Österreichischer Integrationsfonds: Warum alle Nigerianer?
Die Operation lief unter „Sudoku“, nicht weil sie so rätselhaft war, das Kennwort hatte sich für die „Sonderkommission Dokumente“ angeboten. Im Oktober 2020 zogen in der Steiermark Dutzendschaften von Polizisten und IT-Spezialisten im Morgengrauen los, um einen Fälscherring auffliegen zu lassen. Wohnungen wurden durchsucht, Verdächtige abgeführt. Sie hatten Geld dafür genommen, unter falschem Namen beim Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) eine Deutschprüfung abzulegen und die erworbenen Zertifikate weiterzugeben. Ihre „Klienten“ nützten diese, um Sozialleistungen und Staatsbürgerschaften zu erschleichen.
Aufgeflogen war die unlautere Praxis, weil ein Nigerianer die A1- bis B1-Hürden mehrmals absolviert hatte. Nur seine Ausweise wechselten. Die Polizei nahm daraufhin Hunderte nigerianische Prüfungskandidaten unter die Lupe. In 184 Fällen hatten sie sich mit gefälschten Dokumenten ausgewiesen. Ein Teil davon konnte vier Verdächtigen zugeordnet werden.
Der Rest blieb ungeklärt. Politisch war die Causa gut zu vermarkten. Karl Nehammer höchstpersönlich gratulierte – damals noch Innenminister – zum „großen Schlag gegen den organisierten Sozialleistungsbetrug“.
Das Landesgericht für Strafsachen in Graz verurteilte drei Männer und eine Frau wegen Fälschens besonders geschützter Urkunden. Hier könnte die Episode einen würdigen Abschluss finden. Was die Öffentlichkeit nicht erfahren sollte: Die Polizei hatte stille, unfreiwillige Hilfsermittler eingespannt. Prüferinnen und Prüfer waren vom Vorstand des ÖIF angehalten, alle von Nigerianern vorgelegten Reisepässe zu fotografieren – und zwar tunlichst so, dass weder die Betroffenen selbst noch sonst jemand etwas davon mitbekam. Die Daten waren an eine polizeiliche Mailadresse weiterzuleiten.
„Warum alle Nigerianer?“ „Warum wir?“ Das Ansinnen, als verdeckte Zulieferer einzuspringen, habe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im ÖIF „sehr aufgebracht“, schildern Zeugen Anfang November vor dem Arbeits- und Sozialgericht in Wien. profil hat den Prozess beobachtet. Nun gibt es in der Causa ein – nicht rechtskräftiges – Urteil, das hinter die Mauern jener Institution blicken lässt, die sich als integrationspolitischer „Partner“ der Republik versteht. Der ÖIF ist nicht nur für die Zertifizierung von Deutschprüfungen und die Lizenzierung der Lehrkräfte zuständig, sondern soll Einwanderern Werte und Orientierung vermitteln. Wie passt das zusammen?
Das erwähnte Urteil verpflichtet den ÖIF, alle Unterlagen, allen voran das Amtshilfeersuchen der Landespolizeidirektion (LPD) Wien, die der ominösen Arbeitsanweisung zugrunde liegen, herauszurücken. Der Betriebsrat klagte, es sei nicht die Aufgabe von ÖIF-Mitarbeitern, „gegenüber ihren Prüflingen als Exekutivbeamte aufzutreten“. Die einschlägige Korrespondenz blieb ihm bis heute verschlossen. Dabei fand die Richterin deutliche Worte: Ein Auskunftsrecht sei umso mehr gegeben, als die Arbeitsanweisung von Prüferinnen und Prüfern ein „per se diskriminierendes Vorgehen“ fordere. Beigelegt ist der Streit noch nicht. ÖIF-Juristin Anja Gierlinger erklärte gegenüber profil, man beharre auf der Ansicht, „alle beteiligten Personen stets im nötigen Umfang über das Amtshilfe-Ansuchen der LPD Wien betreffend nigerianische Reisepässe informiert zu haben“. Man werde daher gegen das erstinstanzliche Urteil berufen.
Vertreten wird der ÖIF von der Finanzprokuratur, der Anwältin der Republik. Vor dem Arbeits- und Sozialgericht schildert ein Zeuge, er sei 2020 als Prüfer nach Graz beordert worden und habe dort erstmals mitbekommen, dass „irgendetwas läuft“. Die Polizeiaktion „Sudoku“ war gerade im Gange. Einen Betriebsrat habe es damals noch nicht gegeben, somit auch niemanden, der detailliert Auskunft hätte verlangen können. Zurück in Wien habe man ihm zugetragen, dass bei einem Führungskräfte-Jour-Fixe eine „Amtshilfe“ für die Polizei zur Sprache gekommen sei.
Bedenken habe die Teamleitung stets abgewehrt; es könne ja kündigen, „wem es nicht passt“.
Im Februar 2021 wird die LPD Wien beim ÖIF wegen „Amtshilfe“ vorstellig. Ermittlungen gegen nigerianische Urkundenbetrüger waren inzwischen auch in Wien in Gang gekommen. Von März bis Oktober 2021 werden ÖIF-Mitarbeiter angehalten, bei nigerianischen Staatsbürgern nicht bloß auf übliche Warnsignale zu achten, sondern alle als Quasi-Verdächtige zu betrachten. Im Oktober, kurz vor Beginn des Prozesses, erklärt der ÖIF-Vorstand die Aktion ohne weitere Erklärung für beendet. Warum? profil fragte bei der LPD Wien nach und erfuhr, dass man sich in der Causa bedeckt halte, „um laufende Ermittlungen nicht zu gefährden“. Anfang der kommenden Woche – nach Redaktionsschluss – werde man mehr sagen können. Auch die Frage, ob Sprachprüfer als Polizeiinformanten zum üblichen Modus Operandi gehören, bleibt offen.
Wie im ÖIF normalerweise bei Zweifeln an der Identität vorzugehen ist, legt die Prüfungsordnung fest. Tenor: Die Person sei darauf anzusprechen und mit ihrer Einwilligung zu fotografieren. Erhärtet sich ein Verdacht – wie im Fall jenes jungen Mannes, der sich als seine Mama verkleidet habe –, sei die Polizei zu rufen. Bei nigerianischen Reisepässen aber musste das hinterrücks passieren. „Dass es zu schwierigen Situationen, zu Aggressionen, Verzweiflung und Stress kommen kann, wenn vom positiven Zeugnis Existenzen abhängen, war mir immer klar. Aber nicht, dass wir auch Ermittler für die Polizei sind“, sagte eine Prüferin vor Gericht. „Dieses heimliche Vorgehen“ sei „sehr verstörend“ gewesen. Beschwerden, dass ein diskretes Ablichten von Reisepässen praktisch kaum zu bewerkstelligen sei, habe die Teamleitung nicht gelten lassen. „Wir haben den Tipp bekommen, Ausweise einzusammeln, damit auf die Toilette zu gehen und sie dort zu fotografieren.“ Danach habe man auf das Eintreffen der Beamten warten müssen; „das weitere Prüfungsgeschehen“ sei davon „völlig überlagert“ gewesen, so ein Betriebsrat.
ÖIF-Vizedirektor Roland Goiser erzählt im Zeugenstand, dass „Missbrauchsfälle zum Alltag“ zählen. Er persönlich habe das Schreiben der Polizei vom Februar 2021 ins Bundeskanzleramt mitgenommen, wo man sich regelmäßig mit dem Chef oder Mitarbeitern der Sektion II austausche. Bundeskanzler war damals noch Sebastian Kurz. Dort habe man ihm beschieden, „dass der ÖIF dem Ansuchen entsprechen soll, konkret, dass es vernünftig ist, das zu tun“. Für ihn habe sich dabei „überhaupt kein Problem gestellt“: „Wenn die LPD Wien auf uns zukommt, weil ein Fälscherring Sozialleistungen oder Aufenthaltstitel erschleicht, gehe ich davon aus, dass das korrekt ist.“ Die Gegenseite sieht es naturgemäß anders. „Ob die Weisung rechtmäßig ist, kann ich erst beurteilen, wenn ich die Grundlage kenne. Genau diese Information wird bis dato verweigert“, sagt Rechtsanwalt Peter Ringhofer, der dem Betriebsrat zur Seite steht.
Diskriminierung will man im ÖIF jedenfalls nicht erkennen. Im Gegenteil. Barbara Stadlbauer leitet den Bereich Sprachen. Jährlich meldeten sich 45.000 Personen zur Deutschprüfung an: „Es wäre nicht fair, wenn die einen sich total bemühen, um die Sprache zu lernen, sich zu integrieren und die Staatsbürgerschaft zu erwerben und andere einfach 300 Euro hinlegen.“ Für Betrüger wird auch der Betriebsrat wenig übrig haben. Ob jedoch die Prüfer des ÖIF als verlängerter Arm der Exekutive handeln müssen, noch dazu, ohne das zugrunde liegende Amtshilfe-Schreiben zu kennen, steht auf einem anderen Blatt. Vor dem Oberlandesgericht sieht man sich wieder.