Niederösterreich: Chaos um Wahlrecht für Zweitwohnsitzer
Die Gemeinde Semmering liegt auf fast 1000 Meter Seehöhe auf dem Scheitel des gleichnamigen Passes. Schon im 19. Jahrhundert zog es Kurgäste der guten Höhenluft wegen hierher: adelige Sommerfrischler, jüdisches Großbürgertum, Maler, Komponisten, Literaten und andere Ausflügler aus dem 80 Kilometer entfernten Wien. Das Mondäne hat sich verloren, ein Refugium für erholungsbedürftige Großstädter ist der Semmering jedoch geblieben. 600 Einwohner zählt die Gemeinde, in der ÖVP-Bürgermeister Horst Schröttner mit einer satten Mehrheit von 78 Prozent regiert. Noch viele Menschen mehr haben hier einen Nebenwohnsitz. Mit ihnen muss Schröttner sich gut stellen, denn bei Landtagsund Gemeinderatswahlen stellen sie eine entscheidende Größe dar.
Nur in Niederösterreich und im Burgenland dürfen auch Nebenwohnsitzer wählen - sofern sie integriert sind. Das zu beurteilen, obliegt den Bürgermeistern. Die Kriterien dafür sind vage: Darf jemand, der einmal in der Woche in den Nachbarort schießen geht, weil es im eigenen keinen Schützenverein gibt, dort wählen? Die Antwort lautet: ja oder auch nein -je nachdem, welcher Bürgermeister entscheidet. Bei der Gemeinderatswahl 2010 berichtete profil erstmals über bizarre Auswüchse von Stimmenfang. Parteifreunde eines Bürgermeisters hatten über ein Dutzend Personen angemeldet. Es gingen erwachsene Kinder zur Wahl, die sich fallweise bei ihren Eltern blicken lassen, in Ausgedingehäuschen einquartierte Sommergäste, Dauercamper und Erntehelfer.
1,4 Millionen Menschen waren vor fünf Jahren wahlberechtigt (die aktuelle Zahl liegt noch nicht vor), rund 150.000 davon Inhaber eines Nebenwohnsitzes in Niederösterreich. Laut Erich Trenker, Klubdirektor der SPÖ in Niederösterreich, braucht es für ein Mandat rund 14.000 Stimmen; es könnten also bis zu zehn Sitze im Landtag von den Befindlichkeiten der Nebenwohnsitzer abhängen. Das Rittern um deren Wohlwollen erschien irgendwann auch dem Landesverwaltungsgericht zu anrüchig. Es drängte auf klare Regeln für die Wahl am 28. Jänner 2018. Um den Bürgermeistern den Ernst der Lage klarzumachen, setzte das Land eine Frist für die Bereinigung der Wählerverzeichnisse. Quer durch Niederösterreich wurden Personen, die in einer der 573 Gemeinden einen Nebenwohnsitz haben, aufgefordert, ein Formular auszufüllen. Wer sich nicht meldete, erhielt ein zweites Mal Post, manchmal ein drittes Mal.
Keine einheitliche Praxis
Für die Wählerverzeichnisse sind seit jeher die Bürgermeister zuständig. 434 stellt die ÖVP, 120 die SPÖ. Bei Einsprüchen entscheidet die Gemeindewahlbehörde, wo meistens auch die ÖVP das Sagen hat. In zweiter Instanz ist die Landeswahlbehörde am Zug; sie sollte - dank der Formularaktion - seltener angerufen werden. Doch die Hoffnung auf eine einheitliche Praxis erfüllte sich nicht: In manchen Gemeinden blieben so gut wie alle Nebenwohnsitzer im Verzeichnis, in anderen flogen Hunderte hinaus, weil sie das Wählerevidenzblatt nicht retournierten.
Beispiel Semmering: Hier musste der Bürgermeister an die 1000 Briefe verschicken; 400 Antworten kamen zurück. "Die meisten haben geschrieben, dass sie wählen wollen", sagt Schröttner. Ihre Namen blieben im Wählerverzeichnis. Die rund 600 aber, die nicht reagierten, fielen weg. Für den Bürgermeister eine klare Angelegenheit: "Wer sich nach zweimaliger Aufforderung nicht meldet, ist entweder nicht mehr da oder nicht interessiert." Andere Orte, andere Sitten: In der Fremdenverkehrsgemeinde Würflach (1500 Einwohner) im Bezirk Neunkirchen gibt es 1430 Wahlberechtigte, darunter 230 Inhaber von Nebenwohnsitzen. Etwas mehr als die Hälfte antwortete, wovon eine Handvoll ausdrücklich auf Mitbestimmung verzichtete. Von Amts wegen gestrichen wurde niemand. Auch wer die Briefe ignorierte, blieb im Verzeichnis. "In einem kleinen Ort kennt man die Leute.
Wenn ein Städter hier ein Haus hat, schließen wir ihn nicht aus," sagt Amtsleiter Peter Samwald.
30 Kilometer von Würflach entfernt liegt das nicht wesentlich größere Payerbach (2000 Einwohner). Auch hier stehen viele Wohnungen und Häuser einen Teil des Jahres über leer. Von insgesamt 2600 Wahlberechtigten haben rund 1000 einen Nebenwohnsitz. 850 Fragebögen verschickte Bürgermeister Eduard Rettenbacher, dessen ÖVP-Liste "Pro Payerbach" bei der Gemeinderatswahl 68 Prozent einfuhr. Die Rücklaufquote betrug 70 Prozent. Wer zwei Mal nicht antwortete, bekam einen dritten -eingeschriebenen - Brief. Darin stand, so Rettenbacher, "dass wir ihn aus der Wählerliste streichen". Wer immer noch nicht reagierte, flog raus. Der Bürgermeister ist zuversichtlich, viele Karteileichen losgeworden zu sein. Eher zufällig kam ans Licht, dass dem Streichen auch eine ehemalige rote Gemeinderätin zum Opfer gefallen war, die in Wien arbeitet. Rettenbacher: "Es gab Einsprüche. Denen habe ich stattgegeben."
Das Wirrwarr ist weit verbreitet, berichtet Helga Krismer, Landessprecherin der Grünen: "In Perchtoldsdorf, Oberwaltersdorf oder Eichgraben wurden rigoros alle gestrichen, die das Wählerevidenzblatt nicht retourniert haben, in Baden, Mauerbach oder Klosterneuburg hingegen blieben diese Personen in der Wählerevidenz." Zurückhaltung wäre im Sinne des geltenden Rechts geboten. Im Gesetz heißt es, das bloße Nichtzurückschicken des Evidenzblattes stelle keinen Grund dar, jemanden aus dem Wählerverzeichnis zu entfernen. Vielmehr müssten Bürgermeister nachforschen, wie es um die Integration bestellt ist. Vor diesem "Nachspionieren" schrecken die meisten jedoch zurück.
"Die ganze Aktion war ein Humbug"
In Retz, einer beliebten Zweitwohnsitz-Destination im Weinviertel, machte ÖVP-Bürgermeister Helmut Koch rund 300 Teilzeitbürgern "drei Mal klar, dass sie nicht wählen dürfen, wenn sie das Formular nicht ausfüllen"; etwa 50 Personen ließen sich davon nicht beeindrucken. "Was soll ich noch machen?", sagt Koch. Zum Vergleich ein Abstecher nach Grafenbach-St. Valentin (2300 Einwohner), wo die SPÖ-Landtagsabgeordnete Sylvia Kögler Bürgermeisterin ist. Sie schrieb 245 Nebenwohnsitzer an und bekam 146 Wählerevidenzblätter zurück: 14 verzichteten auf ein Wahlrecht; ihre Namen scheinen in der Liste nicht mehr auf; alle anderen blieben drin. Fazit Kögler: "Die ganze Aktion war ein Humbug." Wählerverzeichnisse können beeinsprucht werden. Doch dieses Korrektiv erweist sich in der Praxis mitunter als hohl. Das Gros der Zugereisten reagiert beleidigt, wenn ihr Mitbestimmungsrecht zur Disposition steht. Ein roter Ortsfunktionär berichtet, er habe vor Jahren einige Namen beeinsprucht und sich "von den Betroffenen monatelang anhören können, dass ich sie im Ort nicht haben will. Ich tue mir das nicht mehr an."
Josef Wiesinger sitzt für die SPÖ sowohl in Gars am Kamp als auch in Weitersfelden im Gemeinderat. Um den Irrwitz des Nebenwohnsitz-Wahlrechts aufzuzeigen, kandidierte er bei der Gemeinderatswahl 2015 ganze fünf Mal und ergatterte zwei Mandate. Damit handelte er sich mediale Aufregung und ätzende Kommentare ein. "Mein Ziel, einen Anstoß für eine Wahlrechtsreform zu geben, habe ich nicht erreicht", sagt Wiesinger. Bei Landtagswahlen ist nur stimmberechtigt, wer seinen Hauptwohnsitz innerhalb von Niederösterreich hat. Anders bei Gemeinderatswahlen, wo auch alle anderen Nebenwohnsitzer aufgerufen sind. Dann wird Wiesinger sowohl in Gars am Kamp als auch in Weitersfelden sein Kreuzerl machen. Theoretisch könnte ihn der Weitersfeldener Bürgermeister streichen. "Er wird sich schwer tun, zu begründen, dass ich keine Interessen habe, wenn ich hier seit drei Jahren im Gemeinderat sitze", meint Wiesinger.
Der neue SPÖ-Landesparteiobmann Franz Schnabl gibt nun die Parole aus: "one man, one vote". Wählen soll, wer in Niederösterreich seinen Hauptwohnsitz hat. Schnabls Begründung: "Man wird nie scharf trennen können, ob jemand sich am Ortsleben beteiligt, im Sommer bloß ein wenig Abkühlung sucht oder nur zum Schein gemeldet ist, um den Bürgermeister wählen zu können. Willkür steht Tür und Tor offen."
Auch für höhere Abgaben könnte man sich in roten Reihen erwärmen. Fallen für einen Nebenwohnsitz ein paar Hundert Euro im Jahr an, schrumpft das Risiko von Scheinanmeldungen beträchtlich. Ertragsanteile aus dem Finanzausgleich gibt es nur für Bürger mit einem Hauptwohnsitz in der Gemeinde. Das trifft Semmering besonders hart. "Wir erhalten die Infrastruktur für alle, darunter 90 Kilometer Wasserleitung, bekommen für Nebenwohnsitzer aber keinen Euro", sagt ÖVP-Bürgermeister Schröttner. Neidisch schielt er vom Gemeindeamt in die 100 Meter entfernte Steiermark: "Dort ist man entweder hauptgemeldet oder zahlt Tourismusabgabe." Und: Nebenwohnsitzer dürfen in der Steiermark nicht wählen.
Zahlen zur Wahl
Bei der Landtagswahl 2013 durften 1,404.454 Personen wählen. Rund 150.000 davon hatten in Niederösterreich einen Nebenwohnsitz. Für ein Mandat brauchte man damals rund 14.000 Stimmen; die Nebenwohnsitzer entscheiden also über bis zu zehn Mandate.