„Es geht jetzt um das Ende der Naivität“
profil: Frau Meinl-Reisinger, Sie fordern einen Ausstieg Österreichs aus der Neutralität. Ist jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt dafür?
Meinl-Reisinger: Nein, wir fordern kein Ende der Neutralität und auch keinen NATO-Beitritt. Das Ziel der NEOS sind seit Beginn die Vereinigten Staaten von Europa und die Bildung eines europäischen Heeres.
profil: Das wird mit Neutralität kaum in Einklang zu bringen sein.
Meinl-Reisinger: In einem zweiten Schritt muss darüber diskutiert werden, ob dieses Ziel mit der Neutralität, die ohnehin bereits ausgehöhlt ist, noch vereinbar ist. Juristen sind sich darin nicht einig.
profil: Sie stellen sie also infrage.
Meinl-Reisinger: In den Augen vieler ist Neutralität eine Chiffre für Frieden. Zur Zeit des Staatsvertrags 1955 war sie eine Notwendigkeit. Manche sagen, sie wurde uns aufgezwungen. Aber für Frieden in Österreich war es wichtiger, dass wir Mitglied der Vereinten Nationen und später Teil der Europäischen Union geworden sind. Damit wurde die Neutralität rechtlich völlig verändert. Das sollten wir ehrlich sagen: Auf der einen Seite nehmen wir an UN-Missionen teil, haben ein Freundschaftsabkommen mit der NATO. Wir sind militärisch neutral, politisch nicht, heißt es ja oft. Auf der anderen Seite enthalten wir uns „konstruktiv“ bei der Frage, ob Waffen an die Ukraine geliefert werden. Das halte ich für unehrlich.
Kaiser: Es verwundert und verblüfft mich immer wieder, dass, sobald es einen Anlass gibt, wie jetzt in der Ukraine – und jetzt übernehme ich Ihre Worte, Frau Kollegin –, die Neutralität als eine Chiffre für den Frieden hinterfragt wird. Ausgerechnet jetzt, wo wir alle Sehnsucht nach Frieden haben, die Neutralität infrage zu stellen, halte ich für falsch. Die Neutralität hatte immer eine Bedeutung. In der Ära Kreisky hat sie uns als Ort für internationale Konferenzen empfohlen, als UNO- und OSZE-Standort, als Treffpunkt für Konfliktparteien. Ja, in dem Zusammenhang bin ich auch unzufrieden: Es hätte eine aktivere Außenpolitik gebraucht, um unsere Neutralität sichtbarer zu machen.
profil: Die Neutralität schützt nicht per se vor Aggression. Das neutrale Belgien etwa wurde in beiden Weltkriegen überfallen und besetzt.
Meinl-Reisinger: Die Ukraine war bis dato auch paktfrei, und es hat ihr nichts gebracht. NATO-Mitglieder haben sogar ein Veto eingelegt gegen den Beitritt der Ukraine, um Putin nicht zu reizen. Das Argument der Putin-Versteher, die NATO sei zu nahe an Russland herangerückt, stimmt so einfach nicht.
Kaiser: Vergleichen wir nicht die Paktfreiheit der Ukraine mit Österreichs Neutralität. Ich sehe Neutralität auch nicht als quasi Mauer, die uns vor Angriffen schützt, sondern als ein Instrument der Friedenspolitik. Sie eröffnet Möglichkeiten, die die Regierung in den letzten Jahren allerdings wenig nutzte.
Meinl-Reisinger: Mich erstaunt der Mythos, der um die Neutralität gebaut wird, und wie die SPÖ damit umgeht. Sie können doch nicht, wie der Bundeskanzler sozusagen von der Kanzel herab, sagen, die Debatte sei beendet. Seien wir ehrlich: Die EU liefert Waffen in die Ukraine, und Österreich zahlt indirekt mit. Und in der Vergangenheit waren wir die Ersten – noch unter einem SPÖ-Kanzler und Bundespräsident Fischer – die nach der Annexion der Krim 2014 gemeinsam mit der Wirtschaftskammer dem Präsidenten Putin den roten Teppich ausgerollt haben. Es wurde sogar über die Annexion der Krim gewitzelt. Vielleicht lag das an der wirtschaftlichen Abhängigkeit, vielleicht auch an mancher ideologischer Prägung und einem gewissen Antiamerikanismus, einem Putin-Verstehertum, das ich damals schon für falsch hielt. Es geht jetzt um das Ende der Naivität, die viele auch in Österreich gegenüber Putin an den Tag gelegt haben.
Kaiser: Neutralität verpflichtet zur Diplomatie. Wir haben als neutrales EU-Land Schutz, das ist in den EU-Verträgen festgeschrieben, die Beistandspflicht gilt auch für uns. So zahnlos und rein historisch ist die Neutralität nicht.
Meinl-Reisinger: Die Beistandspflicht der EU, ja, – wollen wir Trittbrettfahrer sein oder Schmarotzer? Es ist nicht sicher, dass Österreich im Angriffsfall seinen europäischen Partnern beistehen wird, umgekehrt wird uns aber schon beigestanden? Wären wir nicht von lauter NATO-Staaten umgeben, die letztlich den Job für uns erledigen, würden Sie dann die Situation nicht ganz anders bewerten?
Kaiser: Welche Erfahrungen haben wir in der Alpen-Adria-Region mit unseren Nachbarn? Ein NATO-Mitglied, Italien, Paktfreiheit wie das ehemalige Jugoslawien, aus dem das NATO-Mitglied Slowenien entstand – Österreich blieb stabil. Neutralität bietet mehr Möglichkeiten. Sie fordern eine europäische Verteidigungsunion. Darüber wurde schon vor Jahren diskutiert, und bevor irgendetwas konkret wurde, war sie bereits zum Scheitern verurteilt. Ich erinnere nur an meinen Parteifreund Josef Cap, der deshalb den NATO-Beitritt Österreichs ins Spiel brachte.
profil: Man schleicht seit Jahrzehnten um die NATO herum, weil man keine europäische Verteidigungsunion zusammenbringt. Wäre es nicht Zeit, sich das einzugestehen?
Kaiser: Man kann über alles diskutieren, aber ich glaube momentan nicht an eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik. Ich sehe nicht, dass wir in dieser Richtung weiterkommen. Sitz und Repräsentanz in der NATO haben ohnehin die meisten EU-Mitgliedstaaten. Wichtiger und realistischer finde ich den Ansatz von Frau Meinl-Reisinger für eine gemeinsame europäische Außenpolitik. Wenn es uns gelänge, dass wir uns in wesentlichen Fragen darauf verständigen könnten, zumindest als Europäische Union in der Außenpolitik stärkere Akzente zu setzen, könnte die EU stärker auftreten. Das würde auch die Vereinten Nationen stärken. Was ich mir schon lange wünsche – Sie gestatten, dass ICH träume –, ist so etwas wie eine „Weltregierung“, die durch exekutive und legislative Möglichkeiten manches ausbalancieren könnte. Ich weiß, es ist eine Utopie, aber ich denke, dass bei zunehmender Globalität eine UNO, mit mehr Rechten ausgestattet, forciert und gestützt durch eine progressive europäische gemeinsame Außenpolitik, das anzustrebende Ziel ist. Sie sehen, ich habe durchaus Sympathie für manche Ihrer Ansichten.
Meinl-Reisinger: Wieso ist die Utopie möglich im Bereich der gemeinsamen Außenpolitik, nicht aber bei der Verteidigungspolitik? Es geht doch um die Frage der Handlungsfähigkeit Europas.
Kaiser: Das eine haben wir, das andere haben wir übersehen oder müssen zurückgehen, um es zu erreichen.
Meinl-Reisinger: Das stimmt nicht. Im Bereich der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist schon einiges geschehen: etwa das Bekenntnis zur gemeinsamen Beschaffung von Waffen. Für Österreich habe ich die große Hoffnung, in eine gemeinsame Luftraumüberwachung eingebunden zu werden. Wir haben gerade 15 Eurofighter, und die sind nur bedingt einsatzfähig. Österreich kann derzeit seinen Luftraum nicht wirklich überwachen. Die Frage, was eine umfassende Landesverteidigung in Österreich bedeutet, die ja auch gerne mit der Neutralität gemeinsam genannt wird, stellt sich jetzt im europäischen Kontext. Das Ende des Kalten Krieges war eben nicht das Ende der Geschichte, wie wir das gehofft hatten. Ich gebe zu, dass derzeit die NATO der beste Garant für unseren Schutz wäre. Wir sollten uns aber auch gegenüber den USA unabhängig machen. Spätestens seit Trump sollte uns das klar geworden sein.
profil: Die Leute haben Angst, weil der Krieg geografisch näher kommt. Die effektivste Sicherheitsstruktur in Europa liefert die NATO. Warum scheuen Sie davor zurück, einen NATO-Beitritt zu fordern?
Meinl-Reisinger: Ich scheue vor keiner Debatte zurück. Ich bin offen, das zu diskutieren. Aber es geht um die Sicherheitsarchitektur Europas. Europa muss lernen, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Was ist uns lieber: Ein NATO-Beitritt oder sich auf der Seite von Emmanuel Macron für die Souveränität Europas zu engagieren? Ich stelle mich lieber neben Macron, verschließe mich aber auch einem NATO-Beitritt nicht. Dann ist die Neutralität allerdings sicher Geschichte. Wenn das der SPÖ lieber ist, muss aber so manche Aussage Ihrer Vorsitzenden ganz rasch wieder in die Mottenkiste zurück, wo sie ja auch herkommt.
profil: Konsequenterweise müssten wir damit die Neutralität aufgeben. Denn warum sollte sich der Rest Europas um unsere Sicherheit kümmern, ohne dass wir einen
Beitrag leisten?
Meinl-Reisinger: Die Neutralität ist kein Selbstzweck. Unser Ziel ist ein europäisches Heer – wenn die Neutralität dem im Weg steht, wie das einige namhafte Europarechtler meinen, dann bin ich dafür, das zu ändern. Ich vermute jedoch, dass die Neutralität schon so ausgehöhlt ist, dass das keine Rolle mehr spielt. Das ist eine rechtsdogmatische Diskussion.
Kaiser: Wenn Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, dann würde ich gerne eine politische Perspektive umsetzen, bevor es zu dem kommt, was kein normaler Mensch will. Die Position der Sozialdemokratie und unserer Vorsitzenden ist klar: Friedensbewahrung und Friedenssicherung. Dafür gibt es eine breite Mehrheit. Ich war letzte Woche beim Gipfel der Städte und Regionen Europas. Da herrschte ein europäisches Selbstverständnis, ohne dass man sich als NATO-Staat oder Nicht-NATO-Staat deklariert hätte. Es ging zuallererst um die Frage, wie man humanitäre Hilfe organisiert und was mit Verhandlungen zu erreichen wäre. Dieser Ansatz ist mir der weitaus sympathischere. Die Neutralität ist effizienter als jede noch so große Verteidigungsdoktrin. Österreich sollte sich jetzt auf seine Vermittlerrolle besinnen. Die Frage ist doch: Was können wir beitragen, um Deeskalation zu erreichen.
profil: Aber Herr Kaiser, Österreich hat seine militärische Neutralität nie so richtig ernst genommen. Wir haben in den 1950er-Jahren Finanzhilfen und Waffen aus den USA bekommen, inoffiziell. Es wurden Waffenverstecke angelegt, um gerüstet zu sein für den Fall, dass die Sowjetunion angreift. Als 1999 Bomben auf Belgrad fielen, hat Österreich NATO-Überflüge zugelassen. Nicht ein einziger Abfangjäger stieg auf.
Kaiser: Das wurde genehmigt, es gab ein UNO-Mandat.
profil: Nein, das war die NATO, und es wurde nicht genehmigt. Es wurde zwar im Nachhinein protestiert dagegen, aber das war ein Austausch von Verbalnoten. Insofern ist die Neutralität nicht besonders glaubwürdig.
Kaiser: Österreich muss eine aktivere Rolle einnehmen. Das wurde versäumt. Macron spricht mit Putin, Scholz spricht mit Putin. Wo bleibt Österreich? Ziel ist doch, dass es nicht zu einem völligen Crash aller Gesprächs- und Verhandlungsebenen kommt. Ob Außenminister, Kanzler, Bundespräsident dazu in der jetzigen Situation aktiv etwas beitragen könnten, kann ich nicht beurteilen. Aber Putin war häufig Staatsgast in Österreich. Wir sollten anbieten, zur Verfügung zu stehen, wie wir das auch bei den Atomverhandlungen oder dem Iran-Abkommen taten.
profil: Ist Österreich wirklich der große Brückenbauer und wichtige Ansprechpartner? Es wirkt nicht, als hätte in den Verhandlungen mit Wladimir Putin jemand auf Österreich gewartet.
Meinl-Reisinger: Wir müssen hier schon so ehrlich sein und sagen, dass Frankreich die einzige Atommacht in der EU ist. Das Gewicht in den Gesprächen mit Putin ist dadurch ein ganz anderes. Ein Neutralitätsverständnis, bei dem übrig bleibt, dass Wien nur Konferenzzentrum ist, ist mir persönlich zu wenig. Neutralität ist gleichbedeutend mit Friedenssicherung – das ist uns genauso wichtig. Aber: Es muss ein Ende der Naivität erreicht werden, was die Notwendigkeit einer militärischen Kapazität Europas angeht. Deutschland hat 100 Milliarden Euro für die Aufstockung des Verteidigungsbudgets beschlossen. Da ist wahrscheinlich auch ein gewisser politischer Aktionismus dabei. Auch das Österreichische Bundesheer braucht zusätzliches Geld. Dringend. Das unterstützen wir auch. Aber nur, wenn gemeinsam mit den europäischen Partnern an einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsarchitektur gearbeitet wird. Sonst wäre das Geld besser in Bildung oder Soziales investiert.
profil: Woher soll das Geld fürs Bundesheer kommen? Wird es nicht genau dort fehlen, in Kindergärten und Schulen?
Meinl-Reisinger: Nach zwei Jahren Pandemie standen wir gerade an einem Wendepunkt, warteten auf einen wirtschaftlichen Aufschwung, und jetzt erwarten wir möglicherweise eine Hyperinflation. Als Liberale sage ich, es gibt Grundaufgaben des Staates: innere und äußere Sicherheit. Dazu kommen Zukunftsinvestitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung und in ökologische Transformation. Das ist alles, was uns unabhängig macht von fossilen Brennstoffen und unabhängig von Russland. Die große Frage, die uns seit zwei Jahren umtreibt: Wer finanziert das?
profil: Wie wäre es mit Leuten, die viel Geld haben?
Meinl-Reisinger: Eine Vermögenssteuer wird nicht ausreichen. Das ist das übliche ideologische Geschrei. Es werden alle einen Beitrag leisten müssen.
Kaiser: Es geht um die Verhältnismäßigkeit.
Meinl-Reisinger: Am Ende zahlt’s dann aber immer der Mittelstand.
Kaiser: Na ja, wenn man das oberste eine Prozent schützt und das mit viel Meinungsmache betreibt, wird es schwer sein, verteidigungspolitische Maßnahmen zu setzen. Wir müssen sicherstellen, dass die Grundbedürfnisse gedeckt sind, sich jeder Nahrungsmittel leisten kann, ein Dach über dem Kopf hat und heizen kann. Die Energiepreise schnalzen in die Höhe. Daher bin ich wenig „optimistisch“, dass wir in Österreich höhere Rüstungsausgaben sehen werden. Der Krieg wird am Ende mehr Gemeinsamkeiten zwischen uns allen hervorbringen als Gegensätze.
profil: Die Stimmung bei den aktuellen Friedensdemonstrationen lässt sich nicht mehr als pazifistisch beschreiben. Man wünscht sich vielmehr, dass die Ukrainer gewinnen. Und man wünscht, dass sie Waffen kriegen. Wie stehen Sie dazu?
Meinl-Reisinger: Ich war vor ein paar Tagen in der Ukraine und hatte dort mit Abgeordneten Kontakt. Wir NEOS haben auf europäischer Ebene ein Partnerschaftsabkommen mit Selenskyjs Partei geschlossen. Die Ukrainer wünschen sich Helme und Sicherheitswesten – aber vor allem eine Flugverbotszone. Das wäre aber ein massiver Eskalationsschritt. Die Ukraine verteidigt derzeit die Sicherheit Europas und europäische Werte. Die mutigen Männer und Frauen sterben dort allein. Wir müssen aber auch bedenken: Das ist Putins Krieg und nicht Russlands. Viele Russen gehen auf die Straße und riskieren ihre Freiheit, vielleicht sogar ihr Leben. Was kann Europa tun? Alles, solange es nicht in den Krieg eintritt. Bei den wirtschaftlichen Sanktionen müssen wir uns sehr bald die Frage stellen, welche Maßnahmen zusätzlich gesetzt werden können – die wir aber auch in aller Härte durchhalten können. Wir sind Teil der westlichen Wertegemeinschaft, aber wir brauchen mehr Bekenntnis dazu. Ich habe manchmal den Eindruck, dass das vielleicht aus einem antikapitalistischen Verständnis heraus manchen nicht ganz klar ist.
Kaiser: Die Sanktionen sind scharf wie nie zuvor, wir müssen sie jedoch durchhalten, da stimme ich Frau Meinl-Reisinger zu. Was ich aber nicht einschätzen kann, ist die innenpolitische Stabilität in Russland. Sie wird mit der Wirkung der Sanktionen abnehmen. Aber: Wir müssen lange und andauernd humanitäre Hilfe leisten, die Kinder hier in den Schulen integrieren. Wir alle sind nach zwei Jahren Pandemie müde. Wir brauchen eine politische Einigkeit in dieser schweren Situation. Aber diskutieren und Widerspruch aushalten, das müssen wir trotzdem.