Sie sind der ranghöchste Militär in der EU und waren Generalstabschef in Österreich. Was würde aus Ihrer Sicht passieren, wenn sich Österreich aus dem Raketenschutzschirm Sky Shield zurückzieht?
Robert Brieger
Wir würden in den bedauernswerten Zustand zurückfallen, über keine wirksame Luftabwehr zu verfügen. Ich glaube nicht, dass das wünschenswert ist.
Es ist eine Initiative aus Deutschland, 21 Staaten nehmen teil. Ist sie mit der Neutralität vereinbar?
ist seit 2022 Vorsitzender des Militärausschusses der Europäischen Union, das Beratungsgremium für Außen- und Sicherheitspolitik in der EU. Im Mai folgt ihm der Ire Seán Clancy nach. Vor seiner Amtszeit in Brüssel war Brieger Generalstaabschef in Österreich.
Brieger
Ja. Der Zweck ist, die notwendige Flieger- und Drohnenabwehr in kurzer, mittlerer oder größerer Reichweite gemeinschaftlich zu beschaffen und so günstigere Konditionen zu erzielen. Und einen Datenaustausch zu pflegen – der Luftraum endet ja nicht in Neusiedl. Wir schauen jetzt schon über die Grenze, diesen Datenaustausch müsste man verdichten.
Wäre ein Rückzug ein Schaden für die Reputation, Finanzen und Sicherheit Österreichs?
Brieger
Definitiv.
Die FPÖ spricht sich gegen Sky Shield aus. Müsste sie davon absehen?
Brieger
Wenn man mich fragte, würde ich empfehlen, diesen Prozess nicht zu unterbrechen, weil er im Interesse der Sicherheit Österreichs ist. Dass solche sicherheitspolitischen Grundfragen zum Gegenstand innenpolitischer Auseinandersetzungen gemacht werden, ist generell bedauerlich.
Mario Kunasek hat Sie zum Generalstabschef ernannt, in seiner Biografie haben Sie ihn explizit als Verteidigungsminister gelobt. Hört der Freiheitliche nicht auf Ihre Expertise?
Brieger
Ich bin nicht sicher, ob Mario Kunasek als steirischer Landeshauptmann bei den Koalitionsverhandlungen das Sagen hat. Es ist bekannt, dass ich Kontakte zur freiheitlichen Partei habe. Und meine Ansichten zu Sky Shield wie auch in verschiedenen anderen Grundhaltungen sind dort bekannt.
Meinen Sie die Grundhaltung zu Russland? Die FPÖ fiel mit ihrer Russlandnähe auf.
Brieger
Ich fühle mich keiner politischen Partei verpflichtet und bin keiner zugehörig. Mit Russlandnähe habe ich überhaupt nichts am Hut.
Am Montag wurde US-Präsident Donald Trump angelobt. Gibt es etwas, das Sie an seiner Rede überrascht hat?
Brieger
Nicht wirklich. Man ist vom US-Präsidenten gewohnt, dass nicht alle Ankündigungen eins zu eins umgesetzt werden. Auch was die Kontrolle Grönlands anbelangt: Wir gehen nicht davon aus, dass es zu einem militärischen Einsatz kommt. Es gibt aber andere Möglichkeiten, zum Beispiel ökonomische, an Einfluss zu gewinnen. Das wird auch andere Großmächte interessieren. Denn mit dem Abschmelzen der Polkappen wird der Zugang zu Ressourcen geöffnet und eine Art Wettrennen zum Nordpol stattfinden.
Wenn Grönland sicherheitspolitisch so relevant ist, hätte Europa stärker präsent sein müssen?
Brieger
Grönland ist ein selbstverwaltetes Territorium, das grundsätzlich zu Dänemark gehört, aber nicht Teil der EU ist. Es muss zunehmend zu einem Handlungsprinzip der EU werden, seine Interessen stärker zu vertreten – das beschränkt sich nicht nur auf Grönland.
Es passiert insofern, als wir die Rapid Deployment Capacity geschaffen haben, eine eigenständige Eingreiftruppe. Damit soll die EU in der Lage sein, Krisenmanagement auch außerhalb ihres Territoriums zu betreiben. Natürlich im Bewusstsein, dass einem Einsatz alle 27 Mitgliedstaaten zustimmen müssen.
Das ist immer schwierig.
Brieger
Eigentlich sollten die Entscheidungsfindungsprozesse beschleunigt werden. Es gibt auch Berührungspunkte zwischen Artikel 5 der NATO, also dem Bündnisfall, und Artikel 42.7 des EU-Vertrags, der Beistandspflicht …
Die Artikel besagen im Wesentlichen, dass Staaten einen angegriffenen Partner unterstützen müssen.
Brieger
Die Frage ist: Wenn ein Mitgliedstaat der EU, der auch NATO-Mitglied ist, territorial angegriffen wird, wie reagieren dann beide Organisationen? Hier braucht es eine synergetische Zusammenarbeit.
Und wie?
Brieger
Bis März wird ein Weißbuch ausgearbeitet, in dem offene Fragen der Beistandspflicht geklärt werden: Wie teilen sich Aufgaben auf, wofür müssen wir EU-Kapazitäten bereithalten? Wir gehen natürlich davon aus, dass die kollektive Verteidigung grundsätzlich eine Aufgabe der NATO ist. Aber es gibt zum Beispiel auch Cyberbedrohungen oder den Schutz kritischer Infrastruktur. Die EU sollte diese Lücken füllen – natürlich als Ergänzung zur NATO.
Österreich ist keine Insel des Friedens.
Robert Brieger
Welche Auswirkungen wird das auf Österreich haben?
Brieger
Österreich ist ein Transitland und daher als EU-Mitgliedstaat gefordert, einen Beitrag zu leisten.
Zum Beispiel wie?
Brieger
Indem es günstige Voraussetzungen für militärische Mobilität schafft. Durch möglichst unbürokratische Durchfahrts- und Überfluggenehmigungen, für den Schwerverkehr geeignete Eisenbahnstrecken oder Tunnel und indem es möglichst gleiche Prozeduren im Verbund mit anderen Mitgliedstaaten gibt.
Zum Teil gibt es jetzt schon einen Aufschrei in Politik und Bevölkerung, wenn fremde Militärgüter durch Österreich fahren.
Brieger
Ja. Man muss der Bevölkerung klarmachen, dass Sicherheit nicht nur ihren Preis hat, sondern dass sie allein als Einzelstaat nicht mehr zu gewährleisten ist. Wir haben seit geraumer Zeit eine erfolgreiche Mitgliedschaft in der Friedenspartnerschaft der NATO, wir müssen Berührungsängste abbauen. Österreich ist keine Insel des Friedens.
Muss man nicht auch festhalten: Die EU kann sich nicht ohne NATO schützen?
Brieger
Natürlich, und auch die europäischen Mitglieder der NATO können sich ohne die Vereinigten Staaten nicht selbst schützen, weil ein erheblicher Anteil der Kapazitäten von den USA abgedeckt wird. Aber deswegen gibt es einen Katalog an Fähigkeiten, die es aufzubauen gilt. Um die Stärke der EU zur Wirkung zu bringen, sollte man auch Großprojekte realisieren, wie das deutsch-französische Kampfflugzeug der Zukunft.
Die beiden Länder wollen einen Jet entwickeln, aber das Projekt stagniert.
Brieger
Gerade in der Anfangsphase ist es schwierig, Einigkeit darüber zu erzielen, wer welche Komponenten zu welchen Bedingungen fertigt. Aber ich glaube, dass die Europäer über ihren Schatten springen müssen. Sonst werden wir von Amerika und China hoffnungslos abgehängt.
Nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine kam es in der EU zur Zeitenwende. Wird sie jetzt durch die Budgetprobleme wieder zurückgenommen werden?
Brieger
Es ist vorstellbar, dass insbesondere bei einem im Jahr 2025 nicht ganz unwahrscheinlichen Waffenstillstand in der Ukraine das öffentliche Interesse und die Unterstützung nachlassen könnten. Man muss der Bevölkerung erklären: Ich kann noch so ein gutes Sozialsystem haben, aber wenn ich militärisch erpressbar bin, dann ist das letztlich nicht nachhaltig.
Sie halten also einen Waffenstillstand 2025 für nicht unwahrscheinlich?
Brieger
In aller Vorsicht ausgedrückt: Trump hat Ankündigungen gemacht, und es gibt da und dort Signale auf beiden Seiten, dass man sich etwas vorstellen könnte.
In Sicherheitskreisen wird beobachtet, dass Russland seinen Verteidigungsapparat finanziell und personell weiter zu stärken versucht. Damit steigt die Sorge, dass Russland bei der Ukraine nicht Halt macht.
Brieger
Diese Sorgen teile ich, jedenfalls graduell. Ich spüre vor allem bei den baltischen Staaten und Polen ein sehr starkes Bewusstsein, dass Russland unter Umständen die Ambition hat, ehemalige sowjetisch beherrschte Gebiete wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Und dadurch ist in diesen Staaten auch die Wehrbereitschaft sehr hoch.
Im Vorjahr berichtete der „Standard“ über das Facebook-Profil eines Ex-Polizisten, der geschichtsrevisionistische Inhalte verbreitet hat. Er teilte auch einen Beitrag über das Rheinwiesenlager der Alliierten, in dem ab April 1945 deutsche Kriegsgefangene festgehalten wurden. Bereuen Sie Ihren Kommentar zu diesem Posting?
Man kann solche Dinge nicht ungeschehen machen, daher ist es auch nicht besonders sinnvoll, es zu bereuen. Auch für Personen, die im öffentlichen Interesse stehen, gilt das Recht auf freie Meinungsäußerung. Ich habe im Wesentlichen darauf hingewiesen, dass dieser Prozess einer nicht menschenrechtskonformen Behandlung von Kriegsgefangenen relativ spät aufgeklärt wurde, aber man hat dann medial mehr daraus gemacht oder bewusst sehr viel hineininterpretiert, was überhaupt nicht in meiner Absicht war.
Die Aufregung gab es auch deswegen, weil der Ex-Polizist holocaustleugnende Inhalte geteilt hat und das Rheinwiesenlager oft für Verschwörungstheorien über manipulierte Opferzahlen herhalten muss. Sehen Sie diese Sichtweise nicht?
Brieger
Meiner Auffassung nach ist niemand für die Postings eines Kontakts in den sozialen Medien verantwortlich. Ich habe mich mit diesem Kontakt nicht so intensiv befasst, dass mir irgendeine geschichtsrevisionistische oder holocaustleugnende Seite von ihm aufgefallen wäre. Wenn ich das festgestellt hätte, hätte ich den Kontakt schon früher gelöscht, als ich es dann tatsächlich getan habe.
Für den Inhalt ist niemand anderer verantwortlich, aber dafür, ob man kommentiert und Kontakt hält schon.
Brieger
Daher habe ich in dem konkreten Fall den Kontakt gelöscht. Ich habe ja auch damals in einer öffentlichen Stellungnahme meine Sichtweise dargelegt, und es hat auch in Brüssel dazu Gespräche gegeben.
Im Mai endet Ihre Funktionsperiode. Was ist die größte Lehre, die Sie aus den vergangenen drei Jahren ziehen?
Brieger
Es ist mehr Wunsch als Lehre: dass sich die europäischen Akteure stärker zusammenschließen. Es sollte gelingen, diese europäische Verteidigungsunion auf ein starkes gemeinsames Fundament der vertrauensvollen Zusammenarbeit zu stellen.
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Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.