Wie christlich-sozial ist die ÖVP heute noch?
Kritik wirkt besonders stark, wenn sie aus den eigenen Reihen kommt. Vor zwei Wochen taxierte der frühere Raiffeisen-Generalanwalt Christian Konrad in der "Kleinen Zeitung" seine angestammte Partei, die ÖVP, auf bemerkenswerte Weise: "Die Frage, die mir öfter gestellt wird: Ist das noch eine christlich-soziale Partei? Ich sehe das nicht so. Es gibt zwar nach Langem wieder einen Kanzler, der in seinem Büro ein Kreuz hängen hat. Die Politik zwingt ihn offenbar dazu, in Fragen der Humanität anders zu sein." Zur Verteidigung trat ÖVP-Generalsekretär Karl Nehammer an: "Österreich hat mehr Flüchtlinge aufgenommen als andere EU-Länder. Der Regierung mangelnde Humanität vorzuwerfen, ist nicht nachvollziehbar."
Konrad war allerdings nicht der einzige Kritiker: Im Juni meinte der frühere Parteiobmann Erhard Busek in einem APA-Gespräch, die christlich-soziale Grundhaltung der ÖVP sei entschwunden. Intern sollen sich auch andere frühere Bundesobmänner besorgt über den Kurs der Partei gezeigt haben. Konrads und Buseks Befunde bezogen sich explizit auf die Flüchtlings-und Migrationspolitik von Kanzler Sebastian Kurz. Aber auch in der Debatte um die Reform der Arbeitszeit und Kürzungen bei der Mindestsicherung wurde die christliche Ausrichtung der Volkspartei von berufener Seite hinterfragt. Lassen diese Vorwürfe Kurz & Co. kalt oder macht "die Frage nach dem Christlichen im Konservativen" ("Die Zeit") sie nervös? Gelten in der türkisen ÖVP des Jahres 2018 auch Barmherzigkeit und Nächstenliebe oder allein Law & Order? Lässt die Volkspartei manchmal noch Gnade vor Recht ergehen? Und wie hält sie es mit Kirche und Religion?
Lädt Sebastian Kurz zu größeren Festen, ist Caritas-Präsident Michael Landau gern und oft gesehener Gast. Beim traditionellen vorweihnachtlichen Punschtrinken lässt der Bundeskanzler für Caritas-Projekte sammeln. Man ist seit Langem per Du. Im März stand die Beziehung zwischen ÖVP und der katholischen Wohlfahrtsagentur allerdings unter Spannung. In einer Erklärung zur Kürzung der Mindestsicherung durch die Regierung warnten die Caritas-Direktoren "eindringlich vor einer schrittweisen Demontage des Sozialstaates". Die scharfen Formulierungen waren mit den vorgesetzten Bischöfen nicht abgestimmt worden. Wenige Tage später räumte der Vorsitzende der Bischofskonferenz, der Wiener Erzbischof Christoph Schönborn, zwar "ein wenig interne Verstimmung" ein, betonte aber auch, dass "kein Blatt Papier" zwischen Amtskirche und Caritas passe. Seinerseits lobte der Kardinal die Politik der Regierung, konkret das geplante Nulldefizit - wodurch Schönborn unter den Verdacht allzu enger Kanzler-Freundlichkeit geriet.
Türkiser Sündenfall
Drei Monate später zog Sebastian Kurz allerdings auch des Kardinals Zorn auf sich. Der türkise Sündenfall: die Arbeitszeit-Reform. Derartige "Eingriffe in die Wochenend- und Feiertagsruhe" würden, so die Kritik der Bischofskonferenz, das Konkordat verletzen und "eine Geringschätzung des Familienlebens mit gravierenden Auswirkungen auf die gesellschaftliche Ordnung" bedeuten. Überdies sei "ein Dammbruch hinsichtlich der Beschränkungen der Ladenöffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen" zu befürchten. "An Zeiten harter Abtreibungsdebatten" zwischen Politik und Kirche fühlte sich da "Die Presse" erinnert.
Den Vorwurf, gegen christliche Werte zu verstoßen, muss eine Partei als Lästerung empfinden, die sich seit Anbeginn auf ihren Glauben beruft. So heißt es im ÖVP-Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2015 unter dem Titel "Selbstverständnis": "Grundlage unserer Politik ist das christlich-humanistische Menschenbild." Und unter dem Schlagwort "Solidarität":"Der Wert der Solidarität fußt auf dem Wissen um unsere gegenseitige Abhängigkeit als Menschen und findet im christlichen Grundsatz der Nächstenliebe seinen besonderen Ausdruck."
Das Parteiprogramm mit christlichem Bekenntnis wurde in der Politischen Akademie der ÖVP entwickelt. Deren Präsidentin, Bettina Rausch, hat keine Zweifel am rechten Glauben ihrer Partei: "Das Christlich-Soziale ist eine starke Wurzel der neuen Volkspartei und prägt unsere politischen Grundsätze, zum Beispiel unseren Gerechtigkeitsbegriff, der diejenigen in den Mittelpunkt stellt, die Leistungen erbringen."
Unterschiedliche Antworten auf soziale Fragen
Experte für Glaubens- und Sittenlehre in der Volkspartei ist seit Jahrzehnten Andreas Khol, emeritierter Klubobmann, Nationalratspräsident und Seniorenbund-Obmann. Zweifellos sei die ÖVP, so Khol gegenüber profil, eine "christdemokratische Partei" und die katholische Soziallehre deren Leitbild. Allerdings könnten Christen im Rahmen dieser Ethik unterschiedliche Antworten auf soziale Fragen finden. Khol: "Die Grundsätze der katholischen Soziallehre sind allgemeiner Art. Sie liefern keine konkreten Lösungen für aktuelle politische Probleme." Dies habe auch Kardinal Joseph Ratzinger im November 2002 als damaliger Vorsitzender der Glaubenskongregation in einem Rundschreiben festgehalten. Wörtlich heißt es in dieser an katholische Politiker gerichteten "lehrmäßigen Note": "Es ist nicht Aufgabe der Kirche, konkrete Lösungen - oder gar ausschließliche Lösungen - für zeitliche Fragen zu entwickeln, die Gott dem freien und verantwortlichen Urteil eines jeden überlassen hat." Eine genaue Lektüre der Note zeigt: Die von der Kurie gewährte Freiheit ist begrenzt, denn in zentralen Streitfragen untersagt Ratzinger katholischen Politikern "Abweichungen, Ausnahmen oder Kompromisse irgendwelcher Art", etwa bei der Abtreibung oder der rechtlichen Gleichstellung homosexueller Partnerschaften.
Gegenstück zur kirchlichen Kritik an der ÖVP ist die in der Volkspartei empfundene Undankbarkeit der Kirchenvertreter. Der Vorwurf bei so manchem schwarz-türkisen Funktionär lautet, Bischöfe und Spitzenkleriker würden in sozialen Fragen mit SPÖ und Grünen öffentlich sympathisieren und die Volkspartei anprangern, um in Streitthemen wie der Verhinderung der Homoehe doch wieder die ÖVP in die Pflicht zu nehmen.
"Kein moralischer Imperativ zur Selbstaufgabe"
Faktisch habe sich das spezielle Verhältnis zwischen Kirche und ÖVP bereits "vor mehr als 20 Jahren verflüchtigt", so Andreas Khol. Formal hatte die österreichische Kirche schon 1952 im Mariazeller Manifest ("Freie Kirche in einer freien Gesellschaft") jeglicher Nähe zu Parteien und dem politischen Katholizismus der Ersten Republik abgeschworen. Auf Schäfchen-Ebene ist die Welt allerdings noch halbwegs in Ordnung. Die regelmäßigen Kirchgänger (etwa 550.000 in Österreich) wählen laut "European Values Study" mehrheitlich ÖVP. Der christliche Cartellverband (CV) und der Mittelschüler-Kartellverband sind in der derzeitigen ÖVP- Regierungsriege zwar schwach vertreten. Dank Generalsekretär Nehammer und ÖVP-Wien-Obmann und Kanzleramtsminister Gernot Blümel verfügen die katholischen Verbindungen aber noch über einflussreiche Verbindungsmänner in der Partei. Blümel - er verfasste seine Diplomarbeit über die christliche Soziallehre - sieht ebenfalls keinen Abfall vom wahren Glauben: "Es gibt keinen moralischen Imperativ zur Selbstaufgabe. Eine Gesellschaft kann nicht dazu gezwungen werden, unbegrenzt soziale Leistungen zu garantieren, wenn sie ihren inneren Zusammenhalt dadurch gefährdet."
Sebastian Kurz redet öffentlich ungern über seine Religiosität. Vor seinem Besuch beim Papst im März bezeichnete er sich als "gläubigen Menschen". In der ÖVP heißt es, Kurz sei mehr als ein Taufscheinchrist, besuche regelmäßig Messen in seinem Wiener Heimatbezirk Meidling und sei auch bei Fronleichnamsprozessionen gesehen worden. Als erklärter Kämpfer für das Christentum in der Volkspartei gilt vor allem Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka.
Der Vorwurf, die ÖVP sei keine christlich-soziale Partei mehr, ist nicht neu. Im Oktober 2005 kritisierte der ehemalige Leiter der Politischen Abteilung der Wiener ÖVP, Christian Mertens, in der Wochenzeitung "Die Furche", CDU, CSU und ÖVP würden "christlich inspirierte Themen zugunsten eines reinen Ökonomismus vernachlässigen". Titel des Artikel: "Die Leere der C-Parteien".
In der ÖVP werden Äußerungen wie jene von Mertens und Konrad unter "Gesinnungsethik " verbucht, wohingegen die Politik von Sebastian Kurz "verantwortungsethisch" und "realpolitisch" begründet sei. Kurz' CDU-Gesinnungsfreund Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, warnte dagegen jüngst vor einer "Achsenverschiebung". Laschet: "Wir müssen deutlich machen, dass der Markenkern der CDU nicht das Konservative ist, sondern das christliche Menschenbild über allem steht." Jens Spahn, Gesundheitsminister in Berlin, Vertreter der Merkel-kritischen und Kurz-affinen jungen Garde in der CDU, sieht dies deutlich anders: "Mit der Bergpredigt kann man kein Land regieren."