ÖVP-Parteitag: Der Reiz des Simplen
Der 39. ordentliche Bundesparteitag der ÖVP (Motto: „Mit neuer Kraft“) vergangenen Samstag in St. Pölten war ein Hochamt für Sebastian Kurz. Die 537 Delegierten huldigten ihrem Idol und wählten ihn mit 99,4 Prozent erneut zum Parteiobmann. Intellektuell war die Veranstaltung eher anspruchslos. Wortmeldungen oder gar Diskussionen sah die Tagesordnung nicht vor. Das Wahlergebnis wurde praktischerweise nicht in der Veranstaltungshalle, sondern in einem Festzelt daneben bekannt gegeben. Das Bier zum Anstoßen war damit in Griffweite. Auch die halbstündige Rede des Bundesparteiobmanns hatte sich ins Bild gefügt: ein paar Witzchen, Ankündigungen für die Herbstarbeit, Appelle an die Parteifreunde: „Wir werden allen Gegenwind aushalten.“
Vier Jahre zuvor, beim Parteitag in Linz, war Kurz als strahlender Retter der Volkspartei aufgetreten. Die jugendliche Frische ist mittlerweile verflogen, groß waren die Belastungen der vergangenen vier Jahre: zwei Neuwahlen, der Ibiza-Skandal, die Abwahl als Bundeskanzler durch einen Misstrauensantrag im Parlament, das türkis-grüne Experiment und vor allem: Corona. Im Ibiza-U-Ausschuss wurde der Charakter des Kanzlers in Frage gestellt. Peinlich-pubertäre Chats zeigten, dass Kurz eher nicht für einen „neuen Stil“, sondern für alte Günstlingswirtschaft steht. Zudem soll er im U-Ausschuss als Zeuge die Unwahrheit gesagt haben, die Korruptionsstaatsanwaltschaft ermittelt.
Mag Kurz auch angeschlagen sein, die ÖVP steht hinter ihm. Sein Amt als Regierungschef verleiht ihm innerparteiliche Autorität. Auch am geschlossenen Auftreten – wie am Parteitag demonstriert – mag es liegen, dass die ÖVP trotz aller Probleme in der aktuellen profil-Umfrage auf stabile 35 Prozent kommt. In der fiktiven Kanzler-Wahl liegt Kurz weit vor den anderen Parteichefs. Der ÖVP-Obmann hat also jeden Grund, auch weiterhin seine Erfolgsformel anzuwenden: hemmungslose Vereinfachung.
Die Kunst der Simplifizierung zeigte Kurz bereits im Außenministeramt, als er selbstbewusst verbreitete, „die Balkanroute“ für Flüchtlinge gleichsam im Alleingang „geschlossen zu haben“. Zum einen gab es nicht die eine Route, zum zweiten kamen über die „geschlossene“ Route weiter Flüchtlinge ins Land und zum dritten war die Schließung der Grenzen ein Gemeinschaftsprojekt mehrerer Staaten.
Das Themenfeld „Flüchtlinge, Asyl, Migration“ verträgt aus türkiser Sicht seit jeher unterkomplexe Darstellungen. Auch dieser Tage präsentieren Kurz und Innenminister Karl Nehammer einfache Lösungen: Damit Österreich weiterhin vorbestrafte Afghanen abschieben könne, sollten in den Nachbarländern Afghanistans Abschiebezentren eingerichtet werden. Rückmeldungen aus Usbekistan, Tadschikistan oder Turkmenistan gibt es dazu noch keine.
Auch die wirtschaftspolitischen Konzepte des Kanzlers, die er etwa in einer Rede vor einem Jahr präsentierte, sind bisweilen simpel: „Wenn wir es alle gemeinsam schaffen, dass 20 Prozent regionale Produkte mehr in Österreich gekauft werden, dann schafft das bis zu 50.000 zusätzliche Jobs und bringt eine Wertschöpfung von rund fünf Milliarden Euro.“ Sein Austria-First-Konzept übernahm Kurz aus einer Sieben-Seiten-Studie der Österreichischen Hagelversicherung. Dass ohne billige Importe Lebensmittel für die Konsumenten teurer und Effekte aus dem Buy-Austrian-Ansatz verpuffen würden, ließ Kurz unberücksichtigt. Zudem wirkt es befremdlich, wenn ausgerechnet der Regierungschef einer Exportnation wie Österreich vor Importen warnt. Eindimensional fällt auch die türkise Beurteilung des EU-Südamerika-Freihandelsabkommens Mercosur aus. Was heimischen Bauern Konkurrenz macht, wird abgelehnt, mag die Industrie auch noch so jammern. Beschäftigungspolitische Fragen bringt Kurz ebenfalls vereinfacht auf den Punkt: „Ich glaube nicht, dass es eine gute Entwicklung ist, wenn immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um zu arbeiten, und in immer mehr Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen.“
Als im Mai die Hamas Raketen auf Israel abfeuerte, ließ Kurz die israelische Fahne auf dem Dach des Kanzleramts aufziehen. Was als Akt der Solidarität gut gemeint war, widersprach den komplexen diplomatischen Usancen. Auch Symbolik ist Vereinfachung.
Der Schriftsteller Michael Köhlmeier sagte in einem profil-Interview: „Ich hörte Kurz noch nie anders reden als in Phrasen. Nie ein Stolpern beim Sprechen, das darauf schließen ließe, dass er während des Redens am Denken ist. Kurz spricht in einer Abfolge vorgefasster Formeln.“ Allerdings erreicht er damit das Publikum. Mehr muss ein Politiker nicht können. Wer seine Botschaft kontrollieren will, muss sie einfach gestalten. Komplexität verwirrt, das KISS-Prinzip („Keep it short and simple“) wirkt. „Kurz verwendet nie ausgefallene Worte, gewagte Formulierungen, rhetorische Kunststückchen“, analysierte profil schon 2018. Wenn er sie doch verwendet, tut er es gezielt. In Interviews Ende Juli kritisierte Kurz die Pläne von Umweltministerin Leonore Gewessler, Infrastrukturprojekte neu zu evaluieren, und erklärte, die Klimakrise sei auch ohne Verzicht zu lösen: „Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass unser Weg zurück in die Steinzeit sein sollte.“ Dazu schwor er, unter ihm würde es keinen „Klima-Lockdown“ geben. Für Kurz´sche Standards waren beide Formulierungen hochoriginell. Und noch selten wurden Maßnahmen gegen den Klimawandel öffentlich derart plump diskreditiert.
Der ÖVP-Bundesparteiobmann ist ein Generalist ohne Spezialwissen. Auch seine Vorgänger waren Berufspolitiker, hatten aufgrund ihrer Laufbahn aber spezifische Kenntnisse. Wolfgang Schüssel und Reinhold Mitterlehner waren vor ihren Ministerämtern Generalsekretäre im ÖVP-Wirtschaftsbund, Josef Pröll Direktor des schwarzen Bauernbunds, Michael Spindelegger Chef des Arbeitnehmerbundes ÖAAB. Sebastian Kurz war Obmann der Jungen ÖVP. Dort erwarb er keine Sach-, aber umso mehr Machtkenntnisse. Im Werdegang erinnert Kurz mehr an Ex-SPÖ-Kanzler Werner Faymann als etwa an Wolfgang Schüssel.
Der letzte ÖVP-Kanzler vor Kurz lud Philosophen zum Gedankenaustausch ins Kanzleramt. Sebastian Kurz schätzt Tatkraft, nicht Konzeptionen. Er ist ein ÖVP-Obmann, der eigentlich kein Parteiprogramm braucht. Das aktuell gültige wurde 2015 unter der Regie von Gernot Blümel beschlossen, heute Wiener ÖVP-Obmann, damals Generalsekretär der Partei. An dem Papier arbeiteten die besten Köpfe der Partei mehrere Jahre lang. Am Parteitag in Sankt Pölten wurde ein Leitantrag aus der ÖVP-Zentrale beschlossen, der das türkise Grundsatzprogramm ergänzt. Die „Vision für die politische Arbeit der nächsten Jahre“ fällt dürftig aus. Unter dem Punkt „Für ein sicheres Österreich“ ist zu lesen: „Ein sicheres Österreich bedeutet für uns, dass jeder vor Gewalt und Verbrechen sicher ist.“ Zum Punkt „Für ein erfolgreiches Österreich“: „Die Krise hat uns gezeigt, dass die Digitalisierung Teil unseres Alltags ist.“ Und unter „Für ein lebenswertes Österreich“ wird „Technologieoffenheit anstatt Auto-Feindlichkeit und Straßenstopp“ garantiert. Kürzer und würziger hätte es auch FPÖ-Chef Herbert Kickl nicht formulieren können.
Von Erhard Busek, Bundesparteiobmann von 1991 bis 1995, hieß es in der ÖVP spöttisch, er sei „zu gescheit“ für die Politik. Sollte heißen: „zu überheblich“. Wer es schafft, mit 31 Jahren Bundeskanzler zu werden, ist zweifellos hochintelligent. Kurz versteht es, die eigenen Taten („Schließung der Balkanroute“) zu überhöhen, sich selbst aber zurückzunehmen. Nur manchmal, wenn er etwa in Interviews gereizt wird, bricht Arroganz durch.
Schon bei der Übernahme der ÖVP vor vier Jahren machte Kurz die Simplifizierung zur politischen Technik. Vereinfachung bedeutete „Entweder-oder“. Im engsten Kreis um Kurz zirkulierten drei Begriffspaare, an denen die Strategie ausgerichtet wurde: neu/alt; warm/kalt; hell/dunkel. „Neu“ war die türkise ÖVP. „Warm“ bedeutete, die Bürger nicht durch Reformen zu verschrecken. Und „hell“ hieß, harte FPÖ-Positionen zu übernehmen, aber menschlich zu verkaufen.
Das Denken in einfachen Gegensätzen zählt zu Kurz‘ Eigenheiten. In seiner Welt gibt es Frühaufsteher und Langschläfer, Verbündete und Gegner, Gewinner und Verlierer. Bisher lief für den wiedergewählten ÖVP-Obmann alles nach Plan: Die Gegner waren stets auch die Verlierer. Um Kurz zu schlagen, muss man aus ÖVP-Sicht eben früher aufstehen.