Gemeindewohnungen: Treffsichere Sozialpolitik lässt sich damit nicht machen
An der Adresse Fontanastraße 1 in Wien-Oberlaa stand bis vor einigen Jahren die Zentrale der Austrian Airlines. Dann zog die Fluglinie aus, das Gebäude wurde 2013 abgerissen und der Platz geräumt. Mittlerweile hat sich die Natur einen Teil des Areals zurückerobert: Am Donnerstag Vormittag vergangener Woche riecht es hier, am südlichen Stadtrand Wiens, schon verheißungsvoll nach Frühling. Die Sonne scheint, Vögel zwitschern, ein paar gelbe Krokusse sind gerade aufgeblüht, und zwischen Maulwurfshügeln und dem noch winterlich fahlen Gestrüpp hoppeln zwei Feldhasen auf der Suche nach dem ersten frischen Grün. Von der kleinen Anhöhe am nördlichen Ende des Grundstücks aus hat man freien Blick über Wiesen und Felder. Die Großstadt scheint unendlich weit entfernt; nur ein leises, monotones Rauschen erinnert daran, dass ein paar Ecken weiter der Verkehr tobt.
Aber mit der Ruhe wird es bald vorbei sein, und die Hasen müssen sich wohl eine andere Wiese suchen. In der Fontanastraße 1 soll sobald wie möglich mit Bauarbeiten begonnen werden. Geplant ist ein Wohnhaus mit 120 Einheiten - und zwar nicht irgendein Wohnhaus, sondern ein Gemeindebau. Bürgermeister Michael Häupl höchstpersönlich kündigte das bei der Klubtagung der SPÖ Wien vor Kurzem an. Das Projekt in der Fontanastraße soll erst der Anfang sein: Insgesamt will Wien in den nächsten paar Jahren 2000 neue Gemeindewohnungen errichten.
Der "Gemeindebau" als idyllisches SPÖ-Kopfkino
Für seinen Vorstoß erhielt Häupl tosenden Applaus. Allein das Wort "Gemeindebau“ reicht bei den Wiener Sozialdemokraten, um eine wohlige Assoziationskette in Gang zu setzen. Wie der Vatikan für die katholische Kirche steht der Gemeindebau für die Triumphe des roten Wien. Im Kopfkino der Genossen ploppen dazu seit fast 100 Jahren dieselben idyllischen Bilder auf: fleißige, brave Arbeiterfamilien, die in preisgünstigen, für immer mietergeschützen Wohnungen ihr kleines Glück finden. Braucht ein Genosse in der Bundeshauptstadt ein Argument für die unanfechtbare Großartigkeit der eigenen Partei, landet er spätestens im zweiten Satz beim Wohnbau. "Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen“, wusste schon der damalige Bürgermeister Karl Seitz im Jahr 1930 bei der Eröffnung des Karl-Marx-Hofes.
Trotz dieser historischen Verpflichtung galt die Ära des Gemeindebaus eigentlich als beendet. Der bis dato letzte Neubau wurde 2004 eröffnet - vom damaligen Wiener Wohnbaustadtrat Werner Faymann. Der aktuelle Amtsinhaber, Michael Ludwig, gilt nicht gerade als großer Fan städtischer Bauherrentätigkeit. Wie er mehrfach betonte, hält er andere Formen des sozialen Wohnbaus, etwa durch Genossenschaften, für zeitgemäßer. Aber im Herbst wird gewählt, und Langzeitbürgermeister Michael Häupl kämpft um ein gutes Ergebnis zum Abschluss seiner Karriere. Da liegt es nahe, den Mythos wieder auszugraben. Ebenfalls in Rust hatte Häupl auch einen zweijährigen Stopp für Gebührenerhöhungen versprochen. Wie man sieht, steckt der Mann schon sehr tief im Wahlkampfmodus und gibt sich keine Mühe, das zu verbergen.
Die Opposition sieht im Gemeindebau-Revival folglich einen PR-Gag. ÖVP-Landesparteichef Manfred Juraczka sprach gar vom "Syriza-Populismus“ des Bürgermeisters. Tatsächlich sind die bisher fix versprochenen 120 Wohnungen in Oberlaa kein besonders kraftvolles Statement in einer Stadt, die pro Jahr um mehr als 20.000 Menschen wächst. Doch als Instrument der Sozialpolitik taugt der Gemeindebau ohnehin schon lange nicht mehr. Er ist bloß noch eine Chiffre für die gute alte Zeit der Wiener SPÖ - ideologisches Betongold, sozusagen.
Die historischen Verdienste dieser Instution sind unbestritten: Als in den 1920er-Jahren die ersten Gemeindebauten errichtet wurden, kam das einer Revolution gleich. Zum ersten Mal gab es billigen und dennoch komfortablen Wohnraum für die besitzlosen Arbeiter. Zigtausende Menschen waren zuvor obdachlos gewesen oder hatten sich auf engstem Raum unter katastrophalen hygienischen Bedingungen in Zinshäusern zusammengepfercht. In der Gemeindewohnung gab es nun Fließwasser und eine eigene Toilette; es gab Höfe, in denen die Kinder spielen konnten; es gab Büchereien, Wäschereien und Sportanlagen. Den Mietern muss das alles wie ein Vorgriff auf das Paradies erschienen sein. Das Geld dafür holte sich die Politik aus einer Vermögenssteuer, die unter anderem für Luxusimmobilien, Pferde, Champagner, Personal und andere Insignien des Reichtums zu bezahlen war. Und das Konzept ging auf: Bis 1934 schaffte es die SPÖ, 61.000 Wohnungen für ein Zehntel der Stadtbevölkerung bereitzustellen.
500.000 leben in Gemeindebauten
Fast 100 Jahre später besitzt die Stadt rund 2000 Gemeindebauten, gut verteilt über alle 23 Bezirke und viele in besten Lagen. 500.000 Menschen leben in diesen Häusern, also fast jeder dritte Wiener. Die Miete pro Quadratmeter liegt im Schnitt bei 5,30 Euro inklusive Betriebskosten - das ist noch immer sehr billig. Allerdings wird dieser Wert von günstigen Altverträgen gedrückt. Neu einziehende Mieter zahlen heute immerhin schon 7,50 Euro pro Quadratmeter.
Sozialer Wohnbau sollte, wie die Bezeichnung andeutet, eine soziale Komponente haben. Diesen Anspruch erfüllt der Gemeindebau seit mindestens fünf Jahren nicht mehr. Damals verfügte Stadtrat Ludwig, zufälligerweise ebenfalls im Wahlkampf, eine kräftige Anhebung der Einkommensgrenzen für Bewerber. Wer als Single in einen Gemeindebau ziehen möchte, darf seither bis zu 3140,71 Euro monatlich verdienen - und zwar netto, 14 Mal im Jahr. Für ein Paar liegt das Limit bei fast 4700 Euro. Mit einem solchen Einkommen landet man schon recht weit oben in der Mittelschicht. Brauchen Menschen mit gut bezahlten Jobs wirklich eine von der Allgemeinheit alimentierte Unterkunft?
Michael Ludwig freut sich jedes Mal, wenn er diese Frage hört. Dann kann er abspulen, was in der Wiener SPÖ sozusagen zum Glaubensbekenntnis gehört: "Mir ist die soziale Durchmischung wichtig. Ich möchte signalisieren, dass auch der gehobene Mittelstand die Möglichkeit hat, eine Gemeindewohnung zu bekommen.“ Zustände wie in den Pariser Vororten, wo nur noch die Armen wohnen, solle es in Wien nicht geben.
Man kann diesem Argument durchaus folgen. Obwohl es natürlich auch in Wien Gegenden gibt, in denen ein wohlbestallter Bürger nicht freiwillig leben würde, konnte die Bildung von Ghettos bisher verhindert werden. Sehr absurd ist allerdings die Tatsache, dass finanzielle Not bei der Zuteilung einer Gemeindewohnung überhaupt keine Rolle mehr spielt. Um einen sogenannten Vormerkschein zu bekommen - also auf der Warteliste für eine Wohnung zu landen -, muss der Bewerber nämlich auch noch eines von sieben Kriterien erfüllen. Zur Auswahl stehen etwa: "Ihre derzeitige Wohnung ist überbelegt.“ Oder: "Ihre derzeitige Wohnung ist gesundheitsschädlich.“ Nicht dabei ist das für den Bezug einer Sozialwohnung eigentlich nächstliegende Argument: Armut. Wer auf dem freien Markt keine bezahlbare Unterkunft findet oder sich seine aktuelle Behausung nicht mehr leisten kann, hat deshalb noch lange keinen Anspruch auf eine Gemeindewohnung. Das würde den Kreis der Interessenten zu sehr vergrößern, meint der Stadtrat. "Jeder wohnt ja lieber kostengünstig.“ Für Notfälle gebe es außerdem die Wohnbeihilfe.
Äußerst großzügige Weitergaberegeln
Fakt ist, dass die Stadt etwas tun musste, um die Zahl der Bewerber (derzeit: 27.000) nicht unkontrollierbar ansteigen zu lassen. Die Wartezeit eines durchschnittlichen Vormerkschein-Besitzers liegt schon jetzt bei über eineinhalb Jahren. Es herrscht nämlich kaum Bewegung unter den Mietern. Hat man einmal ein warmes Plätzchen ergattert, rückt man es für gewöhnlich nicht mehr raus. Möglich wird das unter anderem durch äußerst großzügige Weitergaberegeln. Eine Wohnung im Gemeindebau kann man, kein Witz, sogar vererben, und zwar mittels Testament, wie ein Schlossbesitzer.
Sozial treffsicher ist dieses System natürlich nicht mehr. Beate Meinl-Reisinger, Nationalratsabgeordnete der NEOS und Chefin der Wiener Landespartei, belegt das mit eigenen Erfahrungen: "Meine Großmutter hatte eine Gemeindewohnung in Liesing und saß nach dem Tod meines Großvaters allein auf 120 Quadratmetern, obwohl sie als ehemalige Gymnasiallehrerin und Arztwitwe eine sehr gute Pension bekommt.“ Sie habe selbst eine Zeitlang bei der Oma gelebt, erzählt Meinl-Reisinger. "Aber ich hätte ein komisches Gefühl gehabt, wenn ich versucht hätte, diese Wohnung zu übernehmen. Für Menschen wie mich ist das eigentlich nicht gedacht.“
Andere haben dieses Gefühl nicht. Regelmäßig muss sich der Grün-Abgeordnete Peter Pilz prügeln lassen, weil er mit Gattin in einer - noch dazu sehr billigen - Gemeindewohnung lebt. Pilz begeht allerdings keinen Gesetzesbruch. Das Einkommenslimit gilt nur für Neuverträge. Später darf der Mieter verdienen, soviel er will.
Seit Jahrzehnten holen sich Kritiker blutige Nasen bei dem Versuch, wenigstens einen Hauch von Privatwirtschaft in die roten Betonburgen zu bringen. ÖVP-Stadtchef Juraczka schlägt vor, jene Bewohner, die über den Einkommenslimits liegen, gesondert zu behandeln. "Diese Mieter könnten einen marktüblichen Zins bezahlen oder die Wohnung kaufen“, ist seine Idee. Michael Pisecky, Obmann des Fachverbands der Immobilientreuhänder, regt an, private Investoren mit der Verdichtung bestehender Häuser zu beauftragen. "Der Dachausbau könnte privat finanziert und dann auch privat verkauft werden. Damit würden wir zusätzlichen Wohnraum gewinnen, Arbeitsplätze schaffen und Investitionen auslösen. Auch die soziale Durchmischung wäre gewährleistet.“
Der zuständige Stadtrat macht bei solchen Vorschlägen ein Gesicht, als würde von ihm verlangt, mitten im Winter in die Donau zu hüpfen. "Was hätte es für einen Vorteil, wenn die Privaten einen Fuß im Gemeindebau haben und die Privatisierung vorantreiben?“, fragt er erbost. Die Stadt baue selbst sehr attraktive Dachgeschoßwohnungen. "Und im Unterschied zu den Privaten verkaufen wir sie nicht teuer, sondern stellen sie den Durchschnittsverdienerinnen und -verdienern zur Verfügung.“
Testimonials und Schandflecke
Private Investments wären aber vielleicht hilfreich bei der Sanierung einiger alter Klötze. Wenn Wiens Politiker zum Fototermin in einen Gemeindebau laden, tun sie das fast ausschließlich in den imposanten Prestigebauten aus der Zwischenkriegszeit. Diese wurden mehrheitlich perfekt saniert und geben wunderschöne Testimonials für den sozialen Wohnbau ab. Doch die ganze Wahrheit ist das leider nicht. Ein erheblicher Teil der städtischen Immobiliensammlung verdient ohne Abstriche die Bezeichnung Schandfleck. Manche Häuser sind 50 oder 60 Jahre alt und wurden seit der Eröffnung nicht einmal oberflächlich saniert. Wiener Wohnen sitzt bereits auf einem Schuldenberg in der Höhe von 2,7 Milliarden Euro; da kann man nicht auch noch jedes Haus alle 20 Jahre frisch anmalen. Gibt es keine gravierenden Mängel an der Bausubstanz, die eine Sanierung erforderlich machen, dürfen außerdem die Mieter mitbestimmen. Sie müssen über die Betriebskosten ja auch mitzahlen. Viele wollen das nicht, also darf der Putz weiter bröckeln.
Mitunter stellt sich dann heraus, dass zu lange gewartet wurde. Einige Gemeindebauten mussten bereits abgerissen werden, weil eine Sanierung nicht mehr möglich war. Die Aufregung ist jedes Mal groß. Das Zerstören eines Gemeindebaus gilt in Wien als eine besonders ruchlose Tat - obwohl den betroffenen Mietern selbstverständlich umgehend Ersatz geboten wird.
Laut Umfragen sind die Menschen im Gemeindebau recht glücklich mit ihrer Wohnsituation. Dennoch ist die Stadt Wien, also die SPÖ, in ihrer Rolle als größte Vermieterin des Landes sehr verwundbar. Jede Änderung in den Statuten, jede kleinste Anpassung kann sich bei der nächsten Wahl fürchterlich rächen. Ohnehin sind die Nutznießer der billigen Bleiben politisch keine sichere Bank mehr. Eine Analyse des Sora-Instituts nach der Gemeinderatswahl 2010 ergab, dass die FPÖ unter Gemeindebaubewohnern 29 Prozent der Stimmen erhalten hatte - über drei Prozentpunkte mehr als in der Gesamtabrechnung.
Es gilt als ungeschriebenes Gesetz, dass die SPÖ Wien keinen Wahlkampf durchzieht, ohne sich speziell dem Thema Gemeindebau zu widmen. Die aktuellen Neubaupläne entstanden aber offenbar ziemlich freihändig. Woher das Geld für die angekündigten 2000 Wohnungen kommen soll, ist nicht klar. Stadtrat Ludwig beharrte darauf, dass sein Budget nicht belastet werden dürfe. Also zauberte Finanzstadträtin Renate Brauner in ihrem Ressort einen sogenannten "Sondertopf“ mit 25 Millionen Euro hervor. Das reicht für 2000 Einheiten aber bei Weitem nicht. Jetzt werde man einmal die 120 Wohnungen in Oberlaa errichten, sagt Michael Ludwig. Danach sehe man weiter. "Wenn dieses Geld ausgeschöpft ist, gibt es die Zusage, weitere Finanzmittel zuzuschießen.“
Aber das wird alles erst nach der Gemeinderatswahl passieren. Oder vielleicht auch nicht.