Dazu gibt es mit der FPÖ seit Jahrzehnten eine große Partei, die laut gegen die EU mobilmacht. Schon Ex-FPÖ-Chef Jörg Haider trommelte gegen die angebliche „Blutschokolade“, bis heute spielt die FPÖ offen mit dem Öxit, dem Austritt Österreichs. Zudem wirken die sogenannten EU-Sanktionen, die von der EU seinerzeit im Jahr 2000 bei der ersten ÖVP-FPÖ-Bundesregierung erlassen (und wenige Monate später wieder aufgehoben) wurden, lange nach und verstärken die Böses-Brüssel-gegen-armes-Österreich-Stimmung. Eine Opferrolle, in der sich Österreich traditionell wohlfühlt.
Die tiefer liegende Antwort auf die enorme Europa-Skepsis hierzulande ist anderswo zu finden: Der EU-Beitritt Mitte der 1990er-Jahre passierte zu einem Zeitpunkt, als der Strukturwandel der Wirtschaft voll einsetzte und die Globalisierung deutlich spürbar wurde. Die schwer defizitäre Verstaatlichte Industrie krachte, auch unter Skandalen, zusammen, wurde privatisiert, verkleinert und bekam neue, teils internationale Eigentümerstrukturen. Traditionsketten wie „Konsum“ verschwanden für immer. Arbeitsintensive Produktionsbetriebe wurden in andere Staaten mit niedrigeren Löhnen verlagert, ganze Sparten wie die Textil- oder Elektroindustrie schrumpften. Die Zahl der Arbeitsplätze verlagerte sich: weg vom industriell-produzierenden Bereich und weg von der Landwirtschaft – hin zum Dienstleistungssektor. Kurz: Österreichs Wirtschaft veränderte sich rasant, wurde internationaler, moderner – und härterem Konkurrenzdruck ausgesetzt, mit allen negativen Folgen, inklusive sinkender Löhne für Niedrigverdiener.
Keine Frage: Der Wandel der Wirtschaft wäre auch ohne EU-Beitritt passiert. Eine kleine, offene Volkswirtschaft wie Österreich hätte sich der Globalisierung nie widersetzen können (und das wohl auch nicht gewollt) – die viel zitierte heimelige „Insel der Seligen“ wäre ohnehin geöffnet worden. Sehr zum mittelfristigen Vorteil Österreichs übrigens, wie alle Wirtschaftsforscher vorrechnen können.
Dennoch ging der Strukturwandel der Wirtschaft mit gewissen Veränderungsschmerzen einher, auch in anderen Staaten – in Österreich fielen sie aber zeitlich mit dem EU-Beitritt zusammen. Und so war es seither sehr bequem für die Politik, für alle diese Veränderungsschmerzen „Brüssel“ verantwortlich zu machen. Darin waren sich auch die beiden staatstragenden Parteien SPÖ und ÖVP sehr schnell einig: Wir gegen Brüssel, an diesem Erfolgsmuster wollen auch wir mitnaschen.
Der niederländische Architekt Rem Koolhaas, einst Mitglied im „Rat der Weisen zur Zukunft Europas“, formulierte über die Europaskepsis einst den schönen Satz: „Die Argumente der EU-Gegner bestehen aus lauter Echos der Aussagen der politischen Klasse.“ Beispiele dafür sind speziell in Österreich viele zu finden, das Muster der politischen Verstärkung von Ängsten zieht sich durch den Umgang der Regierungsspitzen mit der EU. Schon der Beitrittsvertrag wurde von SPÖ und ÖVP als „Wunder“ verkauft, unter derartigen Superlativen tat es Österreich selten, dabei war es ein solides, aber stinknormales Verhandlungsergebnis. profil ätzte im März 1994 über die Beitrittsverhandlungen: „Während die nordischen Staaten mit kleinen, schlagkräftigen Teams anreisten, war Österreich mit Dutzenden Sozialpartnern, Wirtschaftskämmerern, Landeshauptleuten, Bauern, Adabeis vertreten – 90 Köpfe umfasste die Delegation. Die Japaner Europas kommen, wie die EU sogleich witzelte.“
Konsequenterweise eröffnete jedes Bundesland (bis auf Vorarlberg) sein eigenes Brüssel-Haus, so viel Klein-Klein muss sein. Vom guten Vorsatz, Österreichs Verwaltung europafit zu machen, blieb wenig über – das EU-Dach kam dazu, das österreichische Bund-Länder-Gemeinden-Wirrwarr blieb weitgehend unverändert.
Es ist ja viel bequemer, gegen „Brüssel“ auszurücken. Auch darin waren sich SPÖ und ÖVP einig – immer besonders dann, wenn es innenpolitisch ungemütlich wurde: Die SPÖ-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer und Werner Faymann etwa verkündeten nach SPÖ-Wahlniederlagenserien im Jahr 2008 in einem Brief an den damaligen „Krone“-Herausgeber Hans Dichand unterwürfig, dass es vor neuen EU-Grundlagenverträgen Volksabstimmungen geben werde. Über zwei Jahrzehnte später dasselbe Muster: ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz rückte mit Verve gegen den vermeintlichen „EU-Impfstoffbazar“ aus.
Dann darf sich eigentlich niemand über EU-Skepsis in der Bevölkerung wundern.