ÖGK-Chef Huss: "Die Patientenmilliarde gibt es nicht"
profil: Die ÖGK hat nach einem profil-Bericht die Aufstockung der Psychotherapie auf Kassenkosten um ein Jahr auf 2022 vorverlegt. Warum?
Huss: Es war gut, dass wir hier noch einmal medialen Druck bekommen haben, damit die Dienstgeber zustimmen, das um ein Jahr vorzuziehen.
profil: Warum überhaupt zuerst die Verzögerung bis 2023?
Huss: Die Dienstgeber waren anfangs nicht überzeugt vom Ausbau. Wir wollten eigentlich eine sofortige Umsetzung, aber es stellte sich natürlich auch die Frage, ob wir genug Psychotherapeuten dafür haben. Die Umsetzung bis 2023 war dann ein Kompromiss. Nun sehen wir aber, dass der Bedarf durch Covid noch größer geworden ist und dass auch die nötigen Ressourcen vorhanden sind.
profil: Sie wollen so 1,23 % Prozent der Versicherten mit Psychotherapie versorgen, wird es darüber hinaus einen Ausbau geben?
Huss: Ziel war eine Leistungsharmonisierung über die Bundesländer. Mit diesen 1,23 % haben wir dann landesweit eine gute Versorgung. Natürlich ist der Bedarf in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich, da justieren wir noch nach. Ich glaube, dass wir in die psychosoziale Versorgung generell in den nächsten Jahren weiter investieren müssen. Da geht es aber nicht nur um Psychotherapie sondern beispielsweise auch um psychologische Leistungen und vor allem um multidisziplinäre Versorgungszentren für Kinder und Jugendliche.
profil: Wird es eine Aufhebung der Kontingente (Patienten, die maximal auf Kosten der Krankenkasse versorgt werden) geben?
Huss: Ja, ich kann mir das vorstellen, aber: Wenn wir sie aufheben, wäre es nicht mehr möglich, dass Psychotherapeuten sowohl Kassen- als auch Privatpatienten versorgen. Dann müssten sie sich entscheiden, wie es auch bei Ärzten der Fall ist. Das werden die meisten nicht wollen. Ich kann mit beiden Systemen leben.
profil: In den Plänen für die aktuelle Steuerreform ist eine Senkung der Krankenversicherungsbeiträge vorgesehen. Sie rechnen dadurch mit einem Verlust von 850 Mio. Euro für die ÖGK. Finanzminister Gernot Blümel hat zugesagt, das auszugleichen, beruhigt Sie das?
Huss: Ich habe die Entwürfe dazu nun bereits gesehen. Das Problem ist einfach, dass wir jedes Jahr davon abhängig sind, dass der Finanzminister uns das zurückgibt. Da sind wir dann am Gängelband. Für mich ist das eine Abkehr vom Versicherungsprinzip und ein massiver Mehraufwand etwa in der Lohnverrechnung. Durch die Steuerprogression würde man außerdem wiederum mehr Steuern zahlen, wenn man weniger KV-Beiträge zahlt. Das Modell ist einfach nicht praxistauglich. Ich denke, eine Entlastung ginge einfacher, wie zum Beispiel durch einen direkten Zuschuss. Wir versuchen da eine andere Lösung zu vorzuschlagen.
profil: Eine Einnahmequelle wäre ein Selbstbehalt für Ungeimpfte, die am Coronavirus erkranken: Sie sind dagegen, warum?
Huss: Ich bin dagegen, weil da würden mir viele Themen einfallen, wo wir plötzlich Selbstbehalt verlangen könnten, wenn sich jemand „gesundheitswidrig“ verhält: Raucher, Übergewichtige, Risikosportler – wo fängt das an, wo hört das auf? Das ist undenkbar in einem solidarischen Gesundheitssystem. Und in dem Fall ist es ja eigentlich eine Strafzahlung für eine nicht in Anspruch genommene medizinische Leistung. Das kann man nicht argumentieren. Das ginge nur, wenn wir eine Impfpflicht hätten. Wobei ich aber froh bin, dass wir keine haben.
Das Wahlarztsystem muss weniger attraktiv werden."
profil: Immer mehr Kassenarztstellen können nicht besetzt werden, vor allem am Land. Gleichzeitig gibt es immer mehr Wahlärzte, also Privatärzte. Was tun Sie dagegen?
Huss: Wir haben keinen Ärztemangel, sondern einen Kassenärztemangel. Wir haben ein sehr großzügiges Wahlarztsystem, wo die Wahlärzte auch mit uns abrechnen können, aber kaum Verpflichtungen haben. Darum müssen wir das System ändern. Jeder, der einen Kassenvertrag haben will, soll einen bekommen. Die, die das nicht wollen, sollen aber nicht mehr die Vorteile haben, die Wahlärzte heute haben. Sie sind dann wirklich nur mehr Privatärzte, die keine Rezepte ausstellen können, niemanden krankschreiben können und nicht mehr mit uns abrechnen können. Das Wahlarztsystem muss weniger attraktiv werden.
profil: Was hat die Zusammenlegung der Sozialversicherungen in Ihren Augen gebracht?
Huss: Einiges an Licht, einiges an Schatten. Die Leistungsharmonisierung, also einheitliche Leistungen über das Land anzubieten, funktioniert sehr gut. Es gibt natürlich noch Unterschiede, wir haben zum Beispiel immer noch neun verschiedene Ärzteverträge mit unterschiedlichen Leistungen, aber die gleichen wir noch an. Nachteil ist natürlich, dass die Interessen der Bundesländer ein bisschen unter die Räder gekommen sind. Sehr viele Strukturen im Gesundheitswesen sind einfach weiterhin föderal organisiert, Wirtschaftskammern, Ärztekammern, das Spitalswesen. Hier jetzt uns herauszureißen und zu zentralisieren, das bringt sehr große Herausforderungen. Wir wägen immer noch ab, wie weit der regionale Handlungsspielraum gehen soll. Wir Arbeitnehmer sind da eher für einen größeren, die Dienstgeber für einen kleineren. Das ist der nächste Punkt: Die ÖGK ist eine reine ArbeitnehmerInnen-Versicherung und die sollten nach dem Prinzip der Selbstverwaltung über ihre Beiträge entscheiden. In der ÖGK hat aber jetzt die Wirtschaftskammer die Mehrheit übernommen. Das sehen wir als das größte Problem.
profil: Geht sich die von Ex-Kanzler Kurz versprochene Patientenmilliarde bis 2023 aus?
Huss: Die Patientenmilliarde habe ich bis heute noch nicht gefunden. Wir steuern eher auf eine Minus-Milliarde als eine Plus-Milliarde zu in den nächsten fünf Jahren. Die ÖGK hat Verwaltungskosten von 400 Mio. Euro pro Jahr, da musste man über fünf Jahre die Kosten halbieren, um auf eine Milliarde zu kommen. Dass das nicht geht, ist jedem klar. Natürlich gibt es Einsparungspotenzial, das werden wir auch in zehn Jahren sehen, aber von einer Milliarde werden wir meilenweit entfernt sein. Die ÖGK ist die Summe aus neun Kassen, es wurde niemand gekündigt in den Landesstellen, die haben dasselbe Personal. Zusätzlich gibt es nun eine Hauptstelle mit 190 Mitarbeitern, die es vorher nicht gab. Momentan reden wir also eher von zusätzlichen Fusionskosten. Die Prognosen zu großen Einsparungen waren also an den Haaren herbeigezogen.