Neos in der Krise: Droht das Schicksal des Liberalen Forum?
Seit ihrer Gründung vor zehn Jahren wurden den NEOS viele Etikette verpasst – von neoliberal, über links, rechts, bürgerlich bis esoterisch. Sie in die Nähe des Kommunismus zu rücken, wäre dem kritischsten Geist nicht eingefallen. Umso markanter stach ein Detail in der Wählerstromanalyse zur Salzburg-Wahl heraus. Laut Sora-Institut wanderten rund 3000 Stimmen von den NEOS zu den Kommunisten. Die NEOS vereinten am Ende noch 11.300 oder 4,2 Prozent der Stimmen auf sich, während die Kommunisten mit 31.400 oder 11,7 Prozent die Sensation des Abends lieferten. Es war die erste krachende Wahlniederlage der NEOS seit ihrer Gründung. Besonders bitter: Selbst in der Stadt Salzburg blieben sie unter fünf Prozent, die Kommunisten erreichten 21,5 Prozent. Der Nimbus der NEOS als junge, urbane Stadtpartei: dahin.
Im Jahr 2018 kamen die Pinken erstmals in den Salzburger Landtag – und sofort auch in die Landesregierung. Doch der wilde Wählerwechsel von Pink zu Dunkelrot zeigt deutlich: Die Salzburger Wählerinnen und Wähler halten die NEOS für beliebig. Sie wissen nicht, wofür die Partei nun steht, nicht nur in Salzburg. Wissen es die Pinken selbst so genau?
2013 als frische und freche Antisystem-Partei im Bund angetreten, sind die NEOS heute angepasst und etabliert. Der Reiz des Neuen verblasst. Während pinke Protestwähler von einst sich neue Angebote wie den netten Salzburger Kommunisten von nebenan, Kay-Michael Dankl, suchen, schaffen es die NEOS nicht, stärker bei anderen Parteien wie der schwächelnden ÖVP zu wildern. Stimmen aus dem schwarzen Lager sind bereits ausgeschöpft.
Das liegt auch am politischen Fachkräftemangel in den Bundesländern – in Salzburg trat der bekannte Gastronom Sepp Schellhorn 2021 als Landeschef ab. Dass in Salzburg nie ein Netz an regionalen Ortsgruppen entstand, wird parteiintern auch ihm angelastet. Im Jahr 2022 vollzog der NEOS-Klubobmann im Landtag, Sepp Egger, einen fliegenden Wechsel zur Salzburger ÖVP. Ein Teil der Misere ist also hausgemacht.
Wofür stehen NEOS im Kern? Die esoterische Neigung hat die Partei mit dem Abgang ihres exzentrischen Parteigründers Matthias Strolz überwunden. Doch sonst blinken die Pinken je nach Thema oder Abgeordneten weiterhin links, rechts, wirtschaftsliberal, bürgerlich. Parteichefin Beate Meinl-Reisinger vollzog vor einigen Monaten einen Positionswechsel und forciert einen schärferen Kurs bei Migration und Integration. Ihre Parteikollegin Stephanie Krisper klingt im Vergleich dazu wie eine Grüne. Uneinig waren sich die NEOS auch in der Beurteilung der Corona-Impfpflicht. Bei der Abstimmung im Nationalrat im Jänner 2022 waren vier von 15 Abgeordneten dagegen.
Partei der Mitte ohne Kern
In Deutschland verfügt die FDP über einen historisch gewachsenen Kern: den Wirtschaftsliberalismus. Matthias Strolz gründete die NEOS bewusst nicht nach Vorbild der FDP, weil er das liberale Etikett als zu limitierend empfand. Die NEOS sollten in der Mitte positioniert eine „postmoderne“ Alternative zu ÖVP oder FPÖ darstellen. Für den liberalen Anstrich sorgten die Fusion mit den Restbeständen des Liberalen Forums (LIF) und die ideologiefesten Jungen NEOS (JUNOS).
Ohne harten Ideologiekern setzten die NEOS auf weichere Themen wie Bildung, Transparenz, Steuersenkung und die Ablehnung des Kammer-Staates. Doch wer ist nicht für gute Bildung und gegen Korruption? Für weniger Steuern und mehr Netto vom Brutto? Die NEOS sind gefühlt für alle und niemanden da, weil liberalala. Ein echtes Alleinstellungsmerkmal ist nur die pinke Kritik an der immerwährenden Neutralität.
Das Liberale Forum wurde 1993 von Heide Schmidt gegründet und flog nur sechs Jahre später wieder aus dem Parlament. Die Partei scheiterte unter anderem daran, dass sie von bürgerlichen Wählern als zu links wahrgenommen wurde. Das lag an ihrem gefühlt starken Fokus auf Homosexuellen-Rechten und die Trennung von Kirche und Staat, wodurch bürgerliche Wähler verschreckt wurden. Linke Wähler blieben jedoch weiterhin SPÖ oder Grünen treu. Auch die fehlende Verankerung des Liberalen Forums in den Bundesländern besiegelte sein Schicksal. Ein Menetekel, das seit Salzburg und Kärnten über den NEOS schwebt.
Nun steigt der Druck auf NEOS-Chefin Beate Meinl, ihrer Partei bis zur Nationalratswahl 2024 ein kantigeres Profil zu verpassen. Meinl-Reisinger deckt mit ihrer energischen Oppositionspolitik Baustellen zu. In einem polarisierten Wahlkampf zwischen FPÖ, ÖVP und SPÖ könnten die NEOS jedoch zerrieben werden. Mit dem möglichen Antreten der Bierpartei oder der KPÖ plus droht zudem frische Konkurrenz. In einer derartigen Zwickmühle könnten sich die Grünen mit dem Klimaschutz womöglich leichter behaupten als die NEOS mit einem thematischen und ideologischen Bauchladen.
Als Chefin ist Meinl-Reisinger fest verankert. Allerdings wünschen sich manche im NEOS-Vorfeld und in pinken Unternehmerkreisen ein stärkeres wirtschaftspolitisches Profil. So wurde – sehr theoretisch – darüber nachgedacht, Veit Dengler als Herausforderer von Meinl-Reisinger zu positionieren. Der Medienmanager war einer der NEOS-Gründer und gab nach der Salzburg-Wahl in ORF und „Kronen Zeitung“ den aktivsten Analysten des pinken Debakels, etwa mit dem Befund: „Wirtschaftspolitisch ist ein Vakuum entstanden. Dort könnte NEOS punkten.“
Parteichefin Meinl-Reisinger wiederum gibt sich betont gelassen: „Wenn mir jemand vor zehn Jahren prophezeit hätte, dass wir einmal konstant bei zehn Prozent in Umfragen liegen, ich hätte eine Flasche Champagner geköpft.“ Das sagte sie bereits nach der Wahl in Kärnten im März, bei der die NEOS den Einzug in den Landtag mit 2,6 Prozent meilenweit verpasst hatten.
Tatsächlich halten sich NEOS in der profil-Umfrage seit Jahren konstant zwischen neun und zwölf Prozent. Aktuell liegen sie bundesweit bei zehn Prozent. In einem Land wie Österreich ohne liberale Tradition hat sich die Partei im Bund eine vergleichsweise junge und treue Wählerschaft aufgebaut, ein Erfolg auch im Europa-Maßstab (siehe Grafik). Andere liberale Neugründungen wie Ciudadanos in Spanien, die 2015 auf Anhieb 14 Prozent holten, grundeln heute bei zwei Prozent herum.
Auflösungsprozesse
Sind die NEOS eine im Parteienspektrum längst etablierte Marke, bloß mit Anlaufschwierigkeiten in ein paar Bundesländern, wie Meinl-Reisinger suggeriert?
Diese Erzählung hat einen Haken. Bei Nationalratswahlen braucht Beate Meinl-Reisinger Mitstreiter in den Bundesländern, die für die Partei laufen.
Aber sowohl die Landesparteien in Salzburg wie auch in Kärnten gleichen einem Trümmerhaufen. Oder „Sauhaufen“, wie der Chef der Salzburger JUNOS, Moritz Rettenbacher, in den „Salzburger Nachrichten“ sagte und damit die ältere Generation des NEOS-Landesteams meinte. Dieses trat vergangenen Dienstag mit Parteichefin Andrea Klambauer geschlossen zurück. Die Nachfolge soll erst im Herbst besiegelt werden, nach Monaten der internen Aufarbeitung. „Feedback-Prozess“ nennt sich das im NEOS-Sprech. Nach dem Verlust des Klubstatus fehlen für den Neustart Hunderttausende Euro.
In Kärnten wurde der glücklose Parteichef Janos Juvan zwar verlängert. Doch einige dauerkritische Mitglieder wurden wegen „parteischädigenden“ Verhaltens aus der Partei ausgeschlossen. Ein Teil wechselte zur FPÖ. Regionalgruppen lösten sich auf.
Das Beispiel Kärnten zeigt, wie zäh es ist, das pinke Projekt auch in den Bundesländern auszurollen – selbst mit einer kräftigen Finanzspritze der Bundespartei. Mit 300.000 Euro pumpte sie drei Mal so viel Geld in den Kärntner Wahlkampf wie fünf Jahre zuvor und entsandte zudem eine eigene Wahlkampfleiterin aus Wien. Dennoch erreichten NEOS in Kärnten mit 2,6 Prozent nur ein mageres Plus von 0,5 Prozentpunkten.
„Geld gewinnt keine Wahlen“, sagt Juvan selbstkritisch und sieht die Notwendigkeit, das Profil der Partei weiter zu schärfen. „Ich ging vor der Wahl von einem Sockel an Stammwählern von zwei Prozent aus. Der existierte aber gar nicht.“ Es waren Protestwähler, die sich dieses Mal ein anderes Ventil für ihren Frust suchten.
Wiener Bildungslücke
Besser verankert sind die NEOS in Niederösterreich – dort konnte die Partei bei der Wahl im Jänner 2023 von fünf auf 6,7 Prozent zulegen – und in Wien. Die Bundeshauptstadt samt dem niederösterreichischen Speckgürtel war bereits zu LIF-Zeiten ein dankbares Pflaster für eine liberale Partei, die vom gutbürgerlichen Akademikermilieu getragen wird.
Doch auch in Wien läuft es für den pinken Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr alles andere als rund. Im Jahr 2020 schafften es die NEOS im zweiten Bundesland nach Salzburg in eine Regierung. An der Seite der SPÖ wollten die Pinken zeigen, was sie in ihren erklärten Schlüsselthemen können. Wiederkehr wurde Stadtrat für Bildung, Integration und Transparenz. Und er scheint sich damit gehörig übernommen zu haben.
Mittlerweile ist er mehr Troubleshooter als Shootingstar. Nach über zehn Jahren Rekordzuwanderung in die Stadt platzten nicht nur die Einwanderungsbehörde, sondern auch die Kindergärten und Schulen in den Migrantenvierteln aus allen Nähten. Diese Megabaustellen überließ die SPÖ dem engagierten Juniorpartner, der sich seither mit Förderskandalen wie im Kindergarten Minibambini, der völlig überlasteten Einwanderungsbehörde MA 35 und dem grassierenden Pädagogenmangel herumschlägt. Die Pflichtschullehrer der Stadt fordern mittlerweile im Wochentakt per offenem Brief einen Runden Tisch, weil sie das Wiener Schulsystem kurz vor dem Kollaps sehen.
Diese Probleme überschatten die pinken Erfolge. Wiederkehr verschob Mittel zu „Brennpunktschulen“, damit Kinder in Zuwanderungsbezirken den Anschluss nicht komplett verlieren. Er nennt es „Chancen-Index“. Er managte die Unterbringung von fast 5000 ukrainischen Schülern ohne größere Probleme. Bei der Transparenz setzten die Wiener NEOS durch, dass bereits ein Viertel der Abgeordneten im Gemeinderat eine Untersuchungskommission einsetzen kann.
All das lässt sich ungleich schwerer verkaufen als die Leuchtturmprojekte der Grünen aus ihrer Zeit in der Wiener Stadtregierung – vom 365-Euro-Ticket bis zur Begegnungszone Mariahilfer Straße. Außerdem bleiben die NEOS ihr Versprechen bisher schuldig, die Inseratenvergabe an den Boulevard neu zu regeln.
Dazu kommt: Wiederkehr ist kein Marktschreier. Konflikte mit der SPÖ trägt er lieber intern aus. Seine „brave“ Art macht aber die Parteikollegen zunehmend unrund. Denn wenn Meinl-Reisinger bei Wahlduellen mit dem pinken Bildungsprogramm wirbt, werden die Konkurrenten auf die Zustände an Wiener Schulen zeigen. Der Verweis auf einen sperrig anmutenden „Chancen-Index“ könnte dann zu wenig sein für einen Konter. NEOS laufen in Wien Gefahr, ihr Image als Bildungspartei zu verspielen. So sehr kann sich Wiederkehr gar nicht ins Zeug legen.
Und so hadern die Pinken mit dem eigenen Marketing. Wie Wiederkehr sei Andrea Klambauer in Salzburg „zu höflich“ gewesen, um ihre Politik zu vermarkten, wird intern analysiert. Umso besser funktioniert das Branding durch andere. So leiden die NEOS darunter, immer wieder als Mitglied einer „linken Ampelkoalition“ mit SPÖ und Grünen nach der nächsten Wahl genannt zu werden.
Hält der offizielle Wahlkalender, ist die EU-Wahl 2024 die nächste Bewährungsprobe. Die Abgeordnete zum EU-Parlament Claudia Gamon wechselt zurück nach Vorarlberg, wo sie die pinke Landesgruppe übernahm. Spitzenkandidat könnte der derzeitige Nationalratsabgeordnete Helmut Brandstätter werden.
Angesichts der Misere in Salzburg trösten sich die NEOS mit kleinen Erfolgen, etwa in Niederösterreich. Die dortige Landespartei hätte seit der Bildung der umstrittenen ÖVP-FPÖ-Koalition 50 neue Mitglieder gewonnen.