Macht ohne Öffentlichkeit
Der Blick fällt auf einen kleinen, unschuldigen Bücherstoß, das Handy ist schnell hervorgeholt, klick, und die Augen der Parlamentsmitarbeiter und des Leiters der Parlamentsbibliothek, die das bemerken, weiten sich vor Schreck.
Vergangenen Donnerstag hatte profil die Gelegenheit, gemeinsam mit Kollegen vom ORF die Übersiedlung der Parlamentsbibliothek von ihrem Ausweichquartier im Palais Epstein in das Hauptgebäude, das Parlament an der Ringstraße, zu begleiten.
Über unterirdische Gänge mit stanniolumwickelten Heizungsrohren, die unter dem Brunnen der Pallas Athene verlaufen, hinter uns Arbeiter, die dicke Bände der Stenografischen Protokolle auf Rollwagen schichten, tauchen wir vor dem Eingang zur neuen Bibliothek wieder auf, und da, kurz nach Betreten, steht linker Hand dieses seltsame Regal mit den Bücherhäufchen. Jede Parlamentspartei war gebeten worden, fünf Bücher zu nominieren, die ihre Gesinnungsgemeinschaft darstellen. Die ÖVP entschied sich für vier ehemalige ÖVP-Politiker und einen anerkannten Journalisten. Wolfgang Schüssel: „Das Jahrhundert wird heller“ (2015); Josef Pühringer: „Was mir wichtig ist“ (2009); Alois Mock: „Ein Politiker schreibt Geschichte“ (2008); Andreas Khol: „Auf die Stärken unseres Landes bauen“ (2016). Und das unterste: Hugo Portisch: „Österreich I“ (1997). So also sieht die ÖVP-Welt aus. Bevor ich energisch wegkomplimentiert wurde – „Hier fotografiern S’ net!“ –, ein verstohlener Blick auf den benachbarten Bücherstoß der SPÖ: Hermann Hesse: „Das Glasperlenspiel“; Simone de Beauvoir: „Das andere Geschlecht“; Robert Menasse: „Die Hauptstadt“; Rutger Bregman: „Utopien für Realisten“; Bruno Kreisky: „Reden“. Im Vergleich zur ÖVP ist diese Auswahl erratisch, aber nicht provinziell.
Die neue Parlamentsbibliothek soll kein Schattendasein führen wie die alte. Man darf in Zukunft Bücher selbst aus den Regalen nehmen, darin schmökern, sie mit nach Hause nehmen. Kostenlos. Eine in die Bibliothek integrierte Ausstellung zu Themen des Parlamentarismus soll auf neue Veröffentlichungen und Ideen aufmerksam machen.
Das Parlamentsgebäude, das vor 150 Jahren im feierlichen klassizistischen Stil von Theophil Hansen gebaut wurde, besitzt jetzt vier neue, lichtdurchflutete Stiegenhäuser und ein neu daraufgesetztes Geschoß, von dem aus man das erste Mal die Quadriga auf dem Dach – Rösser, Gespann und Siegesgöttin – aus nächster Nähe betrachten kann. Ganz oben befinden sich das Parlamentsrestaurant und die „Demokratiewerkstatt" für Schülergruppen.
Bisher verschlossene Innenhöfe, in denen Tauben brüteten und allerlei lagerte, sind nun offen und zugänglich. 10.000 Quadratmeter Nutzfläche wurden im Zuge der Generalsanierung neu geschaffen. Die Farben der Kassettendecken, Böden, Pulte und Luster erstrahlen in neuer alter Pracht. Geschliffen, geölt und repariert wurde mit großer Liebe zum Detail. Der alte Reichsratssitzungssaal ist einfach wunderschön. Die Pulte mit den Einlassungen für Tintenfässchen gehen weich auf und zu.
Betritt man das Haus von der Rampe aus, steht man im Besucherzentrum: links eine konventionelle Foto-Text-Ausstellung hinter Glas, rechts digitale Animationen. Als wir vorbeigehen, bewegt sich auf einem Screen die Klubobfrau der Grünen, Sigrid Maurer, in Lebensgröße und verdreifacht. Geradeaus erblickt man einen nichtssagenden Desk vom Charme eines modernen ÖBB-Kassenschalters. Dort werden in Zukunft die Besucher registriert.
Ursprünglich hätte man, nach Planung der Architekten, von dieser Ebene aus direkt zu einer Tribüne gelangen sollen, die jenen Saal begrenzt hätte, der für große Parlamentarische Untersuchungsausschüsse vorgesehen ist. Besucher wie Journalisten hätten von dort aus das Geschehen im jeweiligen U-Ausschuss beobachten können. Der neue Saal ist mit allen Finessen ausgestattet. Nur die Tribüne fehlt. Sie wurde nicht gewünscht. So gibt es auch keinen öffentlichen Zugang zum U-Ausschuss-Saal und – jedenfalls bis dato – nicht einmal eine Sitzreihe, geschweige denn Sessel für Journalisten. Auf die Frage, von wo Berichterstatter das Geschehen denn verfolgen sollen, verweist man peinlich berührt und ratlos auf ein sogenanntes Medienzentrum in einem hinteren Extraraum.
Eine künstlerische Intervention mit den Worten Parlament und Demokratie, einander überlappend und kaum lesbar, befindet sich an jener Seite, wo die Tribüne hätte sein sollen.
Der alte Plenarsaal, der von den Architekten Eugen Wörle und Max Fellerer im schlichten, nüchternen Stil der 1950er-Jahre gestaltet worden war, ist wiederauferstanden. Nur heller, durchsichtiger, flacher. Die technischen Anlagen wurden diskret verbaut, das Glasdach ist blank geputzt, ein durchsichtiges Akustiksegel montiert; der Blick nach oben geht frei in den Himmel. Man sieht sogar den Schweif der Rösser der Quadriga. Der tonnenschwere, aus Stahl getriebene Bundesadler glänzt an der Nussholzpaneele. Aber auch hier ein Manko: Die Journalistengalerie, einst mehrreihig aufsteigend, besteht jetzt nur noch aus einer Sitzreihe. Dahinter eine Wand aus Plexiglas für Fotografen und Kameras. Die Parlamentsredakteure haben bereits Einspruch erhoben, auch gegen die Regelung, die es Journalisten verbietet, Abgeordneten in die Café-Bar zu folgen. Nach derzeitigem Plan dürfen sie nur ein paar Meter in die Couloirs (der Gang rund um den Plenarsaal) hinein und in einen winzigen Vorraum des Cafés. Mit der Zeit werde sich alles zur Zufriedenheit aller fügen, meint der liebenswürdige Parlamentsvizedirektor Alexis Wintoniak, Generalbevollmächtigter für den Parlamentsumbau.
Nun, alles wohl nicht. Der umstrittene ÖVP-Parlamentspräsident Wolfgang Sobotka hat sich schon bisher gehörig eingemischt. Der begabte Hobbymusiker bestand auf einem vergoldeten Bösendorfer-Flügel in seinem Empfangssalon im Parlament (Miete: 3000 Euro/Monat) und hatte auch eigene Vorstellungen, was die Kunst im Parlament betrifft. Gegen die Empfehlung einer Architekten-Jury entschied Sobotka eigenmächtig und beauftragte Hans-Peter Wipplinger, Direktor des Leopold Museums, moderne Kunst einzukaufen. So stößt man auf luftigen Treppen und Plateaus auf Installationen, die eher wie Dekoration wirken als Kunst. Das liegt nicht an den Werken, sondern an ihrer Platzierung. Sie überfrachten. Die Architekten-Jury kritisierte zu Jahresbeginn die fehlende Ausschreibung und verwies auf das Vorbild des Deutschen Bundestags in Berlin, wo Künstler und Künstlerinnen zu einem Ideenwettbewerb aufgerufen wurden und eine breit zusammengesetzte Kommission daraus auswählte – und nicht ein Einzelner. Die eigenhändige Vergabe über eine Summe von 1,8 Millionen Euro entspricht, so wie es aussieht, auch nicht dem Vergaberecht. „Es sind Dinge passiert, die der Bedeutung des Hauses nicht gerecht werden“, sagte die renommierte Architektin Sonja Gasparin.
In der Jury herrscht großer Unmut. In E-Mails kursiert ein Zitat von Hannah Arendt („Macht beginnt, wo Öffentlichkeit aufhört“), das die Lage auf den Punkt bringe. Erfolgreich abgeschmettert wurden Sobotkas Pläne, auch außerhalb des Parlaments seine Markierungen zu setzen. Eine Stele von Joannis Avramidis und eine mehrere Meter hohe Plastik des Künstlers Erwin Wurm sollten rechts und links neben der Pallas Athene auf dem Parlamentsvorplatz aufgestellt werden. Wurms Plastik: ein Unterarm mit halb geöffneter Hand mit drei gespreizten Fingern, die an Heinz-Christian Straches Neonazi-Gruß erinnerten. Informell war auch von einem männlichen Torso mit Aktentasche und Damenbeinen mit Täschchen – an der Rückseite des Parlaments – die Rede gewesen. Diese Entwürfe wurden nie eingereicht. Stele und Plastik jedoch schon. Der Fachbeirat der Stadt Wien, der bei Eingriffen in den öffentlichen Raum zuständig ist, lehnte das ab. Die Experten waren sich einig, das Gesamtkunstwerk von Theophil Hansen, in dem das Innere und Äußere harmonieren, vertrage keine weiteren Skulpturen. „Das sagt nichts gegen die Kunst, sondern gegen ihre Situierung und Dimension“, so die Architektin und Fachberätin Elke Delugan-Meissl.
Am 12. Jänner 2023 wird das neue alte Parlament der Öffentlichkeit zugänglich sein. Man wird es feiern. Besuchergruppen, Schulklassen und einzelne Interessierte werden nicht mehr wie bisher über dunkle Gänge schleichen, sondern auf Terrassen über Wien schauen und darüber staunen, wie detailgenau die Arbeiter von damals das Mauerwerk verzierten, obwohl sie doch annehmen mussten, dass kein Mensch dies jemals aus unmittelbarer Nähe werde sehen können. Jetzt schon.