Nationalratswahl: 17 Jahre nach Schwarz-Blau
Am 12. November 1999 skandierten bis zu 70.000 Menschen auf dem Stephansplatz "Keine Koalition mit dem Rassismus!“. Doch das Undenkbare wurde Realität: Schwarz-Blau. Am 4. Februar 2000 schlich die neue Bundesregierung durch den Tunnel unter dem Ballhausplatz zur Angelobung in die Hofburg. Am 19. Februar demonstrierten 250.000 Menschen auf dem Heldenplatz gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ. "Die Schande Europas“, titelte profil damals auf dem Cover. EU-Staaten beschlossen Sanktionen gegen die österreichische Bundesregierung, und die wöchentlichen Donnerstagsdemos wurden zu einer fixen Einrichtung. Der Rest ist bekannt.
Heute stehen die Chancen der FPÖ auf einen Platz in der Regierung hoch wie nie. Protest auf EU-Ebene ist nicht zu erwarten, und das heimische Widerstandslager ist gespalten. Während die einen wieder auf die Straße drängen, üben sich andere in Pragmatismus. "Rot-Blau wäre weniger unappetitlich als Schwarz-Blau“, meint Robert Misik, der prononciert linke Publizist und Biograf von Bundeskanzler Christian Kern. Er war nach der Nationalratswahl 1999 einer der Hauptorganisatoren einer Demo auf dem Stephansplatz. Ohne die Organisationskraft der SPÖ und der Gewerkschaften wären die Proteste in dieser Dimension nicht möglich gewesen. Heute rüsten sich die Sozialdemokraten wieder - aber für Koalitionsverhandlungen mit der FPÖ, sollten andere Varianten scheitern. Unter der Führung des Kärntner Landeshauptmannes Peter Kaiser legt die Partei die Kriterien fest, die eine gesichtswahrende Zusammenarbeit mit den Freiheitlichen ermöglichen sollen. Auf eine klare Absage an die FPÖ für die Zeit nach der Wahl dürfen erbitterte Gegner von einst nicht mehr hoffen.
"Wir befinden uns in einer Situation, in der der Wind nicht links bläst, sondern von rechts kommt“, sagt Kaiser: "Die SPÖ konnte viele Träume für die Menschen verwirklichen, weil sie sich einer Regierungsverantwortung nicht entzogen, sondern sich zu ihr bekannt hat. Wenn wir jetzt ein Bollwerk um uns errichteten mit geringer Aussicht auf eine progressive Mehrheit, wäre das eine Flucht aus der Verantwortung. Der Abschied vom Dogma, Niemals mit der FPÖ‘ wird so manchem von uns wehtun, auch mir ein klein wenig, doch das ist Realismus.“ Dass es die SPÖ dabei zerreißt, glaubt Kaiser nicht: "Wenn man in Ruhe diskutiert, den Kriterienkatalog anwendet und den Koalitionspakt - mit welcher Partei auch immer - einer Urabstimmung oder einem Parteikonvent unterwirft, wird das zu einer gefestigten Situation führen.“
Die FPÖ hat offensichtlich an Schrecken verloren. Hört man sich unter SPÖ-Funktionären um, scheint eine Zusammenarbeit mit dem neuen ÖVP-Obmann Sebastian Kurz das größere Übel zu sein als eine Koalition mit Heinz-Christian Strache.
Die Wahlerfolge der FPÖ in den vergangenen Jahren haben dazu geführt, dass sich Rot wie Schwarz mit der neuen Macht arrangieren. Der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl preist Rot-Blau als Zukunftsmodell. In Oberösterreich nimmt die schwarz-blaue Normalität der SPÖ die letzte Luft zum Atmen. In Graz hat der bürgerliche Siegfried Nagl einen Pakt mit weit rechts stehenden Freiheitlichen geschlossen. In Linz lobt der sozialdemokratische Bürgermeister Klaus Luger die Zusammenarbeit mit ebenso rechten Hardlinern von der FPÖ bei der Verwaltungsreform. Mit der ÖVP sei dies nicht möglich gewesen. Auch in der Arbeiterkammer und in den Gewerkschaften pflegt man Kontakte mit FPÖ-Funktionären. Man lege Wert auf "eine gewisse Gesprächsebene, denn wenn sie an die Regierung kommen, braucht man einen Ansprechpartner für Arbeitnehmerinteressen“, heißt es.
Die Wiener SPÖ hat zwar auf ihrem jüngsten Parteitag ihr Njet zur FPÖ bekräftigt, doch an der Basis auf Bezirksebene sieht man das nicht so eng. In Bezirksparlamenten arbeitet man längst zusammen. Bisweilen scheinen die Grenzen zwischen SPÖ und FPÖ zu verschwimmen. Der blaue Bezirksvorsteher, Paul Stadler in Simmering, erzählt, er kämpfe gegen das Magistrat für eine türkische Familie, die wegen des behinderten Sohnes einen eigenen Parkplatz bräuchte. Alles Facetten, die den festen Widerstandsblock gegen die FPÖ seit 2000 aufweichten.
Selbst Wiens Bürgermeister Michael Häupl, vehementer Gegner einer rot-blauen Koalition, stellt eine Mitgliederbefragung nach der Wahl in Aussicht. Er selbst wäre, wie man weiß, dann ohnehin schon Privatier. Mitarbeit: Edith Meinhart
Lesen Sie in profil 22/2017: Wie beurteilen die Gegner von damals die Lage heute?