Neos wiederholen Manöver der FDP aus 2017: Meinl-Reisinger macht den Lindner
„Aber am heutigen Tag wurde keine Bewegung, keine neue Bewegung, keine weitere Bewegung, erreicht, sondern es wurden Rückschritte gemacht, weil auch erzielte Kompromisslinien noch einmal in Frage gestellt worden sind.“ Der Satz könnte von Beate Meinl-Reisinger stammen, die am Freitagvormittag mit ganz ähnlichen Worten den Ausstieg der Neos aus den Regierungsverhandlungen begründete. Doch tatsächlich handelt es sich um ein Zitat von Meinl-Reisingers deutschem Parteifreund Christian Lindner, dem Chef der FDP. Lindner brach mit diesen Worten am 19. November 2017 die Sondierungsgespräche mit den Unionsparteien CDU und CSU sowie den Grünen ab. Die geplante „Jamaika-Koalition“ aus Schwarz, Gelb und Grün war damit Geschichte. Ein Monat zuvor hatte er noch den Neos mit einem Wien-Besuch Schützenhilfe im Finale des österreichischen Nationalratswahlkampf geleistet.
Lindner versuchte damals, den Ausstieg als Akt politischer Verantwortung darzustellen. Seine Rechtfertigung: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Meinl-Reisinger argumentiert jetzt ähnlich, wenn sie den Vorwurf erhebt, es habe in den Verhandlungen keine Bereitschaft gegeben, „über den nächsten Wahltag hinaus“ zu denken.
„Einigung war zum Greifen nah“
Doch die zurückgelassenen Parteien widersprachen Lindner umgehend. Die damalige CDU-Vorsitzende Angela Merkel äußerte sich als geschäftsführende Bundeskanzlerin eher zurückhaltend und „bedauerte“ den Schritt der FDP. Horst Seehofer, zu diesem Zeitpunkt CSU-Chef, wurde deutlicher und behauptete, eine Einigung sei „zum Greifen nah“ gewesen. Cem Özdemir, 2017 Parteichef der Grünen, kritisierte, dass die FDP die angedachte Dreier-Koalition „leider abgelehnt und zunichte gemacht“ habe. Und sein Parteifreund Jürgen Trittin merkte sauer an: „Wir standen schockiert und entsetzt vorm Bildschirm.“
Damit waren alle Augen auf Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gerichtet. Der hatte die schwierige Aufgabe, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, obwohl es so aussah, als sei mit dem Platzen der Jamaika-Gespräche die einzig mögliche Regierungs-Konstellation den Bach runter gegangen. Denn die SPD hatte sich gleich nach der Wahl aufgrund ihrer Niederlage festgelegt, keine große Koalition mehr eingehen zu wollen. Darauf beharrte die SPD auch nach dem Aus der Jamaika-Gespräche: „Die Ausgangslage für die SPD hat sich nicht verändert. Wir haben kein Mandat für eine erneute große Koalition.“, sagte Parteivize Stegner.
Der zweite Absprung der FDP
Bundespräsident Steinmeier hielt bereits am Tag nach dem Jamaika-Eklat an seinem Amtssitz im Schloss Bellevue eine Rede, in der er allen Parteien sehr deutlich machte, was er von ihnen erwartete: „Ich erwarte von allen Gesprächsbereitschaft, um eine Regierungsbildung in absehbarer Zeit möglich zu machen. Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält.“ Hauptadressat dieser Aufforderung war natürlich die SPD. Die besann sich schließlich ihrer Rolle als staatstragende Partei, trat in Verhandlungen mit den Unionsparteien ein, und am 7. Februar 2018, 79 Tage nach dem Scheitern von Jamaika, einigten sich CDU/CSU und SPD auf einen Koalitionsvertrag.
FDP-Chef Christian Lindner bemühte sich noch einmal, sich und seine Partei als verantwortungsvolle Kraft zu positionieren. Er bot der Union an, eine Minderheitsregierung zu unterstützen, falls die Große Koalition scheitern sollte. „Wir sind eine konstruktive und staatstragende Partei“, sagte er in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Focus“. Doch die Große Koalition hielt bis 2021.
Erst nach der Bundestagswahl 2021 bekam die FDP – nach einem minimalen Zugewinn von 0,7 Prozentpunkten – erneut eine Chance, in eine Regierung einzutreten. Sie verhandelte diesmal mit SPD und Grünen, und es gelang: die Ampel war geboren. Deren Geschichte ist bekannt.