Wie sich ÖVP und SPÖ vorsichtig wieder annäherten
Von Gernot Bauer, Iris Bonavida, Nina Brnada und Max Miller
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Kickls Scheitern macht es wahrscheinlich, dass die ÖVP doch Kanzlerpartei bleibt und den unwahrscheinlichsten Regierungschef der Zweiten Republik stellt: Christian Stocker. Gut möglich, dass Stocker und sein Team am 4. Februar endgültig beschlossen, die Verhandlungen zum Platzen zu bringen. An diesem Tag eskalierten die Gespräche über die Ressortverteilung das erste Mal. Die ÖVP bestand nicht nur, aber vor allem auf das Innenministerium. Sieben Tage später sind die beiden Seiten einander keinen einzigen Schritt näher gekommen. Aber sie bemühten sich, den Anschein zu wahren, dass die Verhandlungen weiterlaufen.
Vergangenen Dienstag beobachtete die Öffentlichkeit, wie Stocker, Kickl und ihre engsten Vertrauten den Fellerer-Wörle-Saal im Parlament betraten. Ein Besprechungsraum wie so viele im Hohen Haus – großzügiger ovaler Tisch, bequeme Sesselgruppen –, aber mit einem entscheidenden Vorteil: viele Ausgänge. Die Jalousien hatte man runtergezogen, sodass man auch vom Balkon nicht durch die Fenster hineinsehen konnte. Schon nach 20 Minuten schlichen sich die Verhandler wieder hinaus. Unbeobachtet, selbst vom Sicherheitsdienst des Parlaments. So wurde stundenlang ein Raum bewacht, in dem niemand mehr verhandelte.
Fellerer-Wörle-Saal
In diesem Parlamentssaal besprachen sich FPÖ und ÖVP vergangenen Dienstag für rund 20 Minuten.
Auch die Öffentlichkeit bekam von den Parteien lange keine Antwort auf die Frage, ob und wie die Verhandlungen zu einem Ende gekommen waren. Während ÖVP und FPÖ die Außenwelt im Unklaren ließen, meldeten sich immer mehr hohe Funktionäre via Aussendung kritisch zu Wort. Hier wurde der Boden für einen Abgang aufbereitet. Noch aber wollte das niemand öffentlich sagen.
ÖVP als Retterin der Nation
Die kommunikative und mediale Dynamik war in jedem Fall günstig für die Volkspartei. Nach den Leaks aus den Verhandlungen (siehe Seite 20) entfaltete sich ein Sog, der – falls dieser nicht Glück war – von höchster kommunikativer Professionalität zeugt. Innerhalb weniger Tage mutierten SPÖ, Neos und Grüne regelrecht zu Cheerleadern der ÖVP, die sie mit diversen Videobotschaften und Aussendungen zum Abbruch der Verhandlungen mit der FPÖ anfeuerten. Nicht nur sie: Große Teile der Zivilgesellschaft und Künstlerinnen und Künstler klatschten mit. Die ÖVP, die ihren eigenen Bundesparteiobmann und Bundeskanzler Karl Nehammer in die Wüste geschickt hatte, weil er nicht mit Kickl koalieren wollte; deren jetziger Chef Christian Stocker, einst einer der entschlossensten schwarzen Widersacher gegen die FPÖ, völlig schmerzbefreit eine 180-Grad-Wendung hingelegt hatte – ausgerechnet diese ÖVP gilt vielen, zumindest vorläufig, als Retterin der Nation.
Bevor es zum Abbruch kam, schmiedeten Stocker und Alexander Pröll im Stillen Pläne für den Ausstieg, ohne allzu viele in der Partei einzuweihen. Der Bundesparteiobmann besprach sich vor allem mit der niederösterreichischen Landeshauptfrau, Johanna Mikl-Leitner, und Thomas Stelzer aus Oberösterreich.
Am Mittwoch, dem Tag des Scheiterns der Verhandlungen, trat der ÖVP-Parteivorstand zusammen, Vertreter der Länder waren per Video zugeschaltet. Ein erleichtertes Durchatmen sei wahrnehmbar gewesen, heißt es. Innerhalb weniger Tage war die Stimmung gegen die Freiheitlichen gekippt, selbst im FPÖ-affinen Wirtschaftsflügel (siehe Seite 42). Viele Funktionäre und Mandatare hatte es etwa geschockt, dass die Freiheitlichen öffentliche Einrichtungen nicht mehr mit der EU-Fahne beflaggen wollten.
Babler-Bashing
Tatsächlich dämmerte vielen in der ÖVP, sich im Fall einer Koalition mit der FPÖ unter den gegebenen Voraussetzungen ihr eigenes Grab zu schaufeln. Die Angst, der ÖVP könnte das Schicksal der einst mächtigen und heute nicht mehr existenten italienischen Konservativen der Democrazia Cristiana drohen, war auf sämtlichen Ebenen spürbar.
Nur wenige Stunden nach dem Scheitern der Verhandlungen begannen einzelne Repräsentanten der ÖVP bereits, eine alte Strategie umzusetzen: Babler-Bashing. Der Tiroler Landeshauptmann Anton Mattle, für gewöhnlich kein großer Freund von Einmischungen im Bund, wünschte sich öffentlich eine Dreierkoalition – ohne den SPÖ-Vorsitzenden Andreas Babler. Seit Wochen streuen die Schwarzen Anekdoten, welch unangenehmer Verhandlungspartner der SPÖ-Vorsitzende gewesen sei. Ihre unterschwellige Botschaft: Mit einer neuen Person an der Spitze wäre eine Einigung viel leichter. Allerdings stellte ÖVP-Obmann Stocker klar, dass es Sache der SPÖ ist, wen sie für ihr Verhandlungsteam nominiert.
Ob Zweier- oder Dreierkoalition: Aus ÖVP-Sicht müsse es jetzt schnell gehen. Die erste Hürde für ÖVP, SPÖ und Neos ist das Budget. Kurz nach Beginn der blau-schwarzen Verhandlungen hatte Finanzminister Gunter Mayr ein Sparprogramm zur Budgetsanierung nach Brüssel geschickt, um ein Defizitverfahren zu verhindern. Die ÖVP geht davon aus, dass dieses Paket auch umgesetzt wird. Fordert die SPÖ nun eine komplette Überarbeitung des Programms, könnte es schnell wieder zum Streit kommen.
SPÖ: Betreuter Babler
Montagnachmittag wandte sich Andreas Babler mit einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit: Die SPÖ stünde für erneute Koalitionsverhandlungen bereit – alternativ würde sie auch eine „Regierung von Persönlichkeiten“ unterstützen, „die dem Parlament zur Seite stehen“. Am Dienstag meldeten sich auch Wiens roter Bürgermeister Michael Ludwig und der rote Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser. Die Botschaft der SPÖ ist klar: Die Sozialdemokratie wartet auf die ÖVP.
In der SPÖ macht sich Erleichterung breit, genauso Verwunderung über das blau-schwarze Verhandlungsende, das viele in der SPÖ nicht kommen sahen. Die Stunden, die auf das Scheitern der Verhandlungen folgten, hatten auch viel Versöhnliches: Die ÖVP, findet so mancher in der SPÖ, sei wohl doch nicht so verloren, wie man lange in der Sozialdemokratie geglaubt hatte.
Gleichzeitig offenbart diese Phase auch ein Machtvakuum in der SPÖ. In manchen Landesparteien gibt es nicht einmal eine Spitze, die mitsprechen könnte. Salzburg und Oberösterreich haben noch niemanden gefunden. Das macht eine Entscheidungsfindung im Bund schwierig. So bleiben in sich geschlossene Interessengruppen mit diametralen Wünschen: Das Burgenland und die Steiermark fordern eine Expertenregierung, das Babler-Lager ist eher dafür, wieder Gespräche mit der Volkspartei aufzunehmen. In Gremiensitzungen schickten die Landesparteichefs von Wien, Burgenland und der Steiermark bisher lediglich eine Vertretung – eine deutliche Distanzierung von der Bundespartei.
Donnerstag, einen Tag nach dem Platzen der Verhandlungen, tagte das Parteipräsidium. Wiens Bürgermeister Michael Ludwig war dieses Mal ebenfalls anwesend und stellte sich demonstrativ Journalistenfragen. Kurzzeitig machte das Gerücht die Runde, Ludwig würde Babler zu Alexander Van der Bellen begleiten, so wie Thomas Stelzer, der mächtige schwarze Landeshauptmann von Oberösterreich, auch mit Christian Stocker zu Van der Bellen gegangen war. Ludwig jedoch dementiert derlei Vorhaben. Bei Babler hätte eine Begleitperson Ludwig jedenfalls eine fatale Signalwirkung gehabt. In diesem politischen Schauspiel hätte es Babler, der nicht nur außer-, sondern auch innerparteilich massiv unter Druck steht, wie einen Statisten aussehen lassen. Diese Schmach blieb Babler erspart.
Ludwig mag zwar kein Babler-Fan sein, eine innerparteiliche Diskussion rund um die Figur Andreas Babler kann der Bürgermeister vor der Wien-Wahl am 27. April aber so gar nicht brauchen. Babler hat nicht nur innerhalb der Wiener SPÖ viele Anhänger, er ist auch bei der grün-affinen Wählerschaft sehr beliebt; er war es, der bei der Nationalratswahl viele Stimmen enttäuschter Wählerinnen und Wähler der Grünen in ihren Wiener Hochburgen für die Sozialdemokratie absahnen konnte.
„An Babler vorbei“
Doch wie groß ist Bablers Wirkungsmacht darüber hinaus? Die Wiener SPÖ betont zwar, dass Babler der gewählte Parteivorsitzende ist, den sich die anderen Parteien nicht aussuchen könnten. Dass die Wiener im Fall neuer Koalitionsverhandlungen eine tragende Rolle spielen würden, verhehlen sie jedoch nicht – im Gegenteil: Es ist die Botschaft, die ihnen am wichtigsten ist, und die ist an die ÖVP gerichtet. Soll heißen: Um Babler wird sich die SPÖ selbst kümmern. Der Parteichef kann zwar in der Löwelstraße sitzen bleiben, entscheiden werden andere. Die neuen Verhandlungen würden „an Babler vorbei“ geführt werden, ist aus den Bundesländern zu vernehmen. Schließlich sei er nicht nur eine Reizfigur innerhalb der SPÖ, sondern vor allem für die ÖVP, genauso wie die Neos.
Babler jedenfalls kann nicht als Verbinder zur ÖVP agieren, zu viel wirft ihm die Volkspartei aus der ersten Verhandlungsrunde vor (ob zu Unrecht oder nicht). Hinter den Kulissen näherte sich auch die Sozialpartnerschaft wieder zaghaft an. Dass es den Wirtschaftstreibenden dämmerte, dass Herbert Kickls Politik für den Standort doch nicht so förderlich wäre, half dabei.
Die SPÖ jedenfalls hat auch ihr Team für mögliche Koalitionsgespräche beisammen. Neben Nationalratspräsidentin Doris Bures werden die rote Frauenchefin Eva Maria Holzleitner, Klubobmann Philip Kucher und der Gewerkschafter Josef Muchitsch für die SPÖ verhandeln. Aus SPÖ-Kreisen hört man, dass etwaige Verhandlungen diesmal nicht mit Details beginnen würden, sondern mit der Frage, was die gemeinsame Erzählung dieser Regierungszusammenarbeit sein könnte.
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Gernot Bauer
ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.
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Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.
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Nina Brnada
Redakteurin im Österreich-Ressort. Davor Falter Wochenzeitung.
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Max Miller
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und chattet für den Newsletter Ballhausplatz. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.