Vergangenen Mittwoch, gegen 14 Uhr, stellen sich die Chefs von ÖVP, SPÖ und NEOS, Karl Nehammer, Andreas Babler und Beate Meinl-Reisinger, mit ein paar Vertrauten an einen kleinen Stehtisch in der Cafeteria hinter dem Plenarsaal im Parlament. Um die nächste Koalitionsregierung geht es dabei nicht. Einberufen hat die inoffizielle Runde ÖVP-Klubobmann August Wöginger, den nach 22 Jahren im Parlament kaum etwas aus der Ruhe bringt. Jetzt schnaubt der Innviertler fast vor Empörung.
20 Minuten zuvor ist es im Plenarsaal des Nationalrats zum Eklat gekommen. FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz verstieg sich in einer Rede zur Aussage, das Parlament sei in der Coronakrise von der Regierung „ausgeschaltet“ worden. Der Zweite Nationalratspräsident Peter Haubner, ÖVP, erteilte einen Ordnungsruf. Die Runde in der Cafeteria diskutierte über weitere Maßnahmen. Die von Wöginger im Plenum geforderte Entschuldigung verweigert Schnedlitz. Ganz rein ist dessen Gewissen ob des Vergleichs mit dem Jahr 1933, als Kanzler Engelbert Dollfuß durch die Ausschaltung des Parlaments die Demokratie in Österreich beendete, nicht. Für den Rest des Tages lässt sich der FPÖ-Generalsekretär nicht mehr im Plenarsaal blicken.
Formal war die Sitzung, die vergangenen Mittwoch im Parlament stattfand, die dritte der neuen Gesetzgebungsperiode. Tatsächlich handelte es sich um die erste mit ordentlicher Tagesordnung. In einer aktuellen Stunde diskutierten die Abgeordneten über die Wirtschaftspolitik; danach gab der Kanzler eine Erklärung ab; der neue Finanzminister Gunter Mayr präsentierte sich den Abgeordneten; ein Gesetz gegen Geldwäsche wurde beschlossen; letzter Tagesordnungspunkt war die Wahl der bisherigen Bezirkshauptfrau von Wels-Land, Elisabeth Schwetz, zur neuen Volksanwältin. Und zwischendurch schmetterten ÖVP, SPÖ, NEOS und Grüne einen Misstrauensantrag der FPÖ gegen die Bundesregierung ab.
Plenum in der Zwischenwelt
Und doch war es keineswegs eine normale Nationalratssitzung, sondern ein Plenum in der Zwischenwelt. Die alte, vom Bundespräsidenten mit der Amtsführung betraute Regierung kühlt langsam aus; die neue ist erst im Entstehen. Die Grünen sind noch Regierungspartei, müssen aber in Echtzeit dabei zusehen, wie sich die ÖVP in den roten und pinken Reihen neue Partner sucht. Eifersucht gibt es keine. Kurz vor Beginn der Sitzung zupft Grünen-Klubobfrau Sigrid Maurer ein paar Flankerl von Beate Meinl-Reisingers Blazer.
Schon in den vergangenen Monaten, lange vor der Wahl am 29. September, gab es informelle Annäherungsversuche zwischen ÖVP und SPÖ. Nun haben die ehemaligen Großparteien den offiziellen Segen von Alexander Van der Bellen, der Karl Nehammer am 22. Oktober mit der Bildung einer Bundesregierung beauftragte. Zunächst sprachen ÖVP und SPÖ nur im Duett – und hätten das auch weiterhin tun können. Aber verhandlungstaktisch ist es besser, den dritten und kleinsten Partner von Beginn an einzubinden. Zusätzlich eignen sich die NEOS für Nehammer und Babler jeweils als nützliche Zeugen, sollten die Koalitionsverhandlungen an schwarz-roten Differenzen scheitern und das gegenseitige Schuldzuschieben beginnen.
Doch danach sieht es nicht aus. Drei soll das neue Zwei werden. Nehammer und Babler sind nicht Best Buddys, ein gegenseitiges Verständnis hat sich aber eingestellt. Die lange Dauer der schwarz-roten Sondierungen sind ein Hinweis, dass eine Einigung wahrscheinlicher ist als ein Misserfolg. Vertrauen wurde aufgebaut, erste Hürden sind genommen. An den NEOS werden die Verhandlungen ohnehin nicht scheitern. Von einem „Bündnis der Vernunft und der politischen Mitte“ sprechen Nehammer, Babler und Meinl-Reisinger.
Cluster-Bildungen
Vergangene Woche wurde die Verhandlungsstruktur festgelegt. Die oberste Ebene bilden die Steuerungsteams zur Koordinierung. Darunter wurden sieben thematische Cluster gebildet, von „Wirtschaft und Infrastruktur“ über „Frauen, Staat, Gesellschaft, Internationales, EU“ bis „Inflationsbekämpfung und Wohnen“. Die Gespräche starteten am Donnerstag. Den Clustern arbeiten Untergruppen zu. Insgesamt sind etwa 300 Personen an den Verhandlungen beteiligt: Regierungsmitglieder, Abgeordnete, Sozialpartner, Experten aus Interessenvereinigungen. In schwarzen Reihen wird gemäkelt, die SPÖ würde die Verhandlungen mit allzu niederrangigem Personal besetzen, während die Volkspartei sogar Minister für Untergruppen abstelle.
Die Verhandlungen laufen wie in Arthur Schopenhauers Parabel von den Stachelschweinen, die nahe genug aneinanderrücken, um nicht zu frieren, aber genug Abstand halten, um nicht gestochen zu werden. Deutlich wurde das bei der Nationalratssitzung vergangenen Mittwoch, bei der schwarze und rote Abgeordnete wechselseitig weder vorauseilende Schonung noch übertriebene Härte zeigten. Geklatscht wurde nur bei Reden der eigenen Leute.
Die Vorgabe der Chefs lautet, einander keine Bedingungen für die Verhandlungen auszurichten. Nicht alle Mandatare halten sich vergangenen Mittwoch daran. So richtet die Abgeordnete des ÖVP-Wirtschaftsbundes, Carmen Jeitler-Cincelli, in ihrer Rede den SPÖ-Kollegen aus: „Leicht wird das nicht.“ Die „rote Linie“ sei überschritten, wenn die SPÖ den Standort schädigen wolle. Und wenn Babler davon spreche, bei Verhandlungen müsse jeder „über seinen Schatten springen“, stelle sich die Frage, „wie groß der Schatten“ sei.
Unterstützung erhält Jeitler-Cincelli vom steirischen Abgeordneten und Generalsekretär des Wirtschaftsbundes Kurt Egger, der weitere Abgaben kategorisch ausschloss: „Wir werden dafür sorgen, dass es keine neuen Steuern gibt.“ Egger wird nachgesagt, auf das Amt des Wirtschaftsministers zu spitzen.
Nicht alle in der ÖVP sind mit dem rigiden Kurs der schwarzen Wirtschaft happy. Um das Budget zu sanieren, sind kurzfristig neue Einnahmen für den Staat notwendig. Ganz ohne zusätzliche Abgaben wird es mit der SPÖ nicht gehen. Die FPÖ weiß das und führt die ÖVP-Wirtschaft mit dem Versprechen in Versuchung, neue Steuern abzulehnen.
Als roter Antagonist zur schwarzen Unternehmerfraktion präsentiert sich im Parlament Reinhold Binder, Abgeordneter aus Oberösterreich und im Hauptberuf Bundesvorsitzender der Gewerkschaft PRO-GE, die etwa eine Viertel Million Arbeiter aus den Bereichen Metall, Textil, Papier, Agrarindustrie und Chemie vertritt. Auch Binder kann Klassenkampf. Der ÖVP wirft er in seiner Rede „eine verfehlte unsoziale Wirtschaftspolitik“ vor und den Unternehmen „Profitgier in Reinkultur“. Nudeln seien um 90 Prozent teurer geworden, Jugendliche müssten ihre Ausbildung abbrechen.
Wenn zwei sich streiten, braucht es zwei andere, die versöhnlich wirken. In der ÖVP wäre das Klubchef Wöginger, bei der SPÖ Josef Muchitsch, der Vorsitzende der Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter im ÖGB. Beide sind Gaudi-Typen. Im Nationalrat scherzen sie vergnügt miteinander. Bei den Verhandlungen leiten sie für ihre Partei den Cluster „Gesundheit, Pflege, Arbeit und Soziales“.
Fäkalrat
Die von den Parteichefs verordnete Konstruktivität verlangt von jenen Abgeordneten Selbstdisziplin, die in den vergangenen Jahren besonders kämpferisch auftraten – wie Jan Krainer. Der SPÖ-Budgetsprecher knöpfte sich in den diversen U-Ausschüssen mit Verve und Vergnügen ÖVP-Politiker vor.
Bei der Vorstellung des neuen Finanzministers Gunter Mayr im Nationalrat übt Krainer an dessen Vorgänger Magnus Brunner Kritik: Für alle großen Projekte der scheidenden Regierung habe die Gegenfinanzierung gefehlt. Man könne den Prognosen des Finanzministeriums nicht glauben. Und dies sage nicht er, Krainer, sondern Christoph Badelt, und der sei immerhin Präsident des „Fäkalrats“. Der hinter Krainer sitzende Zweite Nationalratspräsident Haubner zuckt kurz, ansonsten bleibt Krainers Lapsus – und dessen augenblickliche Korrektur auf „Fiskalrat“ – unbemerkt.
Vorsätzlich drastisch formuliert der NEOS-Abgeordnete Sepp Schellhorn. Zu Herbert Kickl sagt er, dieser brauche sich nicht wundern, dass niemand mit ihm koalieren möchte, wenn er den anderen ständig „vor die Türe kotzt“. Nationalratspräsident Walter Rosenkranz, FPÖ, bittet nach Schellhorns Rede darum, „im Zusammenhang mit der Antiperistaltik andere Bezeichnungen zu wählen“. Andere Abgeordnete von ÖVP, SPÖ und NEOS setzten ihre Energie im Plenarsaal ebenfalls gegen die Freiheitlichen ein. Nichts verbindet mehr als ein gemeinsamer Gegner.
Manches, was ÖVP und SPÖ einst trennte, sollte bei den Verhandlungen weniger kontrovers sein. Früher hätten schwarz-rote Verhandlungen an den Themen Asyl und Migration scheitern können, mittlerweile sind die roten Positionen nicht mehr weit von den schwarzen entfernt. Abschiebungen sollen forciert, die Zahl der Asylwerber weiter reduziert werden.
SPÖ-Chef Babler ging laut „Presse“ mit der Forderung in die Verhandlungen, nicht „Andreas“, sondern „Andi“ genannt werden zu wollen. Einen anderen Wunsch werden ihm ÖVP und NEOS nicht erfüllen. Die von der SPÖ geforderte Vermögenssteuer kommt nicht, die Erbschaftssteuer ebenso wenig oder in sehr milder Form. Am ehesten ist eine Anpassung der Grundsteuer möglich.
Mut zum Detail
Für Auseinandersetzungen in den schwarz-rot-pinken Verhandlungen könnte, neben der Wirtschaft und dem Budget, der Bereich „Wohnen“ sorgen. Die SPÖ will ein Recht auf Wohnraum in der Verfassung verankern, die NEOS fordern Liberalisierungen, um Wohnen günstiger zu machen, die ÖVP vertritt auch die Interessen der Hausherren. Sucht die neue Regierung ein wahres „Leuchtturmprojekt“, würde sich die Reform des Mietrechts dazu eignen.
Einigkeit herrscht, dass das Koalitionsprogramm möglichst detailliert ausfallen muss. Was nicht als Projekt fixiert wird, hat kaum Realisierungschancen. Tauschgeschäfte zum Interessenausgleich sind in einem Dreier-Bündnis schwieriger als in einer Zweier-Koalition. Zumal die Gruppendynamik sich je nach Thema ändert. SPÖ und NEOS haben beim Thema Bildung viele Gemeinsamkeiten. ÖVP und NEOS verbindet die Wirtschafts- und Steuerpolitik. Schwarz und Rot werden in Föderalismus-Fragen die NEOS abwehren müssen.
Entscheidend für den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen und das anschließende Funktionieren der Koalition ist das Verhältnis des Spitzenpersonals untereinander.
An Karl Nehammer schätzten SPÖ und NEOS zunächst nur, dass er nicht Sebastian Kurz ist. Mittlerweile haben ihn Rot und Pink durchaus als jemanden schätzen gelernt, der Politik ohne Finten betreibt. Scheitert Nehammer bei der Bildung der Regierung, ist er nicht nur als Kanzler, sondern auch als Parteiobmann Geschichte. Und neben dem Chef müsste sich die Volkspartei wohl eine komplette neue Führungsriege suchen, falls sie als Juniorpartner in eine blau-schwarze Koalition unter einem Kanzler Kickl will. Denn auch Klubchef Wöginger und Generalsekretär Christian Stocker wären nicht mit von der Partie.
SPÖ-Vorsitzender Andreas Babler hat sich von den Strapazen des Wahlkampfs und der Wahlniederlage – trotz der Unruhe in den Landesparteien – sichtlich erholt. Den Dauer-Klassenkämpfer in Turnschuhen und Jeans hat er hinter sich gelassen, stattdessen tritt er in Anzug und Krawatte bereits sehr ministrabel auf. Wie bei Nehammer hängt auch Bablers Schicksal vom Erfolg der Koalitionsverhandlungen ab. Einen Vizekanzler stürzt man nicht so einfach vom Parteivorsitz. Als Oppositionspolitiker dürfte Babler wohl eine Zeit lang weitermachen. Doch eher früher als später würde sich die SPÖ nach einem neuen Vorsitzenden umsehen.
Erst- und einmalige Chance für Pinke
Bei den NEOS gab es vor den Verhandlungen vereinzelt Warnungen vor dem Risiko einer Regierungsbeteiligung zum jetzigen Zeitpunkt. Angesichts der Budgetlage sei nichts zu gewinnen, pinke Reformprojekte wären kaum durchzusetzen. Beate Meinl-Reisinger, die seit sechs Jahren die Partei führt, war von Beginn entschlossen, die vielleicht einmalige Chance zu nützen. NEOS-Wähler wollen ihre Partei endlich in einer Regierung sehen. Klappt es nicht, wäre es eine persönliche Niederlage für die Parteichefin. Da ÖVP und SPÖ zu zweit auch über eine Mehrheit (wenn auch nur mit einem Mandat) verfügen, müssen die Pinken auf einer Klausel bestehen, von den beiden im Parlament nicht überstimmt zu werden.
Spätestens Mitte Jänner sollen die Verhandlungen abgeschlossen sein, ansonsten sind sie wohl gescheitert. Über Weihnachten und Neujahr – so eine Lehre aus früheren Koalitionsgesprächen – wird sich der Druck auf die Verhandler massiv verstärken: von der Öffentlichkeit, Interessenvertretungen, aber auch aus den eigenen Parteien.
Der neu ins Parlament eingezogene Tiroler NEOS-Abgeordnete Dominik Oberhofer erzählt in seiner Jungfernrede vergangenen Mittwoch von seinen Eltern. Diese hätten ihm beigebracht, dass es in der Wirtschaft „wie bei Moses“ sei: „Sieben gute Jahre, sieben schlechte Jahre.“
Karl Nehammer, Andreas Babler und Beate Meinl-Reisinger wären schon zufrieden, wenn die nächsten fünf Jahre halbwegs gut verlaufen.
ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.