"Nazi!"-"Selber Nazi!": Über NS-Vergleiche
Dreieinhalb aktuelle Beispiele: Auf Twitter verglich die frühere Weltcup-Skiläuferin Nicola Werdenigg das griechische Flüchtlingslager Moria mit dem KZ Mauthausen-und entschuldigte sich nach großer Aufregung gleich mehrfach. In einer Vorstandssitzung des deutschen Fußballbunds verglich dessen Präsident Fritz Keller seinen Stellvertreter Rainer Koch mit Roland Freisler, dem Präsidenten des NS-Volksgerichtshofes-und musste zurücktreten. In einem profil-Interview verglich Neo-FPÖ-Obmann Herbert Kickl den Ausschluss nicht Corona-getesteter Schüler vom Präsenzunterricht mit Maßnahmen der NS-Behörden gegen jüdische Schüler-nachdem profil ihn mit einem Hinweis auf Goebbels provoziert hatte.
Nur ein paar Fälle aus den vergangenen Wochen, die belegen: Der Nazi-Vergleich ist und bleibt ein strapazierfähiges Mittel der politischen Auseinandersetzung. Denn: Er sichert öffentliche Aufmerksamkeit durch Mega-Übertreibung und den lauten Protest dagegen; ist vielseitig einsetzbar; funktioniert quer über alle Parteien und politische Milieus.
Der NS-Vergleich ist und bleibt aber auch ein problematisches Mittel: Er vergleicht Unvergleichbares; dämonisiert; relativiert den Massenmord; verhöhnt die Überlebenden.
In seiner klassischen Anwendung trifft er Rechtsaußen-Gruppierungen. Die Hemmungen, Herbert Kickl als "Goebbels" oder "Parodie von Goebbels" zu bezeichnen, sind gering. Der Vergleich fand sich neben profil auch in "Falter", "Kronen Zeitung" und "Standard". Kickl besitzt - wie der andere - die Gabe, im Schreien pointiert formulieren zu können. Allerdings ist der Rhetoriker Goebbels nicht vom NS-Verbrecher Goebbels zu trennen. Würde Kickl wegen übler Nachrede klagen, wäre er wahrscheinlich der Gewinner. Es sei denn, der Beklagte könnte die Richtigkeit des Vergleichs nachweisen oder das Gericht sähe ihn durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Die Chancen dafür sind eher klein. Der NEOS-Abgeordnete Johannes Margreiter wurde im September 2020 vom Landesgericht Innsbruck verurteilt. Die FPÖ hatte ihn geklagt, nachdem er sie auf Twitter als "Nazitruppe" bezeichnet hatte. 2016 nannte der Tiroler SPÖ-Chef Ingo Mayr den FPÖ-Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer auf Facebook einen "Nazi". Mayr entschuldigte sich, wurde dennoch geklagt und verurteilt. Derartige Schuldsprüche schlachtet die FPÖ dankbar aus.
Auch ohne Gerichte können die Freiheitlichen von einschlägigen Vorhalten profitieren. Das blaue Gegenmittel ist die Empörung. Im April 2019 konfrontierte "ZIB 2"-Moderator Armin Wolf FPÖ-Generalsekretär Harald Vilimsky mit einem rassistischen Cartoon der Freiheitlichen Jugend (junges hellhäutiges Pärchen, umzingelt von finsteren Gestalten) und ließ dazu eine ähnliche Zeichnung aus dem NS-Wochenblatt "Der Stürmer" einblenden. Vilimsky ging auf den Vorhalt nicht ein, sondern warf Wolf vor, die FPÖ pauschal mit Nazis zu vergleichen. Es folgte eine tagelange öffentliche Auseinandersetzung zwischen FPÖ und ORF, an deren Ende ein Resümee der "Neuen Zürcher Zeitung" stand: "Letztlich tat Wolf mit dem Nazi-Vergleich dem FPÖ-Generalsekretär einen Gefallen."
Ähnliches war im Jahr 2002 passiert. Nach einer scharfen Rede einer FPÖ-Mandatarin sagte der SPÖ-Abgeordnete Rudolf Edlinger: "Jetzt fehlt nur noch Sieg Heil." Was als sarkastische Bemerkung danebengegangen war, gab der FPÖ Gelegenheit, Edlinger NS-Wiederbetätigung vorzuwerfen. 2018 meinte Wiens SPÖ-Sozialstadtrat Peter Hacker, die von der Regierung geplante Erhebung des Migrationshintergrunds von Mindestsicherungsbeziehern sei eine Maßnahme, wie sie zuletzt "im Dritten Reich durchgeführt worden" sei.
So sehr sich Freiheitliche - ehrlich oder gespielt - über Nazi-Vergleiche empören, so gern setzen sie diese selbst ein. Vor dem Wiener Akademikerball FPÖ-naher Burschenschaften im Jänner 2015 kritisierte Heinz-Christian Strache via Twitter die angemeldeten Demonstrationen: "Am nächsten Freitag werden die Stiefeltruppen der SA (Sozialistische Antifa) wieder durch Wien marschieren." Tatsächlich ist "SA" nur die Abkürzung für die Sturmabteilung der NSDAP, nicht von Antifa-Organisationen. Die SPÖ nannte Straches Vergleich "geschmacklos".
Schon der Burschenschafter-Ball 2012 hatte eine Verfehlung des FPÖ-Obmanns gebracht. Auf dem Weg in die Hofburg waren Ballgäste von Demonstranten bedrängt worden. Strache verglich seine Schar daraufhin mit Nazi-Opfern: "Wir sind die neuen Juden." Auch Jörg Haider hatte für die "Ausgrenzung" der Freiheitlichen den Juden-Vergleich verwendet. Die Metapher ist ebenso jenseitig wie gebräuchlich. Die frühere ÖVP-Ministerin Maria Fekter verglich 2011 "die Hetze" gegen "Banken und Vermögende" mit der Judenverfolgung.
Während des nigerianischen Bürgerkrieges (1967-1970), dem sogenannten Biafra-Krieg, veröffentlichten große Magazine ("Life", "L'Express", "Stern") Fotos von "Biafra-Kindern" aus der Volksgruppe der Igbo mit dünnen Gliedmaßen und vor Hunger geblähten Bäuchen. Das Entsetzen war groß. Weltweit, auch in Israel, wurden Vergleiche zu den Bildern ausgemergelter KZ-Opfer gezogen. Die Igbo wurden als Juden Afrikas bezeichnet, Auschwitz und Biafra (A &B) verknüpft. Niemand nahm daran Anstoß. Der Nazi-Vergleich war damals noch "moralisch unverbraucht", wie es der Historiker Willibald Steinmetz von der Universität Bielefeld in einem Gespräch mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" formulierte.
Laut Steinmetz sind Nazi-Vergleiche seit den 1970er-Jahren politiktauglich. Im Jahr 2002 sagte Helmut Kohl über SPD-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, dieser sei "der schlimmste Präsident seit Hermann Göring". Alltagstauglich gemacht wurde der Nazi-Vergleich durch die 68er-Bewegung. Im Unterschied zu heute hatten es die Studenten damals tatsächlich noch mit ehemaligen Nazis an den Unis oder in der Politik zu tun. Der früheste Nazi-Vergleich findet sich vermutlich im "Spiegel". Im Jahr 1947 bezeichnete das Magazin den Sonderminister für Entnazifizierung in Bayern, Alfred Loritz, als "blonden Hitler".
"Mit zunehmender Länge einer Online-Diskussion nähert sich die Wahrscheinlichkeit für einen Vergleich mit den Nazis oder Hitler dem Wert eins an."
In Internet und sozialen Medien gilt, was der US-Autor Mike Godwin schon 1990 postulierte: "Mit zunehmender Länge einer Online-Diskussion nähert sich die Wahrscheinlichkeit für einen Vergleich mit den Nazis oder Hitler dem Wert eins an." Godwin's Law gilt umso mehr in der Pandemie, die unerschöpfliche Möglichkeiten für Geschmacklosigkeiten aller Art bot: Corona-Verordnungen wurden mit dem NS-Ermächtigungsgesetz von 1933 verglichen; Impfungen mit Sterilisierungen; behördliche Einschränkungen mit NS-Zwangsmaßnahmen. Auf Kundgebungen trugen Demonstranten gelbe Judensterne oder verglichen sich mit NS-Widerstandskämpfern. Von der "totalen Analogie" schrieb die "Süddeutsche Zeitung".
Auch Intellektuelle verloren ihr Gespür fürs Angemessene. Im Jänner schrieb Marlene Streeruwitz in einem Gastbeitrag im "Standard" in Zusammenhang mit geplanten Massentests: "Die Terminologie des Hygienestaats führt zum Verlust der Grundrechte. Vorübergehend, heißt es. Aber das war genau das, was die Nürnberger Rassengesetze erzielten: der Entzug der Bürgerrechte."
Die Pandemie ist fast vorbei, der Nazi-Vergleich wird weiterhin Anwendung finden. Schließlich hat Österreich nach Wolfgang Schüssel wieder einen ÖVP-Kanzler, der mit der FPÖ koalierte. Vor allem deutsche Satiriker kennen da kein Pardon. Jan Böhmermann zeigte Herbert Kickl in Nazi-Uniform. Das Frankfurter Magazin "Titanic" bezeichnete Kurz als "Baby-Hitler". Satire darf alles, auch den Gröfaz. Ösis, die in Deutschland unangenehm auffallen, erhalten dort zwangsläufig den Adi-Stempel, zum Beispiel Red-Bull-Chef Dietrich Mateschitz. Als sein Verein RB Leipzig 2015 bei Erzgebirge Aue antrat, zeigten die Fans der Heimmannschaft Plakate mit der Aufschrift: "Ein Österreicher ruft und ihr folgt blind - wo das endet, weiß jedes Kind - Ihr wärt gute Nazis gewesen."
Die abgeschwächte Form des Nazi-Vergleichs ist die Faschismus-Analogie. Im "Falter" wurde Sebastian Kurz als "Neofeschist" bezeichnet, in direkter Nachfolge des einstigen "Feschisten" Jörg Haider. "Fesch und Faschismus ergaben den Feschismus", sagte Falter-Herausgeber Armin Thurnher 2016 in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung". Auch an der Bezeichnung "First-Impf-Pimpf" für Kurz fand Thurnher Gefallen. Für die einen mag "Pimpf" scherzhaft "Bub" bedeuten, andere würden anmerken, dass "Pimpf" auch ein Dienstgrad in der Hitlerjugend und damit Bestandteil des Nazi-Vokabulars war. Nicht immer ist deutlich, ob NS-Analogien aus Absicht, Gedankenlosigkeit oder Unkenntnis verwendet werden. Als im heurigen Jänner drei Mädchen nach Georgien und Armenien abgeschoben wurden, sprachen und schrieben Kommentatoren - etwa der Kabarettist Dirk Stermann im ORF-von "Deportationen". Zeithistoriker verwenden den Begriff für den Massenmord an Wiener Juden, die ab 1941 vom Aspangbahnhof im 3. Bezirk in die Vernichtungslager im Osten deportiert wurden.
Wer Abschiebungen in Mitgliedstaaten des Europarats Deportationen nennt, hat vielleicht auch keine Bedenken, Flüchtlingslager in der EU als KZ zu bezeichnen. In den USA verglich die demokratische Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez 2019 die Lager für Migranten an der US-mexikanischen Grenze mit Konzentrationslagern - und löste damit eine scharfe Debatte aus. Das Holocaust Memorial Museum in Washington wies den Vergleich strikt zurück und mahnte, es würde noch viele Überlebende geben, für die der Holocaust nicht Historie, sondern Lebensgeschichte sei. Auf die Kritik des Museums reagierten prominente US-Wissenschafter mit einem offenen Brief, in dem sie argumentierten, es sei "ahistorisch", Analogien zum Holocaust zurückzuweisen. Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, werde dadurch unmöglich.
Im Mai 2018 erregte Michael Köhlmeier bei einer Gedenkveranstaltung des Parlaments für die Opfer des Nationalsozialismus die Gemüter. Als Gastredner thematisierte der Schriftsteller die Verbrechen des syrischen Assad-Regimes an der eigenen Bevölkerung und sagte mit offensichtlichem Bezug auf die restriktive Schweizer Flüchtlingspolitik während der Nazi-Zeit: Es habe auch "damals schon Menschen gegeben, auf der ganzen Welt, die sich damit brüsteten, Fluchtrouten geschlossen zu haben". Dass die FPÖ Köhlmeier daraufhin vorwarf, den Holocaust zu verharmlosen, war zu erwarten. Allerdings verstand auch der Bundeskanzler die Rede vorsätzlich falsch. Gegenüber der "Kronen Zeitung" sagte Sebastian Kurz, es sei "undifferenziert", "die Schließung der Flüchtlingsrouten auf dem Westbalkan mit den NS-Verbrechen gleichzusetzen". Genau dies hatte Köhlmeier eben nicht getan.
Auf den angeblichen Nazi-Vergleich des Schriftstellers reagierte Kurz also mit dem Vorwurf des Nazi-Vergleichs. Die Hyperinflation der braunen Analogien hat ein neues Phänomen mit sich gebracht: Nicht nur der NS-Vergleich ist ein Totschlagargument, sondern auch der Vorwurf des NS-Vergleichs. Der eine schwingt die Nazikeule, der andere die Nazikeule-Keule.
Analogien präzise herauszuarbeiten, wo es sie tatsächlich gibt, wird dadurch erschwert.
Ein Burschenschafter-Liederbuch, in dem die Waffen-SS besungen und über den Holocaust gespottet wird, kann straffrei als Nazi-Werk bezeichnet werden. Wer Maßnahmen einer Regierung mit Nazi-, SS- oder Gestapomethoden vergleicht, banalisiert das NS-System. Die chronische Reductio ad Hitlerum zeigt auch, wie geschichtsvergessen wir trotz aller Erinnerungskultur sein können. Je länger die Nazi-Zeit zurückliegt, desto leichter fallen die Vergleiche. Uns steht noch einiges bevor.
GERNOT BAUER In 20 Jahren beim profil vermied der Politik-Redakteur NS-Vergleiche. Vor zwei Wochen hielt er Herbert Kickl im Interview vor, eine Rede im Prater sei "ziemlich Goebbels" gewesen.