Österreich

ÖVP: Droht ein Richtungskampf?

Vor einem Jahr trat Sebastian Kurz als Bundeskanzler zurück. Seitdem sucht die ÖVP nach Orientierung. Auf der einen Seite regen sich die Kurz-Nostalgiker, auf der anderen steht das Team um Karl Nehammer, der die Partei weicher ausrichtet.

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Der Kanzler beliebte zu scherzen. Er fühle sich, als ob er zwischen einem Nashorn und einem Wasserloch stehe. Das Nashorn war diesfalls die Crème de la Crème der Unternehmerschaft, die sich Donnerstagabend zu einem Empfang im Festsaal des Hauses der Industrie am Wiener Schwarzenbergplatz versammelt hatte. Das Wasserloch war das Buffet-und dazwischen stand Karl Nehammer, der die etwas langatmigen Fragen des Moderators bei steigender Unruhe im Saal beantwortete. Zuvor war es allerdings mucksmäuschenstill gewesen. In einer 20-minütigen Rede hatte Nehammer leidenschaftlich die EU-Sanktionen gegen Russland verteidigt und die anwesenden Industriellen und Spitzenmanager zu Zuversicht in der Krise aufgefordert-garniert mit einer Bemerkung in eigener Sache: Viele Bekannte würden auch ihm derzeit ausrichten, nicht mit ihm tauschen zu wollen.

Tatsächlich hat es Nehammer nicht leicht dieser Tage, angesichts von Krieg, Inflation und explodierenden Energiepreisen. Doch nicht nur als Regierungschef ist Nehammer gefordert, auch als Parteichef. Ein Jahr nach dem Rücktritt von Kanzler Sebastian Kurz zeigt sich die ÖVP orientierungslos. Die Parteizentrale ist ausgedünnt, Funktionäre sind verunsichert. Kurz-Nostalgie macht sich breit. Ein Richtungsstreit droht.

Dass nicht alles rundläuft in der Volkspartei, zeigte sich beim erzwungenen Rücktritt von Generalsekretärin Laura Sachslehner vor zwei Wochen. Diese hatte den grünen Koalitionspartner wegen der Auszahlung des Klimabonus an Asylwerber scharf kritisiert und ihre Attacken trotz innerparteilicher Ermahnungen nicht eingestellt. Ihren Abschied zelebrierte sie in einer Pressekonferenz in der Parteizentrale: Die ÖVP verrate ihre Werte und biedere sich den Grünen an.

Laura Sachslehner musste Anfang September als Generalsekretärin der ÖVP zurücktreten. 

In Wien, Sachslehners politischer Heimat, wird geschwiegen. Hinter vorgehaltener Hand ist man um Distanz zur Parteikollegin bemüht. Was sie im Internet poste, sei ihre Privatmeinung. Durch Teamgeist habe sie in der Stadtpartei nie sonderlich geglänzt. Sie gehöre zu jener "relativ kleinen" Gruppe, die unter Kurz in die Politik gekommen und dadurch auf dessen besonders scharfe Linie eingeschworen sei. Wertekonflikt? Richtungskampf? Reines Medienkonstrukt.

Der Einzige, der das Offensichtliche nicht wegwischt, ist der frühere Landesparteiobmann und heutige Dritte Landtagspräsident Manfred Juraczka: "Natürlich diskutieren wir über unsere Positionierung." Das sei ganz normal in einer großen Partei. "Meine Linie war immer Mitte-Rechts. Historisch betrachtet waren wir am erfolgreichsten unter den Obmännern Wolfgang Schüssel und Sebastian Kurz mit einem recht prononcierten Kurs."

Nur Stunden nach ihrem Rücktritt als Generalsekretärin gab Sachslehner der "Kronen Zeitung" ein Interview und erzählte von einer Solidaritätswelle unter ÖVP-Funktionären quer durchs Land. Einer, der sich offen zu ihr bekennt, ist der ÖVP-Vizebürgermeister der steirischen Gemeinde Kindberg im Mürztal, Johann Grätzhofer: "Sachslehners Aufschrei fand ich gut. Die ÖVP steht für Leistung. Es kommen aber zu viele wegen den Sozialleistungen ins Land." Grätzhofers Grant hat einen Grund. Er kämpft gegen ein Asylquartier für bis zu 250 Flüchtlinge, das zum Jahreswechsel eröffnet werden soll. Seine Verbündeten: die anderen Ortsparteien SPÖ, FPÖ und KPÖ. Sein Gegner: ÖVP-Innenminister Gerhard Karner. Dessen Ministerium habe das "Massenquartier",wie Grätzhofer es nennt, genehmigt: "Wir sind christlich-sozial, aber mit Grenzen. Der Innenminister und der Bundeskanzler müssen bei der Zuwanderung wieder schärfer werden, sonst bleiben wir Bundesländer übrig."

Gerhard Karner gilt als Hardliner. Rechtlich ist er aber dazu verpflichtet, Flüchtlinge unterzubringen. Deswegen hat der Bund die Zahl der Asylheime seit vergangenem Jahr auf 26 verdoppelt. Doch auch diese Einrichtungen seien, neben dem Erstaufnahmezentrum Traiskirchen, bereits stark ausgelastet, heißt es aus dem Ministerium. Bis Ende Augst wurden 56.000 Asylanträge gestellt. Sollte es in diesem Tempo weitergehen, könnten nach Sachslehner weitere ÖVP-Politiker auf rote Linien in der Zuwanderungspolitik drängen-ohne Rücksicht auf den Koalitionspartner. Noch ist die Parteispitze entspannt. Laut eigenen Umfragen würden derzeit nur fünf Prozent der Österreicherinnen und Österreicher das Thema "Asyl" prioritär sehen. Freilich kann sich das rasch ändern.

Der neue Generalsekretär, Christian Stocker, muss die Parteizentrale wieder aufwerten. Unter Sebastian Kurz war diese komplett ausgedünnt und zur Servicestelle für Funktionäre und Parteimitglieder degradiert worden. Von Sachslehners Nachfolger sind weder aufmüpfige Tweets noch Querschüsse gegen die Regierung zu erwarten-und schon gar keine Grundsatzdebatten. "Unser Wertekorsett hat Bestand",sagt der mit 62 Jahren spät berufene Neo-Generalsekretär aus Niederösterreich. Beim umstrittenen Klimabonus für Asylwerber sei es um 0,16 Prozent aller Bezieher gegangen. "Unsere Priorität war es, dass den restlichen 99,84 Prozent rasch geholfen wird." Eine Regierung lebe von Kompromissen. "Die Regierung wird halten", ist er überzeugt. Und das Umfragetief? "Wer regiert, hat es schwer. Das ist in ganz Europa so."

Gerhard Karner gilt als Hardliner im Innenministerium. 

Die ÖVP dürfte es besonders schwer haben. Laut jüngster Profil-Umfrage von Unique-research liegt die Volkspartei derzeit in der Sonntagsfrage bei 21 Prozent und damit hinter FPÖ (23 Prozent) und SPÖ (29 Prozent) nur noch an dritter Stelle.

Stocker übernimmt in der Parteizentrale der ÖVP jene Rolle, die er bereits im ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss einnahm. "Ich bin der Schutzschild der Partei gegen Angriffe der Opposition." Von den strafrechtlichen Ermittlungen gegen Ex-Kanzler Kurz und andere ehemalige Parteifunktionäre wegen der Umfrageaffäre werde nichts übrig bleiben, ist er überzeugt. "Wir müssen uns von der Kurz-Ära nicht distanzieren, nur von den der Tonalität der Chats."

Die Korruptionsvorwürfe schaden der ÖVP nicht nur bei den Wählern, sondern beunruhigen auch die Funktionäre nachhaltig. Bei jeder Sitzung des parlamentarischen ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschusses wird die Öffentlichkeit an die kompromittierenden Chats, Postenvergaben und die Freunderlwirtschaft im Umfeld von Sebastian Kurz aufs Neue erinnert. Der Ex-Kanzler war in der Vorwoche wieder als Auskunftsperson geladen.

Vor genau einem Jahr, am 11. Oktober 2021, musste Sebastian Kurz vom Amt des Bundeskanzlers zurücktreten. Zwei Monate später gab er auch die Führung der ÖVP ab. Im heurigen Mai wählte die Volkspartei auf einem Parteitag in Graz Karl Nehammer auch offiziell zum neuen Obmann-mit 100 Prozent. Der Stil an der Parteispitze ist ein anderer geworden. Nehammer gilt ÖVP-intern als Tiefwurzler mit einem robusten Wertefundament. Unter Kurz und seiner Gefolgschaft aus der Jungen ÖVP war die Partei von Ich-AGs dominiert worden, die vor allem die Eigenvermarktung beherrschten.

Nach der Landtagswahl in Tirol vergangenen Sonntag stellte sich trotz der enormen Verluste von fast zehn Prozentpunkten gewisse Erleichterung ein. Die Partei blieb mit respektablem Abstand Erster, die SPÖ wurde hinter der FPÖ nur Dritter. Allerdings gelang es den Sozialdemokraten, 16.000 frühere ÖVP-Wähler zu gewinnen. Gleichzeitig verlor die SPÖ aber signifikant Wähler an andere Parteien. Und die FPÖ profitierte von den Verlusten der ÖVP nur bedingt. Ähnlich könnte es auch bei Nationalratswahlen laufen, so die Hoffnung in der ÖVP-Parteizentrale. Überdies würde Nehammer im Wahlkampf seine Kontrahentin Pamela Rendi-Wagner ausstechen können.

Die nächste Wahl steht in Niederösterreich an-voraussichtlich am 29. Jänner. Ihr Spitzenergebnis von 2018,49,6 Prozent, wird Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner nicht halten können. Allerdings geht man in der ÖVP-NÖ davon aus, dass-symbolisch wichtig-zumindest 40 Prozent erreicht werden. Die allmächtige Landespartei bereitete sich schon im April mit einer Grundsatzdebatte auf die Wahl vor. Am Parteitag stimmten die Delegierten über eine Statutenänderung ab. Seitdem sind in der Präambel so etwas wie die zehn Gebote der niederösterreichischen Volkspartei festgeschrieben, die auch der Bundespartei als Vorbild dienen könnten. Nummer zwei legt fest: "Wir sind keine Partei für ein Klientel, wir sind eine Partei für alle. Für alle Mitglieder unserer Gesellschaft, in all ihrer Vielfalt." Nummer drei: "Für uns zählt nicht, ob etwas Links, Rechts oder Mitte ist-für uns zählt einzig und allein, ob es gut für Niederösterreich ist. Wir sind weder schwarz, noch türkis-wir sind blau-gelb."Und Nummer acht: "In Niederösterreich sollen gleichermaßen Platz haben: Leistung und Eigenverantwortung sowie Zusammenhalt und soziale Verantwortung."

Auf Provokation und Polarisierung Marke "Sachslehner" verzichtet Mikl-Leitner gern. Eine Bundespartei, die die einen zu sehr euphorisiert und die anderen zu sehr empört, die braucht man in St. Pölten nicht. Der vorsichtigere Kurs von Nehammer passt dazu besser als die scharfe Kommunikation des Sebastian Kurz-auch wenn dieser damit auf Bundesebene erfolgreich war.

Manche in der ÖVP glauben, die Partei müsse bis zur nächsten Nationalratswahl ihre Identität klären. Kurz habe man viel zu verdanken, aber sein Erfolg sei nicht nachhaltig gewesen. Überdies habe er die Partei zu sehr auf sich zugeschnitten. Jetzt müsse man sich als Volkspartei die Frage stellen, was sein Abgang für die ÖVP bedeute. Für die nächste Nationalratswahl müsse man jedenfalls einen inhaltlichen Wahlkampf vorbereiten und keine Personality-Show.

Ex-Kanzler Sebastian Kurz war Ende September wieder als Auskunftsperson im U-Ausschuss geladen. 

So sehen das auch die Österreicherinnen und Österreicher. Laut profil-Umfrage trauen nur 28 Prozent dem aktuellen ÖVP-Chef zu, seine Partei aus der Krise führen zu können. Der Trost: Unter den Wählerinnen und Wählern der ÖVP sind es 84 Prozent.

Es ist eine neue Konstellation in der Volkspartei, die ihre jeweiligen Chefs in der jüngeren Vergangenheit in Serie verschliss: Der Partei geht es schlecht, der Bundesparteiobmann wird dafür aber nicht allein verantwortlich gemacht. Es gäbe auch keine Alternativen. Denn in der ÖVP findet sich derzeit niemand, der mit Karl Nehammer tauschen wollte.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.

Iris Bonavida

Iris Bonavida

ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.