvorhaben deutlich öfter einer Meinung.
Eigentlich wäre es eine der Aufgaben des Parlaments, die Mächtigen – in diesem Fall: die Regierung – zu kontrollieren. In der Praxis versucht das fast nur die Opposition, zum Beispiel mit parlamentarischen Anfragen, die Ministerinnen und Minister beantworten müssen. 2023 wurden laut Parlament 3981 Anfragen an die Regierung gestellt. Die 97 Abgeordneten von ÖVP und Grünen brachten davon nur 65 ein.
Kein einziger ÖVP-Abgeordneter weiß, wie es sich anfühlt, in der Opposition zu sein. Die Volkspartei ist seit dem Jahr 1987 Regierungspartei (mit der kurzen Ausnahme der Expertenregierung unter Kanzlerin Brigitte Bierlein). Und sehr viele schwarze Mandatare kennen die eigene Fraktion ausschließlich als Kanzlerpartei – wie Tanja Graf, 49, aus Hallein, die seit dem Jahr 2017 für den Wahlkreis Tennengau und Flachgau im Nationalrat sitzt. Graf ist Eigentümerin eines Personaldienstleistungs-Unternehmen. Sie wolle keine reine „Berufspolitikerin“ sein, sagt sie. Bis zu drei Wochen pro Monat ist sie dennoch in Wien.
Graf ist Energiesprecherin der ÖVP im Parlament. Unter anderem verhandelte sie das Erneuerbare-Wärme-Gesetz mit dem grünen Klimaministeri- um. Dass das Gesetz den von Ministerin Leonore Gewessler gewünschten verpflichtenden Austausch von Gasthermen doch nicht vorsieht, ist Grafs Verdienst beziehungsweise ihre Schuld – je nach Standpunkt. An mehr als 60 Abstimmungsrunden nahm sie teil. „Ich habe extreme Ausdauer und stelle Fragen, die das Gegenüber oft nicht hören will“, sagt sie. Auch das Netzwerken zählt Graf zu ihren Stärken, dazu „Hausverstand“ und „Leidenschaft“.
Mit wenigen Ausnahmen agieren einfache Abgeordnete im Hintergrund. Die Bühne gehört den Regierungsmitgliedern und Klubobleuten. Und der Umstieg vom Parlament in die Regierung ist eine Seltenheit geworden, besonders in der ÖVP: Der aktuelle Bundeskanzler Karl Nehammer saß zwar zwei Jahre im Nationalrat, allerdings als verlässlicher ÖVP-Generalsekretär, nicht als schillernder Abgeordneter. Der Rest der ÖVP-Regierungsriege kennt das Parlament nur von der Regierungsbank aus (oder aus der kurzen Phase zwischen Wahl und Regierungsbildung). Die Ministerinnen und Minister wurden anderswo rekrutiert: Aus Managementfunktionen, Bundesländern, Universitäten und Wirtschaftsforschungsinstituten.
Hinter den Kulissen
Der Großteil der Arbeit im Parlament findet abseits der Öffentlichkeit in den Ausschüssen statt. 2023 verbrachten die Abgeordneten etwa 462 Stunden in den Ausschüssen – obwohl kaum zeitintensive U-Ausschüsse tagten. Kommt dieses schärfste Kontrollgremium des Parlaments hinzu, verdoppeln sich die Arbeitsstunden in Ausschüssen beinahe: 2022 waren es 857 Stunden. Diese Arbeit ist wenig sichtbar, aber wichtig, weil es eine gute Gelegenheit ist, die Ministerinnen und Minister zur Rede zu stellen. „Ich musste schon parlamentarische Reisen absagen, damit ich eineinhalb Stunden in den Kulturausschuss gehen kann“, sagt NEOS-Abgeordnete Brandstötter.
Bleibt dennoch genug Zeit für den Kontakt mit Bürgerinnen und Bürgern? Die befragten Abgeordneten finden zu 75 Prozent: auf jeden Fall beziehungsweise eher ja. Mit einer klassischen 40-Stunden-Woche ist das aber kaum vereinbar.
Bei Nationalratssitzungen nutzen die Abgeordneten ihre Zeit nicht nur dafür, den Kollegen am Rednerpult interessiert zuzuhören. „Es gibt natürlich Leute, die mich fragen, warum ich während dem Plenum nicht immer auf meinem Platz sitze“, sagt Nina Tomaselli, 39, von den Grünen: „Das ist aber nichts, das man versteckt halten muss. Das Parlament ist der Ort, an dem sich die 183 Abgeordneten besprechen und verhandeln – das passiert parallel zum Plenum. Und es ist ein Treffpunkt zwischen Abgeordneten, Beamtinnen und Beamten, Journalistinnen und Journalisten – und Besucherinnen und Besuchern.“
Ist man selbst am Wort, sollte man in der kurzen Redezeit möglichst schnell auf den Punkt kommen. Rhetorikschulungen helfen. Bei Tomasellis Parteikollegin und Generalsekretärin Olga Voglauer, 43, liegt die letzte mittlerweile ein Jahr zurück: „Man bespricht sich aber regelmäßig im Team, mit unseren Pressesprecherinnen und Pressesprechern, wie man die Botschaft so klar wie möglich rüberbringen kann.“
Trotz Trainings können rhetorische Patzer passieren, die einen Ordnungsruf nach sich ziehen. Nicht alle sind Ausrutscher, manche geschehen bewusst. Spitzenreiterin und Titelverteidigerin im Negativranking ist die FPÖ. 19 der 43 Rügen gingen im Vorjahr auf das Konto der Freiheitlichen. Ordnungsruf-Kaiser ist FPÖ-Chef Herbert Kickl, der etwa im November letzten Jahres Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer (SPÖ) als „fette dicke rote Spinne“ im Netzwerk von René Benko bezeichnet hatte. Der dafür ausgefasste Ordnungsruf stieß beim Tiroler FPÖ-Abgeordneten Peter Wurm auf Unverständnis: „Fette dicke rote Spinne darf ich nicht mehr sagen, oder was?!“
Den Vorwurf, dass Politiker nur viel (und derb) reden, aber nichts tun, weist Wurm zumindest für sich zurück: „Es ist viel Schreibtischarbeit. Vor Ausschusssitzungen verbringe ich Stunden damit, mich einzulesen, zusammenfassen und Notizen zu machen.“
Bei der Vorbereitung zu knausern, kann er nach über einem Jahrzehnt im Parlament nicht empfehlen: „Wenn man ein paar Jahre dabei ist, erkennt man schnell, welcher Abgeordnete kompetent sind, und wer eine heiße Luftblase ist.“
Das Hohe Haus leidet, wie der Rest der Parteiendemokratie, unter Imageproblemen. Daran sind auch jahrelange Diskreditierungen mitschuldig. Ex-FPÖ/ÖVP-Finanzminister Karl-Heinz Grasser ätzte über das Parlament als „Theater“, Ex-SPÖ-Bundeskanzler Gusenbauer suderte, dass Abgeordnete „nach 16 Uhr kaum bei der Arbeit anzutreffen sind“. Und die türkise ÖVP bemühte sich gar nicht, zu verbergen, dass sie mit dem Parlamentarismus fremdelte, und unkte über den Untersuchungsausschuss als „Löwinger-Bühne“.
Gefragt, ob die Bevölkerung die Tätigkeit der Abgeordneten wertschätzt, antworteten die Parlamentarier in der großen profil-Befragung zweigeteilt: 50 Prozent finden, dass das (eher) zutrifft, 47,5 Prozent finden: (eher) nein.
Man darf davon ausgehen, dass Nikolaus Scherak, 37, auch vor dem Jahr 2013 ein politikinteressierter Mensch war. Immerhin baute er die NEOS mit auf – neben den Grünen die einzige neue Partei, die sich im Parlament etabliert hat. Andere, wie Team Stronach oder BZÖ, kamen und gingen. Aber selbst Scherak hatte keine Ahnung, was genau auf ihn zukommen würde, ehe er am 29. Oktober 2013 als Abgeordneter angelobt wurde: „Man glaubt von außen, sie spielen Fußball. Dann kommt man rein und merkt: Es ist Eisstockschießen.“
Langes Zusammensitzen und Diskutieren mit anderen Klubs, ein Wettbewerb der besten Ideen? Theoretisch könnte das alles im Nationalrat stattfinden, aber Scherak findet: Das tut es nicht. Vor allem als Oppositionspolitiker darf man nicht die naive Hoffnung haben, sich mit Gesetzesinitiativen zu verwirklichen. „Meinem Kollegen Gerald Loacker ist einmal aufgefallen, dass in einem Gesetzestext für Warnhinweise auf Zigarettenpackungen die Schriftart Helvetika verlangt wurde – es muss aber Helvetica heißen.“ Nicht einmal der Abänderungsantrag, um das K zum C zu machen, wurde von den Klubs der Regierungsparteien angenommen. „Das war schon ein Aha-Erlebnis.“
Im Parlament kann man übrigens dann doch Fußball spielen, auch Scherak ist Mitglied des FC Nationalrat. Als Libero.
Das Leben aus dem Koffer
Als kleiner Klub muss man auf anderem Wege auf sich aufmerksam machen. Die eigenen Ideen über Medien verbreiten, parlamentarische Anfragen stellen, die Regierung kontrollieren. Beim Transparenzgesetz arbeiteten die NEOS im Hintergrund, verhandelten mit, hielten das Thema in der Öffentlichkeit. Scherak und sein Team haben zwar nicht zugestimmt, er ist aber überzeugt: Ohne NEOS würde das Gesetz anders aussehen.
Seine Parteikollegin Brandstötter hat sich einen Spezialbereich gesucht, der noch von keinem anderen Abgeordneten beackert wurde. „Entwicklungszusammenarbeit wird als Thema der SPÖ und den Grünen zugeschrieben.“ Also habe sie sich einen Aspekt herausgepickt, der sie besonders interessiere: die Restitution afrikanischer Raubkunst. „Ich habe das Thema aufs politische Parkett gebracht, und es ist wirklich etwas weitergegangen.“ Das Interesse an dem Kontinent hat sich herumgesprochen: Wenn eine Delegation aus einem afrikanischen Land kommt, wird Brandstötter angerufen, um mit ihnen zum Heurigen zu gehen, auch bei den sogenannten Freundschaftsgruppen ist Brandstötter engagiert. Reisen ins Ausland seien wichtig. „Ich will Abgeordnete im Parlament haben, die etwas von der Welt gesehen haben.“
Die vergleichsweise kleine österreichische Welt mit ihren neun Bundesländern ist im Nationalrat abgebildet. Dienstort ist Wien, das für manche Abgeordnete durchaus in der Ferne liegt. Wer durchschnittlich drei Stunden für die Reise in die Hauptstadt braucht, kann jährlich Fahrtkosten bis zu 25.437 Euro und 11 Cent beim Parlament abrechnen.
Anreisen kosten auch Zeit. „Ich verbringe jede Woche bis zu zehn Stunden im Zug oder im Auto, je nachdem, wo es hingeht, und bei Abendterminen geht es oft nicht anders“, sagt die Kärntnerin Voglauer. Die Zeit in Wien nutzen die Abgeordneten aus dem Westen „doppelt und dreifach“, sagt die Vorarlbergerin Tomaselli. Treffen mit Experten, Interviews und Hintergrundgespräche mit Medien, Verhandlungen im eigenen Klub oder über Parteigrenzen hinweg und klassische Büroarbeit sorgen für lange Tage in der Hauptstadt. „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal in meiner Wiener Wohnung gekocht habe“, sagt die 39-Jährige. Der Tiroler FPÖ-Abgeordnete Wurm nächtigt in der Hauptstadt im Hotel: „Ich könnte gar nicht einkaufen, geschweige denn eine Wohnung putzen. Das geht sich zeitlich nicht aus.“ Im Hotel könne er sich immerhin darauf verlassen, dass es Frühstück gibt. Die verstorbene grüne Abgeordnete Gabriela Moser hatte sogar ein Feldbett im Büro stehen. Tomaselli schläft in einer Privatwohnung, vor manchem U-Ausschuss-Tag oder beim Schreiben des Abschlussberichts nach eigenen Angaben aber auch nur zwei bis drei Stunden.
Wen die Repräsentanten repräsentieren
Noch immer ist das Parlament nicht so heterogen wie die Bevölkerung. Der durchschnittliche Abgeordnete ist männlich und 51 Jahre alt. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind im Nationalrat vor allem 40- bis 69-Jährige deutlich überrepräsentiert – ein Sitz im Parlament steht eher am Ende der beruflichen Karriere. In der Berufsliste des Nationalrats sind Freiberufler wie Anwälte und Notare mit 17 Abgeordneten deutlich überrepräsentiert, Landwirte, die rund 4,5 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, mit 15 Abgeordneten ebenso. Als Beamte und Beamtinnen bezeichnen sich 13 Abgeordnete. Der öffentliche Dienst ist für Politiker attraktiv, weil er nach Verlust des Amtes ein Rückkehrrecht garantiert.
Der Frauenanteil im Hohen Haus stieg in den vergangenen Jahrzehnten stark an: Von weniger als einem Zehntel 1983 auf beinahe 40 Prozent 2019. Die Gesellschaft spiegelt der Nationalrat damit noch lange nicht wider: 2024 waren 50,7 Prozent der Bevölkerung weiblich. Noch deutlicher ist die Schieflage beim Migrationshintergrund: Abgeordnete wie Muna Duzdar (SPÖ) oder Faika El-Nagashi (Grüne) sind die Ausnahme.
Wer mit Elisabeth Feichtinger, 37, spricht, muss sich auf eine gehörige Geräuschkulisse einstellen: Die resolute 37-Jährige kümmert sich um zwei Töchter, zwei Pflegetöchter, 10.000 Bienen, Zwergesel und Schwarznasenschafe. Wenn sie Entspannung braucht, wirft sie ihre Motorsäge an und schnitzt bis zu 2,5 Meter hohe Skulpturen.
So viel Energie ist nicht allen geheuer, weder in ihrer Partei noch in ihrer Gemeinde am Traunsee: 2015 eroberte sie die bürgerliche Gemeinde Altmünster und wurde Bürgermeisterin, 2021 verlor sie das Amt wieder an den ÖVP-Kandidaten und ist seither Vizebürgermeisterin. Und um ihr Nationalratsmandat musste sie vor drei Jahren inklusive Parteiausschlussdrohung mit einer Männerriege in Oberösterreich streiten, die den Platz im Parlament für einen Arbeiterbetriebsrat reklamierte. Feichtinger setzte sich durch und fährt seither zwei bis drei Mal pro Woche drei Stunden nach Wien und retour. Wer nach ihrer turbulenten politischen Biografie erwartet, dass sie hitzige Nationalratsdebatten als Höhepunkt ihrer Parlamentskarriere aufzählt – weit gefehlt: „Mein Highlight war, als wir überparteilich das Freiwilligen-Gesetz reformiert haben“, sagt Feichtinger: „Die Stützung des Ehrenamtes verbindet die Fraktionen, da gibt es wenig Diskrepanzen.“
Weit über ein Jahr hat Feichtinger, die als Landwirtschaftssprecherin ihrer Partei werkt, an der Novelle des Freiwilligen-Gesetzes gearbeitet – und preist seither die Stärkung des Ehrenamtes auf den vielen Veranstaltungen im Salzkammergut, die sie besucht: „Das ist für die Blaulichtorganisationen wichtig, für Vereine, für die Musik.“ Das mag Feichtinger an ihrer Arbeit im Parlament: „Den Alltag der Menschen zu verbessern.“ Was sie nicht mag: „Die anonymen Beschimpfungen und Hassnachrichten, das ist als Frau besonders arg.“
Der Politikjob kann hart sein, einige machen ihn deswegen nur auf Zeit. Der Großteil der Abgeordneten hat neben dem Abgeordnetengehalt von 10.351,39 Euro monatlich noch einen Zusatzerwerb. 50 der 183 Nationalratsabgeordneten haben jedenfalls für 2023 keine Nebeneinkünfte angegeben, 71 verdienen mehr als 4000 Euro im Monat nebenbei. Tanja Graf gehört mit einem Nebenverdienst zwischen 8000 und 12.000 Euro nicht zu den absoluten Spitzenverdienern, denn elf Abgeordnete verdienen monatlich mehr als 12.000 Euro zusätzlich.
Wie lassen sich Hohes Haus und der eigene Bauernhof vereinbaren? „Alleine würde sich das zeitlich nicht wirklich ausgehen“, sagt FPÖ-Abgeordneter Peter Schmiedlechner, 41, „aber ich habe das Glück, dass die Familie hinter dem Hof steht – und mein ältester Sohn bereits viele Aufgaben übernimmt.“
Der 41-jährige Niederösterreicher kam über die Landwirtschaft in die Politik: „Ich habe viele Missstände gesehen und wollte nicht nur jammern, sondern etwas verändern.“ Schmiedlechner engagierte sich in der Gemeinde und der Landwirtschaftskammer. Dass er einmal im Parlament landen würde, war nicht geplant, „das hat sich so ergeben“.
Ressourcenfrage
Um sich in die vielen, komplexen und sich ständig verändernden Themenbereiche der Politik einzuarbeiten, brauche es auch schlicht Erfahrung, sagt Wurm: „Die vielen Stunden Arbeit und Sitzungen wirken. Ein Fliesenleger ist nach einem Jahrzehnt auch besser als im ersten Lehrjahr.“ Gerade Quereinsteiger würden oft scheitern, sagt Wurm. Auf der anderen Seite würden langgediente Abgeordnete oft verunglimpft – „überwiegend zu Unrecht“, so Wurm, denn: „Mit Einsatz und fortschreitenden Dienstjahren wird die Arbeit mehr und nicht weniger.“
Politik sei wesentlich komplexer als Wirtschaft, sagt Andreas Ottenschläger, 49, der für die ÖVP im Nationalrat sitzt und im Zivilberuf Gesellschafter eines Bauträger-Unternehmens ist. Entscheidungsabläufe dauern länger, das ist nun einmal die Demokratie. Die Frustrationstoleranz nehme im Lauf der Jahre zu. „Man sollte aber nicht alles von sich abprallen lassen, das wäre auch nicht gut“, meint er.
Ottenschlägers Wirken betrifft jeden Bürger fast täglich und unmittelbar, denn als Verkehrssprecher verhandelte er die jüngste Novelle der Straßenverkehrsordnung vom Oktober 2022. Lang wurde unter den Regierungsparteien gerungen, etwa um die Regelung, dass Autofahrer 1,5 Meter Abstand beim Überholen eines Radfahrers einhalten müssen. Ottenschläger überzeugte die Grünen, dass der Seitenabstand geringer sein kann, wenn das Auto weniger als 30 km/h fährt. Man muss an die Praxis denken, sagt er. In Wiens engen Gassen wäre es nicht möglich, Radfahrer zu überholen.
Erfolgsmomente gibt es, intern und öffentlich: Wenn der Kanzler oder der Klubobmann ein Verhandlungsergebnis lobt; oder wenn das Kuratorium für Verkehrssicherheit festhält, das Anti-Raser-Paket der Regierung würde die Zahl der Verkehrstoten verringern.
Am Nationalrat lag es nicht, wenn heute die mangelnde öffentlichen Diskussion in der Covid-Zeit kritisiert wird, wie eine Auswertung des Politikwissenschaftlers Roland Schmidt zeigt: Zwischen dem ersten und letzten Lockdown von März 2020 bis Jänner 2022 wurden im Hohen Haus 6654 Reden gehalten. Öfter wurde in dieser Zeitspanne im Nationalrat noch nie diskutiert, zumindest seit 1994, als Reden erstmals einzeln erfasst wurden. Die aktuelle 27. Legislaturperiode sticht statistisch hervor, nicht nur, weil sie die vollen fünf Jahre dauerte: Einen Monat vor ihrem Ende steht sie laut Schmidts Auswertungen an zweiter Stelle der redenreichsten Perioden, und seit 1945 gab es noch nie derart regelmäßig Sitzungen im Hohen Haus.
Bei der Vorbereitung helfen Referenten und parlamentarische Mitarbeiter, jeder Abgeordnete bekommt dafür ein Budget. Ganz grundsätzlich: Haben Abgeordnete alles, was sie brauchen? „Es ist ein Henne-Ei-Problem“, sagt Scherak. „Wenn das Parlament als verlängerter Arm der Regierung genutzt wird, sind mehr Ressourcen redundant.“ Die ehemaligen Großparteien ÖVP und SPÖ würden sich auf Kammern und Ministerien verlassen und auf ihre Ressourcen zurückgreifen. Wenn aber das Parlament sich als selbstbewusstes Kontrollorgan sehen würde, das Minister überprüft, wären mehr Möglichkeiten sinnvoll. „Anders als im Deutschen Bundestag habe ich keine objektive Stelle, bei der ich ein Gutachten beantragen kann, ob ein Gesetz verfassungskonform ist.“ Der Rechts- und Legislativdienst arbeite zwar gut und verlässlich, aber nur der Nationalratspräsident dürfe ihn beauftragen.
Freundschaft über die Fraktionsgrenzen
In den letzten Jahren hat sich Österreichs Parlament stark verändert, nicht nur durch den Umbau des Hohen Hauses am Ring. Der Umgangston wurde schriller und hitziger. Die Corona-Krise habe auch die Parteien isoliert, sagt FPÖ-Abgeordneter Wurm: Die neue Generation an Politikerinnen und Politikern sei es weniger gewohnt, Gespräche in alle Richtungen zu führen – „und, ganz banal: Mit der Abschaffung des Raucherkammerls ist eine gemeinsame Plattform weggebrochen. Dort ist jeder auf jeden getroffen. Das war für Entscheidungsfindungen, kann ich aus erster Hand berichten, sehr hilfreich.“ Überhaupt habe es im alten Parlament vor dem Umbau mehr Möglichkeiten gegeben, fraktionsübergreifend, „amikal, auch einmal off-records“ Gespräche zu führen, sagt Wurm.
Damit die Abgeordneten einander wieder näherkommen, wurde vor drei Jahren die „Österreichische parlamentarische Gesellschaft“ (ÖPG) ins Leben gerufen. Einmal im Monat, am Abend vor einer Nationalratssitzung, können alle Abgeordneten am informellen Treffen im Palais Epstein neben dem Parlament teilnehmen – und zwar explizit nur Abgeordnete. Keine Mitarbeiter, keine Presse – das soll vertrauensvolle Gespräche ermöglichen.„Das ist ein zarter Versuch, das Miteinander im Parlament wieder zu beleben“, sagt FPÖ-Abgeordneter Wurm, der im Führungsgremium der ÖPG sitzt. Der Freiheitliche hegt auch sonst engere Bekanntschaften über die Parteigrenzen hinweg: „Aber in anderen Fraktionen werden Treffen mit einem Freiheitlichen weniger gern gesehen.“ Aus Schutz seiner Gesprächspartner schweigt Wurm lieber – und hofft, dass etwa durch Zusammenarbeit in U-Ausschüssen auch informelle Treffen normal werden. Zumindest in der kalten Jahreszeit bietet sich ein Fixtermin: das parteiübergreifende Weihnachtsfest, das es seit Kurzem gibt.
Vor der Adventfeier werden erst einmal die nächsten 183 Abgeordneten gewählt. Sie werden wahrscheinlich vor der neuen Regierung, wie immer diese aussehen wird, ihre Arbeit aufnehmen. Geplanter Termin für die konstituierende Sitzung und die Angelobung der Mandatare: 24. Oktober.
Gernot Bauer
ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.
Daniela Breščaković
ist seit April 2024 Innenpolitik-Redakteurin bei profil. War davor bei der „Kleinen Zeitung“.
Eva Linsinger
Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin
Max Miller
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und chattet für den Newsletter Ballhausplatz. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.