Integration
Oberster Muslim: „Nicht akzeptabel, einzuwandern und Unruhe zu stiften“
Von Straßenkämpfen junger Muslime bis zum Kopftuchstreit in Schulen. Der Islam ist Dauerbrenner: Jetzt spricht Ümit Vural, Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft.
Von Clemens Neuhold
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Lassen Sie uns mit der Bandenkriminalität in Wien beginnen. Täter und Opfer sind junge Muslime aus Syrien, Afghanistan, Tschetschenien oder Türkei.
Vural
Diese Konflikte, die auf sozialen Medien angeheizt werden und zu realer Gewalt auf den Straßen führen, beobachte ich mit Besorgnis. Ich verstehe die Reaktionen von Menschen, die sagen, dass es nicht akzeptabel ist, in ein Land einzuwandern und Unruhe zu stiften, statt die Chancen zu ergreifen, die sich hier bieten. Die Berichte verunsichern nicht nur die Mehrheitsbevölkerung, sondern auch Muslime, die hier friedlich leben.
Schreitet auch die Islamische Glaubensgemeinschaft ein?
Vural
Wir haben aktiv Kontakt zu Respektspersonen aus den Communities und Jugendarbeitern gesucht und unsere Moscheen aufgerufen, präventiv auf Jugendliche und Eltern zuzugehen. Mehr können wir nicht tun. Denn diese Gruppierungen sind nicht in unsere Gemeinden integriert.
Das zentrale Gewaltproblem dieser jungen Männer ist ihr Verständnis von Ehre. Nach gegenseitigen Beleidigungen kracht es, aus Angst, vor der Gruppe oder Familie das Gesicht zu verlieren. Dazu kommt ein Gefühl religiöser Überlegenheit über die jeweils andere Gruppe.
Vural
Es ist völlig inakzeptabel, dass Gruppierungen ihren fehlgeleiteten religiösen oder ethnischen Stolz als Vorwand nutzen, um Konflikte zu schüren und Gewalt zu rechtfertigen. Ein solches Überlegenheitsdenken und verzerrte Auffassungen von Männlichkeit lehne ich entschieden ab. Als IGGÖ sind wir unter anderem für den islamischen Religionsunterricht zuständig, wo wir Jugendlichen vermitteln können, dass es unislamisch ist, andere religiös abzuwerten, und dass man sich gleichzeitig als muslimisch und österreichisch identifizieren kann. Leider können viele Kinder dem Unterricht gar nicht richtig folgen, weil sie nicht ausreichend Deutsch sprechen. Dieses Problem können wir als IGGÖ nicht lösen. Hier wünsche ich mir mehr Anstrengungen von der öffentlichen Hand.
„In sechs Wiener Bezirken sind über 50 % der Schüler muslimisch“, lautete eine Schlagzeile im Juni. „Die ÖVP schlägt Alarm“, hieß es in der Unterzeile. Wie geht es Ihnen damit, wenn Ihre Religion die Alarmglocken schrillen lässt?
Vural
Für mich ist wesentlich, dass alle Kinder eine gute Ausbildung bekommen. Dabei sollte es nicht um die Zugehörigkeit zu einer Religion gehen. In den Debatten der letzten Jahre werden der Islam und die österreichische Gesellschaft immer mehr zu Gegenpolen stilisiert.
Das hat wohl auch mit gescheiterter Integration bis hin zu Bandenkriminalität zu tun.
Vural
Seit den Fluchtbewegungen 2015 werden viele gesellschaftspolitische Debatten auf dem Rücken des Islam ausgetragen. Es sind Menschen aus vielen verschiedenen Teilen der Welt zugewandert, die tatsächlich unterschiedliche Traditionen haben – auch religiöser Natur. Tradition widerspricht Religion nicht unbedingt, aber sie kann ihr widersprechen. Wir müssen klarer herausarbeiten, wo das der Fall ist.
Bitte um ein konkretes Beispiel.
Vural
Nehmen wir die Schule. Höchste Priorität hat es, bildungspolitische Ziele zu erreichen. Eine Teilnahme an schulischen Projekten sollte nicht durch ungerechtfertigte Verweise auf Tradition abgelehnt werden.
Ein Ex-Schuldirektor beschrieb genau das. Muslimische Eltern hätten ihren Kindern die Klassenfahrt zur Ausstellung von Egon Schiele untersagten. Dessen Aktbilder seien „haram“ (laut Islam verboten). Ist das okay?
Vural
Natürlich nicht. Der Bildungsauftrag der Schule umfasst nicht nur akademische Inhalte, sondern auch die Förderung der sozialen und kulturellen Teilhabe. Ein konstruktiver Dialog zwischen Schule und Eltern kann solche Vorkommnisse vermeiden. Unsere Religionslehrer spielen hier als Vermittler eine Rolle.
Für manche Eltern und Mädchen ist auch der Schwimmunterricht zu schambehaftet.
Vural
Schwimmen zu lernen, ist ein Muss, weil es überlebenswichtig sein kann. Spezielle Badebekleidung kann Abhilfe schaffen, wenn sich Mädchen darin wohler fühlen. Wichtig ist, dass sie dann nicht gemobbt werden, was leider oft der Fall ist.
Warum erhitzt der Islam die Gemüter stärker als Orthodoxie oder Christentum?
Vural
Weil er im öffentlichen Diskurs häufiger mit negativen Beispielen in Verbindung gebracht wird. Auch wenn andere Faktoren dafür der Grund sein können, wie Kriegstraumata, fehlende Schulbildung, soziale Vernachlässigung. Muslime sind oft stärker von Pauschalisierungen betroffen als andere Minderheiten.
Kann man noch von einer Minderheit sprechen, wenn in manchen Wiener Schulen 100 Prozent Muslime sind?
Vural
Auf ganz Österreich bezogen schon. Ich bin ein Verfechter von Durchmischung. Wir brauchen mehr Begegnungen, um zu erkennen, wie ähnlich wir uns als Menschen sind. Stattdessen nehme ich wahr, dass viele in ihrer eigenen kleinen Welt leben und nur noch hören und sehen wollen, was dort propagiert wird.
Ist Durchmischung in unseren Städten nicht mittlerweile eine Illusion?
Vural
Da hängt viel von der Wohnraumpolitik ab. Wobei ich dazusagen muss, dass Menschen mit nichtösterreichisch klingendem Namen es oft schwerer haben, „bessere“ Wohnungen zu finden – ganz abgesehen von den hohen finanziellen Hürden.
Bei der Zusammenführung Tausender Familien aus Syrien ballt sich die Commuity in einzelnen Grätzeln.
Vural
Es geht längst nicht mehr nur um Inländer und Ausländer. Es geht um die Durchmischung unterschiedlicher Zuwanderergruppen und Religionen – auch innerhalb der Muslime. In einigen Bezirken gibt es eine Vielzahl von Moscheen, die aber oft nicht miteinander vernetzt sind. Wir arbeiten intensiv daran, den Austausch zu fördern.
Sie haben TikTok und Telegram angesprochen. Dort tummeln sich zahlreiche Internet-Prediger, die jungen Menschen in Videos Lebenstipps geben. Sie erklären, wie man „halal“ Zähne putzt oder warum man einer Christin nicht die Hand gibt. Wirken Ihre Moscheen dagegen nicht altmodisch?
Vural
Was Social Media bei Menschen bewirkt, ist eine riesige Herausforderung. Es geht dabei nicht um eine authentische Darstellung des Islam, sondern um Spaltung und Radikalisierung. Wir müssen Jugendliche immunisieren gegen das, was über diese Plattformen auf sie einprasselt.
Wie immunisieren Sie?
Vural
Wir bauen unsere eigenen Online-Aktivitäten aus, um genau diese Menschen zu erreichen, obwohl wir gegen diese Maschinerie kaum ankommen. Im Religionsunterricht können wir die Jugendlichen besser für problematische Inhalte auf Social Media sensibilisieren.
Über den Islam-Unterricht erreichen Sie fast die Hälfte der muslimischen Schülerinnen und Schüler nicht mehr. 40 Prozent sind laut dem Wiener Bildungsstadtrat abgemeldet.
Vural
Wie sieht es denn bei anderen Religionsgemeinschaften aus? Abmeldungen kommen vor allem dort vor, wo der Unterricht am Nachmittag stattfindet.
Es soll auch Eltern geben, die für ihre Kinder den Islam-Unterricht in der eigenen Moschee und Muttersprache vorziehen, mit noch traditionelleren Inhalten.
Vural
Da möchte ich dagegenhalten, dass die Zahl der Schüler in unserem Unterricht kontinuierlich steigt. Als ich 2018 als Präsident begann, hatten wir 75.000 Schüler, heute sind es über 100.000.
Braucht es einen Demokratieunterricht für alle, um Spannungen in der Gesellschaft abzubauen, wie es die NEOS fordern?
Vural
Der Religionsunterricht soll beibehalten werden. Darüber hinaus würde ich mehr politische Demokratiebildung für alle Schüler begrüßen. Es war aber unangemessen, diese Forderung im Kontext der gestiegenen Zahl muslimischer Schüler zu erheben.
Wie können Sie verhindern, dass Islam-Lehrer demokratiefeindliche Inhalte verbreiten?
Vural
In der Praxis gibt es da kaum Probleme. Es gibt mehrere Checks and Balances. Unsere rund 700 Lehrer sind Teil des Kollegiums und unterliegen der Kontrolle durch Fachinspektorinnen. Und Schüler reden ja mit ihren Eltern, die dann Kontakt mit dem Schulamt aufnehmen können.
Und wie verhindern Sie radikale Predigten in Moscheen?
Vural
Ein Schwerpunkt für meine zweite Amtsperiode bis 2028 ist die Ausbildung von Imamen in Österreich. Aktuell ist es nach wie vor so, dass Moscheen ihre Imame aus dem jeweiligen Herkunftsland einladen. Wir bestimmen dann, ob die Person qualifiziert ist. Von Beginn an verdeutlichen wir, dass es etwas anderes ist, Imam in Österreich zu sein als in der Türkei, in Bosnien oder im arabischen Raum. Aber wir wollen, dass unser geistlicher Nachwuchs künftig vollständig in Österreich ausgebildet wird.
Warum gibt es immer noch keine „Eigenbau“-Imame? Die sind seit 2015 im Islamgesetz vorgesehen.
Vural
Das liegt an der praktisch nicht vorhandenen Zahl von Absolventen des Studiums in Österreich und an den noch unzureichenden Deutschkenntnissen der zugewanderten Interessenten.
Werden Islam-Lehrerinnen gezwungen, ein Kopftuch zu tragen?
Vural
Das Gerichtsurteil, auf das Sie anspielen, besagt das Gegenteil. Die Lehrerin, die geklagt hat, hat jahrelang ohne Kopftuch unterrichtet.
Sie klagte, weil sie unverschleiert nicht in den Landesdienst überstellt wurde.
Vural
Diese Überstellung hing nicht nur von der IGGÖ ab, sondern von drei Stellen. Daher gehen wir in Berufung.
In den Gerichtsakten ist die Aussage des Fachinspektors für den Islam-Unterricht verbrieft, wonach das Kopftuch Pflicht sei für islamische Religionslehrerinnen.
Vural
Das ist seine persönliche Meinung. Ich verheimliche nicht, dass ich intern intensive Diskussionen darüber führe.
Fürchten Sie, dass Eltern ihre Kinder abmelden, wenn eine Lehrerin kein Kopftuch trägt?
Vural
Das ist ein sensibler Punkt, ja. Aber meine Haltung ist klar. Ich bin sowohl gegen den Zwang zum Kopftuch als auch gegen die Herabwürdigung von Frauen, die es nicht tragen. Ich möchte kein Präsident, Ehemann, Vater sein, der das eine kritisiert und das andere billigt. Es ist die persönliche Entscheidung jeder einzelnen Muslima.
Warum wurden dann bisher keine Frauen ohne Kopftuch eingestellt?
Vural
Es gab kaum Bewerbungen von Frauen ohne Kopftuch, aber es gibt Lehrerinnen, die es nach ihrer Einstellung abgenommen haben. Viele Studentinnen der Islamischen Religionspädagogik tragen kein Kopftuch. Daher ist es naheliegend, dass auch Frauen ohne Kopftuch in Zukunft unterrichten werden.
Ist eine Frau ohne Kopftuch eine echte Muslima?
Vural
Das Kopftuch ist muslimische Glaubenspraxis, aber kein Maßstab für Frömmigkeit. Gott möchte, dass Menschen ihren Weg aus Überzeugung und nicht durch Zwang wählen, da Zwang dem Fundament der Religion widerspricht.
Es gibt wohl einige Geistliche, die das anders sehen.
Vural
Das ist richtig. Umso wichtiger ist es, das Zwangsverbot theologisch zu untermauern. Jeder Zwang ist abzulehnen. Das müssen wir in alle Communities hineintragen.
Auf manche Hinterhofmoscheen haben Sie keinen Einfluss.
Vural
Das sind keine Moscheen, sondern Vereine, die außerhalb unserer Kontrolle religiöse Inhalte verbreiten. Unter unserem Dach versammeln sich die 350 anerkannten Moscheen des Landes.
Wie hat sich der Islam in Österreich durch die Flüchtlingswelle 2015 verändert?
Vural
Er ist noch diverser geworden. Wir müssen diese Vielfalt als Bereicherung sehen und keine Spannungen aufkommen lassen.
Wie es aktuell zwischen Syrern und Tschetschenen, aber auch Syrern und Afghanen der Fall ist.
Vural
Ja, leider. Aber diese Spannungen basieren nicht auf unterschiedlichen religiösen Ausrichtungen, sondern auf Perspektivlosigkeit und dem Wunsch nach eigener Aufwertung.
Von rund 800.000 Muslimen in Österreich stammen bald 100.000 aus Syrien. Wo beten Syrer, die den Islam praktizieren?
Vural
In bestehenden Moscheen in ihrer Nähe. Oder in einer der 30 arabischsprachigen Moscheen.
Im Wiener Stadtbild fällt die gestiegene Zahl an verhüllten Mädchen und Frauen auf. Ist der Islam in Österreich durch die neue Zuwanderung konservativer geworden?
Vural
In meinem Umfeld orte ich keinen verstärkten Trend dahingehend. Vereinzelt fällt es aber auch mir auf. Die Syrer folgen, genau wie die meisten seit Längerem hier lebenden Muslime, mehrheitlich der hanafitischen Rechtsschule. Aber Religion ist oft stark mit Tradition verbunden. Das kann Einfluss haben auf die Kleiderwahl.
Das eine ist die hanafitische Rechtsschule. Das andere ist die fundamentalistische Auslegung des Koran. Ein „Profan-Islam“, der den Alltag von Muslimen streng in „haram“ oder „halal“ einteilt.
Vural
Ich glaube nicht, dass das Ausdruck zunehmender Religiosität ist, sondern dass es sich dabei eher um eine Social-Media-Mode handelt. Da geht es auch viel um Identitätssuche.
Verstehen Sie Menschen, die den Islam wegen seiner Alltagsvorschriften speziell für Frauen mit Rückschritt verbinden?
Vural
Kleidervorschriften sind kein rein islamisches Phänomen. Denken wir an das Judentum zum Beispiel. Es gibt in vielen Religionen unterschiedliche Ausprägungen von Religiosität, von liberal über konservativ bis orthodox.
Steigt die Islamfeindlichkeit in Österreich?
Vural
Sie steigt seit Jahren kontinuierlich. Besonders seit dem 7. Oktober steigt nicht nur der Antisemitismus, sondern auch der antimuslimische Rassismus.
Der Gazakrieg hat bestehende Gräben vertieft.
Vural
Ich habe den Angriff der Hamas sofort aufs Schärfste verurteilt und mich für einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln ausgesprochen. Wir pflegen einen intensiven Austausch mit Politik, Behörden, Religionsgemeinschaften, auch der jüdischen. Im Vergleich zu anderen Ländern ist es uns, denke ich, gut gelungen, zu deeskalieren.
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Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.