Was ist eigentlich das Neue an der neuen Volkspartei von Sebastian Kurz?
Im Linzer Design Center wird diesen Samstag, den 1. Juli, auch inhaltlich gearbeitet werden. Am Vormittag - von zehn bis zwölf Uhr - erörtern die Delegierten des ÖVP-Bundesparteitags in Workshops aktuelle politische Themen. Zu Mittag treten die schwarzen Landesgruppen zusammen. Danach beginnt der offizielle Teil des Konvents. Natürlich wird des verstorbenen Ehrenobmanns Alois Mock gedacht, dann folgt die Danksagung an den abgehenden Chef Reinhold Mitterlehner und - endlich - der Höhepunkt: die Rede des 17. ÖVP-Bundesparteiobmanns, anschließend die Wahl, die Sebastian Kurz ein Ergebnis von 100 Prozent oder knapp darunter bringen wird. Mit Standing Ovations ist zu rechnen.
Keine Frage, die ÖVP steckt mitten in einem Sommerhoch: Wären nächsten Sonntag Wahlen, käme sie mit 32 Prozent auf den ersten Platz, dahinter mit Respektabstand die SPÖ (28 Prozent). Die FPÖ ist mit 25 Prozent derzeit deutlich abgeschlagen. Auch im direkten Duell liegt Kurz vor dem SPÖ-Vorsitzenden Christian Kern. Könnten sie ihren Kanzler direkt wählen, würden 35 Prozent der Österreicher den ÖVP-Obmann vorziehen, 32 Prozent den amtierenden Regierungschef (siehe Seite 13).
In ihren eigenen, regelmäßig erhobenen Umfragen liegt die ÖVP derzeit sogar bei bis zu 35 Prozent. In der Funktionärsschaft herrscht Zuversicht, dass die "Liste Sebastian Kurz - die neue Volkspartei" die Nationalratswahl am 15. Oktober gewinnen wird. Die Überlegung dahinter: Hält Kurz seine guten Werte bis Mitte Juli, ist das Rennen fast gelaufen. Denn über den Hochsommer bleiben Umfragewerte immer stabil, und nach den Ferien wäre die Zeit für eine rote Aufholjagd schon ziemlich knapp, zumal sich Kurz bisher kaum Fehler erlaubte und bestens präpariert in den Wahlkampf ziehen wird.
In einem solchen die eigene Partei und deren Insignien zu ignorieren, konnten sich bisher nur mächtige ÖVP-Landeshauptmänner leisten. Auf den Plakaten von Niederösterreichs Erwin Pröll war zuletzt nicht einmal mehr ein ÖVP-Logo zu sehen gewesen. Prölls Parteifreund in Linz kandidierte bei der Landtagswahl 2009 als "Oberösterreichische Volkspartei - Liste Landeshauptmann Dr. Josef Pühringer" und 2015 leicht modifiziert als "Liste Landeshauptmann Dr. Josef Pühringer - ÖVP". So gesehen ist "Liste Sebastian Kurz - die neue Volkspartei" keine echte Innovation.
WAS IST NEU AN DER "NEUEN VOLKSPARTEI"?
Das Neueste an der ÖVP des Sebastian Kurz sind - abgesehen von der neuen Parteifarbe Türkis - zunächst die Neuwahlen. Mit der Absage an die Große Koalition spielte der neue Bundesparteiobmann "all in". So hoch sind mittlerweile die Erwartungen an Kurz, dass alles andere als der erste Platz als Niederlage gewertet würde. Die Wahl würde zwar vom Spitzenkandidaten gewonnen; ob danach wirklich etwas Neues entsteht, hängt freilich von den Human Resources der ÖVP ab.
Am Parteitag in Linz lässt Kurz sich neue Durchgriffsrechte bei der Personalauswahl statutarisch absichern. Wer auf der Bundesliste kandidiert, entscheidet der Boss allein, ohne Mitsprache des Parteivorstands. Und bei der Erstellung der Landeslisten steht ihm ein Vetorecht zu. Dieses will er dazu nutzen, das Erscheinungsbild seiner neuen Volkspartei zu feminisieren - was durchaus nottut: Nicht nur, dass sich in der schwarzen Ministerriege mit Familienministerin Sophie Karmasin nur eine Frau findet; auch die Landesregierungen der ÖVP sind mit Ausnahme Niederösterreichs männlich dominiert. Und im Umfeld des neuen Parteiobmanns tummelt sich, abgesehen von Generalsekretärin Elisabeth Köstinger, eine Partie junger aufgeweckter Männer in taillierten Anzügen.
Tatsächlich scheint es Kurz ernst damit zu meinen, das weibliche Element zu stärken. In einem profil-Interview kündigte der Zweite Nationalratspräsident Karlheinz Kopf unlängst an, auf dem ersten Platz der Landesliste der Vorarlberger Volkspartei kandidieren zu wollen. Nun soll er angeblich darauf verzichten und der Spitzenplatz an eine Frau gehen, eventuell an die Bregenzer Stadträtin Veronika Marte. Auch in der Steiermark wird Listenplatz eins für eine Frau reserviert. In Tirol dürfte allerdings Landwirtschaftsminister Andrä Rupprechter ganz vorne stehen.
Kurz besitzt das Urteilsvermögen, nur in Schlachten zu ziehen, die er gewinnen kann. Wenn Innenminister Wolfgang Sobotka - weder weiblich noch breitenwirksam -Listen-Erster in Niederösterreich werden will, wird es kein Veto des Bundesparteiobmanns geben. Mit den Niederösterreichern legt sich auch der neue ÖVP-Chef nicht an, zumal Erwin Pröll und Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner Kurz nach Kräften förderten.
In der neuen Volkspartei gilt ein verschärfter Wettbewerb. Aufgrund parteiinterner Regelungen wird es bei der Wahl am 15. Oktober vor allem auf Bezirksebene leichter sein, besser platzierte Kandidaten dank Vorzugsstimmen zu überholen. Prominentes Opfer könnte Reinhold Lopatka werden. Der Klubobmann wird in seinem Wahlkreis Oststeiermark wohl an erster Stelle gereiht werden. Doch auf Rang drei lauert mit dem Weizer Bezirksparteiobmann Andreas Kinsky ein in der Region allseits beliebter Alternativkandidat für einen Nationalratssitz in Wien.
Auch wenn Lopatka wieder in den Nationalrat einzieht, bleibt er einfacher Abgeordneter. Nächster Klubobmann der ÖVP wird höchstwahrscheinlich der Oberösterreicher August Wöginger, 42. Der Schärdinger wäre schlagartig einer der mächtigsten Vertreter der neuen Volkspartei, denn seit 2016 ist Wöginger auch Obmann des Arbeitnehmerbunds ÖAAB. Offen ist, ob er beide Funktionen in Personalunion auch tatsächlich ausüben würde.
In den Teilorganisationen der ÖVP vollzieht sich derzeit ein Generationenwechsel, der dem neuen Bundesparteichef das Leben leichter macht. Parteiinsider schildern, dass die Bünde sich derzeit tatsächlich als Teil eines Ganzen verstehen. Nach dem 15. Oktober wird sich auch der Obmann des Bauernbunds, Jakob Auer, ins Ausgedinge zurückziehen. Auer war fast der einzige in der ÖVP-Führungsriege , der Kurz' Strukturzerschlagung intern kritisierte.
Auers Nachfolger dürfte der Niederösterreicher Georg Strasser, 46, werden, derzeit Nationalratsabgeordneter und Bürgermeister von Nöchling im Bezirk Melk. Elisabeth Köstinger, immerhin EU-Abgeordnete des Bauernbunds, fällt als Anwärterin auf die Obmannschaft aus. Zum Spitzenamt fehlt ihr die wichtigste Voraussetzung: ein eigener Bauernhof (den übernahm ihre Schwester).
Nur Christoph Leitl will nichts von einem baldigen Abschied wissen. Leitl, seit 1999 Präsident des ÖVP-Wirtschaftsbunds, denkt noch in anderen Kategorien. Nach dem Rücktritt von Reinhold Mitterlehner hatte er die Einsetzung einer Obmann-Findungskommission angeregt - eine Retro-Idee aus den 1990er-Jahren. Als Wirtschaftskammer-Präsident ringt Leitl derzeit um eine Einigung bei Mindestlohn und Arbeitszeitreform, auch um seine eigene Handlungsfähigkeit zu beweisen - und jene der Sozialpartnerschaft, die von Kurz eher skeptisch gesehen wird. Leitls Alptraum wurde indes nicht wahr: Auf die Forderung nach einer Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft bei den Kammern verzichtete Kurz.
Inhaltlich Neues ist von Kurz vorerst nicht zu erwarten. Das gültige ÖVP-Parteiprogramm ist erst zwei Jahre alt. Im Wahlprogramm für den 15. Oktober wird sich Altbewährtes wie die bereits angekündigte Senkung der Abgabenbelastung und weitere Verschärfungen im Bereich Integration/Migration finden. Das Neue liegt in der Parteistruktur und im Tempo, mit dem Kurz diese umbaut - und in kleinen Reformen, die dessen Gespür für Symbolik zeigen. Der neue Bundesparteiobmann sitzt bei Ministerratsvorbesprechungen mitten unter den Seinen und nicht, wie seine Vorgänger, auf dem Chefplatz an der Stirnseite des Konferenztisches in der ÖVP-Zentrale.
WARUM LÄSST SICH DIE ALTE TANTE ÖVP DAS GEFALLEN?
Alle zehn Jahre feiert die ÖVP ihren runden Geburtstag im Wiener Schottenstift, wo die Partei im April 1945 gegründet wurde. Beim Festakt zum 50-jährigen Jubiläum 1995 beschwor Erhard Busek -wenige Tage vor seinem Rückzug - die schwarzen Werte : "Die Österreichische Volkspartei wird nie auf einen der Buchstaben Ö-V-P verzichten, sondern sie stets bekenntnishaft beibehalten. Und sie wird auch die Reihenfolge dieser Buchstaben stets als den Ausdruck der Rangordnung ihrer Werthaltung begreifen: Österreich, Volk, Partei."
Auf die drei Buchstaben wollte auch Sebastian Kurz nicht verzichten, viele in der Partei hätte er mit einer Umbenennung wohl überfordert. Stattdessen: Festspiele. Vergangene Woche wurde der neue Obmann etwa in Schärding, Salzburg und Deutschlandsberg als Bombasti gefeiert. Selbst SPÖ-Bürgermeister erkundigen sich dieser Tage bei ihren ÖVP-Kollegen, wann denn der Außenminister einmal die eigene Gemeinde besuche.
Dass sich eine 72 Jahre alte Partei einem erst 30-Jährigen überantwortet, der im Ö3-Interview kürzlich erklärte, noch zu jung für die Vaterrolle zu sein, hat einen einfachen Grund: TINA -"There is no alternative". Ohne Kurz wäre die ÖVP als Bundespartei Geschichte. Mit ihm ist sie vielleicht bald Kanzlerpartei, so wie von Februar 2000 bis Jänner 2007 unter Wolfgang Schüssel (ÖVP-Obmann Nummer 12).
Viele in der Partei fühlen sich an die damalige Zeit erinnert. Wie Schüssel - und im Gegensatz zu seinem Vorgänger Mitterlehner - will auch Kurz die Partei straff führen, als politischer CEO, nicht als Vereinsobmann. Zum Amtsantritt 1995 forderte Schüssel "mehr Disziplin" und "einen absoluten Diskussions-und Kommentierungsstopp über die Vergangenheit". Und: "Vor dem Reden muss nachgedacht werden." Die gleichen Durchgriffsrechte, die Schüssel vor 15 Jahren eigenmächtig anwandte, werden nun in den Parteistatuten fixiert. "Schriftlich ist immer gut", meinte Andreas Khol im "Standard". Wie Schüssel verbringt auch Kurz viel Zeit am Telefon, um den Parteifreunden seine Politik zu erklären und ihnen zumindest das Gefühl zu geben, eingebunden zu sein.
Im Führungsstil Wolfgang Schüssel ähnelnd, liegt Kurz inhaltlich näher beim christlich-konservativen Michael Spindelegger (Obmann Nr. 15) als etwa beim liberalen Josef Pröll (Nr. 14). Die Mischung Schüssel-Spindelegger ist in der ÖVP beliebter als die Kombination Mitterlehner-Pröll - nicht zuletzt, weil Mitterlehner und Pröll als Anhänger einer Großen Koalition galten. Schüssel war der Wendekanzler. Und Michael Spindelegger sagte gern: "Das einfache Erfolgsrezept für Österreich lautet: mehr ÖVP, weniger SPÖ." Sebastian Kurz erklärte schon vor Jahren in vertraulichen Runden, dass mit der SPÖ keine Zusammenarbeit mehr möglich sei, schon gar nicht in Integrations-und Zuwanderungsfragen.
Kurz' scharfe Haltung in der Migrationspolitik (wie jüngst seine Forderung nach einer Schließung islamischer Kindergärten) ist in der ÖVP Mehrheitsmeinung. Und bleibt das "Ausländer"-Thema auch im Wahlkampf bestimmend, wird die Volkspartei davon profitieren. Im Jänner rechnete der Hausund-Hof-Wahlforscher der ÖVP, Franz Sommer, Kurz & Co. bei der Klubklausur im steirischen Pöllauberg vor, dass mit einem scharfen Integrationskurs rund 300.000 Wähler von der FPÖ zu gewinnen wären. Diese haben sich offenbar bereits in Bewegung gesetzt.
Die Partei vertraut ihrem neuen Obmann auch deswegen bedingungslos, weil er aus ihrer Mitte kommt. Einem Quereinsteiger wäre eine schöpferische Zerstörung der ÖVP zuzutrauen, einem Mann wie Kurz -Landesobmann der Jungen ÖVP Wien, Bundesobmann der Jungen ÖVP, Landtagsabgeordneter, Nationalratsabgeordneter, Staatssekretär, Minister - dagegen nicht. Und auch die Teilorganisationen wird Kurz nicht infrage stellen, als langjähriger JVP-Chef ist er selbst "bündisch geprägt", so ein hochrangiger ÖVP-Vertreter.
Zum Stresstest für ÖVP-Funktionäre könnte der Übergang zwischen der neuen Partei und einer Bewegung werden. Derzeit wird das Hybridkonzept "Liste Sebastian Kurz - die neue Volkspartei" so interpretiert : Im Kern steht die ÖVP, um die herum eine politische Bewegung entsteht. Endgültig manifest soll der Bewegungscharakter Mitte August bei der Bekanntgabe der Bundesliste für die Wahl werden, auf der auch Kandidaten ohne schwarzes Parteibuch stehen werden. Symbolisch wird die Bewegung schon beim Konvent am 1. Juli in Linz gestartet. Nach dem Konzept der OÖ-ÖVP soll sich der streng geregelte und geschlossene Parteitag nach Kurz' Wahl öffnen und sich aus der Halle auf den Vorplatz verlegen, wo offen und gemeinsam mit allen interessierten Bürgern gefeiert wird. Ob der neu gewählte Bundesparteiobmann und Bewegungschef zu den erwarteten Massen spricht, ist noch nicht geklärt.