Experten nach vorne treten! Die neue Regierung von Kanzlerin Brigitte Bierlein*

Neue Regierung: Hauptsache keine Politiker?

Kaum eine Regierung wurde mit so viel Wohlwollen empfangen wie das Übergangskabinett, sie surft auf einer merkwürdigen Sehnsucht nach Experten. Die Erwartungen sind hoch – möglicherweise zu hoch.

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Der erste gemeinsame Auftritt geriet kurz und schnörkellos. Am Mittwoch, 8 Uhr morgens, traf sich die neue Übergangsregierung zu ihrem ersten Ministerrat – ohne Verkündigungen, Pressefoyers oder ähnlichen Auftritten für die Medien. Ein Foto, ein Schwenk mit Fernsehkameras, einige belanglose Wortspenden wie „die Stimmung war ausgezeichnet“, aus. So bar jeder Inszenierung kann eine Regierungssitzung ablaufen, wenn statt geschulten Politikern Beamte in Ministerämtern sitzen – reichlich ungewohnt nach eineinhalb Jahren der dauergehämmerten Message-Control-Botschaften.

Woher kommt die Sehnsucht nach Experten?

Diese neue Zurückhaltung scheint gut anzukommen, genau wie die feinziselierten ersten Signale von Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein. „Dienen“, „Vertrauen“ und „Einigkeit“, das waren die Schlüsselwörter, die sie in ihrer ersten, nur wenige Minuten dauernden, Ansprache betonte. Es wirkt fast, als hätten sich viele nach derart leisen, unaufgeregten Tönen gesehnt. Ein seltsames Aufatmen geht durch das Land, nach dem Rausch der Ibiza-Aufgeregtheit besticht Nüchternheit. Kaum eine Regierung wurde mit derart viel Wohlwollen empfangen wie die am vergangenen Montag angelobte Übergangsregierung, kaum jemand bekam so viel Vorschussvertrauen wie die Spitzenbeamten und Höchstrichter, die nun in Ministerämter aufstiegen.

Auch in der profil-Umfrage ist die Zustimmung zu Bundeskanzlerin Bierlein hoch, die Mehrheit hält sie für eine „gute Wahl“.

Woher kommt bloß diese merkwürdige Sehnsucht nach Experten an der Regierungsspitze? Warum wird ihnen mehr zugetraut als Politikern? Ein Teil der Antwort ist einfach, sagt Politikforscher Peter Filzmaier: „Eben weil es sich nicht um Politiker handelt.“ Das Ansehen von Politikern grundelt in Österreich seit Jahren im Keller, nur Waffenhändler oder Zuhälter rangieren dahinter. Das gruselige Sittenbild im Ibiza-Video hat das ohnehin vorhandene Vorurteil „lauter Gauner“ bestärkt. Hauptsache, keine Politiker – frei nach dem Motto wird Ex-Richterinnen wie Bierlein und Clemens Jabloner oder honorigen Sektionschefinnen wie Elisabeth Udolf-Strobl zugestanden, das Richtige zu tun.

Unpolitische Politik existiert nicht

Bloß: So einfach und schwarz-weiß funktioniert Politik selten. Was „richtig“ oder „falsch“ ist, kann nur in Ausnahmefällen eindeutig beantwortet werden. Welche Steuern dringend notwendig und welche zu hoch sind, ob Rauchverbote in Parks die Gesundheit fördern oder die Freiheit einschränken, ob eine europäische Armee ein positiver Schritt zu mehr EU oder eine Gefährdung der Eigenständigkeit ist, ob mehr Zahlungen für Familien oder mehr Kindergartenplätze die bessere Lösung sind – Patentrezepte dafür gibt es kaum, objektivierbar richtige Antworten auch nicht. Die Einstellung zu diesen komplexen Fragestellungen hängt auch von der politischen Prägung ab. Kurz: Unpolitische Politik existiert nicht.

Die Übergangsregierung soll, so Auftrag und Vorsatz, wenig Politik machen, verwalten statt gestalten. Wie das funktioniert und was „verwalten“ umfasst, ist Neuland und wird in den Monaten bis zur Bildung einer neuen Regierung hitzig debattiert werden: Müssen die neuen Ministerinnen und Minister Schwerpunkte setzen? Oder alle Entscheidungen an das Parlament delegieren? Kann etwa der neue Innenminister Wolfgang Peschorn nach dem Polizeiprügelvideo nur verwalten – oder muss er handeln? Ist jede Handlung dann Politik und Gestaltung – oder Verwaltung?

Neue Minister, alte Bekannte

Gewiss ist: Frei von Weltanschauung, Ideologie und politischer Prägung sind die neuen Regierungsmitglieder nicht, anders sind Karrieren in der Hochbürokratie hierzulande kaum möglich. Der neue Infrastrukturminister Andreas Reichhardt etwa ist schlagender Burschenschafter und hat eine Wehrsportvergangenheit mit Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache. Bierlein machte ihre Karriereschritte im Verfassungsgerichtshof unter ÖVP-FPÖ-Regierungen. Der neue Finanzminister Eduard Müller war unter Maria Fekter in die Privatwirtschaft geflüchtet und unter Hans-Jörg Schelling (beide ÖVP) wieder zurückgekehrt. Die neue Sozialministerin Brigitte Zarfl stieg unter SPÖ-Ministern im Amt auf. Der neue Außen- und Europaminister Alexander Schallenberg war Pressesprecher von ÖVP-Außenministern und wechselte mit Sebastian Kurz ins Außenamt.

Sie und all ihre neuen Regierungskolleginnen und Kollegen sind außerordentlich qualifiziert und verfügen über jahrelange Ministeriumserfahrung. Zusatzaspekt für Fans formaler Bildung: Die Übergangsregierung ist die erste, in der alle über akademische Grade verfügen – während in der gescheiterten ÖVP-FPÖ-Regierung von Sebastian Kurz nur eine Minderheit eine Universität länger von innen gesehen hat. Mit den neuen Ministern kommen alte Bekannte: Der langjährige Sektionschef im Kanzleramt, Manfred Matzka, wurde als persönlicher Berater von Kanzlerin Bierlein geholt. Er zog vergangenen Mittwoch in das Büro von Kurz-Intimus Gerald Fleischmann ein.

"Bei Experten fühlt man sich noch halbwegs sicher“

Bierlein wird nachgesagt, dass ihr Frauenförderung ein Anliegen und althergebrachtes Proporzdenken entlang parteipolitischer Grenzen ein Gräuel ist. Mit der soigniert-resoluten Kanzlerin und ihrem Team kann im Bestfall ein Teil des Vertrauens in Amtsträger, das durch den Ibiza-Skandal verlustig ging, wiederhergestellt werden.

Bei aller Sympathie, die der ersten Bundeskanzlerin und ihrem Kabinett entgegenschwappt – ein gewisser Schönheitsfehler ist der Übergangsregierung nicht abzusprechen: „Die demokratische Legitimation für die Regierung fehlt, das ist demokratiepolitisch ein Thema“, analysiert Oliver Rathkolb, Institutsvorstand für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Zusatz: „Die Expertenregierung sucht die von Medien geschürte Erwartung an sie herunterzuschrauben.“

Die hohe Erwartungshaltung erklärt Rathkolb auch mit einer ausgeprägten Zustimmung zu autoritären Systemen, die laut seinen Forschungen seit zehn Jahren ansteigt: Mit 23 Prozent wünscht sich fast ein Viertel der Bevölkerung einen starken Führer ohne Rücksicht auf Wahlen und Parlamente. Das ist beileibe kein österreichisches Phänomen, sondern quer durch die westliche Welt ablesbar. Rathkolb erklärt es so: „Die immensen Änderungen binnen einer Generation überfordern alle, die Verunsicherung steigt, die Gestaltungsspielräume von Politik sinken. Bei Experten fühlt man sich noch halbwegs sicher.“

Volkssport Politikerbeschimpfung

Politikerbeschimpfung hingegen ist ein Volkssport, „zu blöd, zu feig, ahnungslos“ nannte sie einst Erste-Bank-Chef Andreas Treichl. Nicht nur er urgiert Erfahrung und Sachwissen, ganz so, als wäre Politik kein hochkomplexer Beruf, dessen schwierige Funktionsweisen man mühsam lernen muss – und zwar unter dauernder Beobachtung der Öffentlichkeit. Nicht ohne Grund beklagen alle, die von der Wirtschaft in die Politik wechselten, die schwierige Entscheidungsfindung in der Politik: Kompromisse suchen, unterschiedliche Interessenslagen berücksichtigen, Länderwünsche ebenso, Menschen überzeugen und so weiter. Fachwissen schadet dabei gewiss nicht, ist als alleiniges Kriterium aber zu wenig – wie viele Beispiele kläglich gescheiterter Experten zeigen. Mehrere Gesundheitsminister waren Mediziner – Ingrid Leodolter, Michael Ausserwinkler, Andrea Kdolsky, Sabine Oberhauser, Pamela Rendi-Wagner – allesamt keine politischen Erfolgsstorys. Oder: Hans Tuppy war Biochemiker und als Rektor der Uni Wien einer jener Experten, nach denen oft gerufen wird – als Wissenschaftsminister versagte er.

Sie amtierten allerdings in „normalen“ Regierungen. Für die jetzige Expertenregierung gelten andere Spielregeln – jene des Ausnahmezustands.

*Die neue Regierung:

Andreas Reichhardt, Minister für Verkehr, Innovation und Technologie Brigitte Zarfl, Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumenten Maria Patek, Ministerin für Nachhaltigkeit und Tourismus Clemens Jabloner, Vizekanzler und Minister für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz Brigitte Bierlein, Bundeskanzlerin Alexander Van der Bellen, Bundespräsident Elisabeth Udolf-Strobl, Ministerin für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort Eduard Müller, Finanzminister Iris Eliisa Rauskala, Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Forschung Thomas Starlinger, Minister für Landesverteidigung Wolfgang Peschorn, Minister für Inneres Alexander Schallenberg, Minister für Europa, Integration und Äußeres Ines Stilling, Ministerin für Frauen, Familien und Jugend (v. li.)

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin