Die in der Schlange stehen

Optimismus in Schutt und Asche: von japanischer Disziplin und bewährten Klischees

Psychologie. Von japanischer Disziplin und bewährten Klischees

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Zwölf Minuten lang schwankte die Erde. Am Morgen des 28. Oktober 1891 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 8,4 (nach heutigen Schätzungen) die japanische Hauptinsel Honshu. Das Epizentrum lag unter der Nobi-Ebene nördlich von Nagoya. Über 7000 Menschen starben, mehr als 140.000 Häuser wurden zerstört. Bis dahin hatten Erdbeben in Japan als nicht sehr bemerkenswerte Tatsache gegolten, die – so die mythologische Erklärung – von den Bewegungen jenes gigantischen Wels ausgelöst wurden, der den japanischen Archipel auf seinem Rücken trägt und dabei nicht bösartig handelt, sondern mit seinen Erschütterungen bloß Glück und Unglück im Land neu verteilt.

Diesmal hatte das Beben aber noch eine weltliche, eine politische Bedeutung: Im Zuge der neuen Öffnung zum Westen nach der Meiji-Restauration von 1868 waren vor allem britische Ingenieure und Architekten nach Japan geholt worden, um die Nation zu modernisieren, sprich: in Stein und Stahl neu zu errichten und damit die fragile, schwächliche, aus Holz und Papier bestehende Vergangenheit vergessen zu machen. Nun zerstörte das Beben von 1891 aber ausgerechnet die neuen Eisenbrücken und Backsteingebäude – während die alten, hölzernen Tempel und Pagoden weitgehend intakt blieben. Der Schluss drängte sich auf: War die eigene Tradition der westlichen Moderne vielleicht doch überlegen? Und hatte es – typisch Japan – die Natur gebraucht, um auf die Defizite der Kultur hinzuweisen? Es ist kein Zufall, dass in jenen Jahren der japanische Nationalismus seinen ersten großen Höhenflug erlebte – bis zur großen Katastrophe vom 1. September 1923, als das Kanto-Beben Yokohama und Tokio zerstörte. Mehr als 140.000 Menschen verloren ihr Leben, viele davon starben in dem Brand, der im noch weitgehend aus Holz gebauten Tokio wütete. Die Bevölkerung reagierte weder gelassen noch stoisch. Es kam zu schweren Ausschreitungen gegen die koreanische Minderheit. Japan musste wieder einmal sein Selbstbild überdenken. Der große Wels hatte das Glück neu verteilt.

„Das war kein Lächeln“.
Am 14. März 2011 sitzt Shinichi Suzuki in einer Wiener Wohnung und schaut Fernsehnachrichten. Der Germanist an der Universität von Tokio sieht eine japanische Frau, die einem Reporter ihr Leid klagt: Im Tsunami, der die Küstenregion um Sendai verwüstet hatte, hat sie ihre Kinder verloren und seither nicht wiedergefunden. Dabei lächelt die Frau, was den deutschen Nachrichtensprecher zu einem Kommentar über die seltsame, dem Europäer kaum verständliche ­japanische Mentalität verführt. Shinichi ­Suzuki sieht etwas anderes: „Das war kein Lächeln. Das war Trauer.“

Suzuki hat in Sendai und Klagenfurt studiert, ist gerade bei Freunden in Wien zu Besuch und wird noch am nächsten Tag zurück nach Tokio fliegen, auch wenn ihm alle davon abraten. Das erste Mal war er im Sommer 1986 in Europa, kurz nach Tschernobyl ironischerweise, und wunderte sich über die fremde Kultur, vor allem aber über die Tatsache, wie offen und direkt die Menschen hier ihre Meinung hinausposaunen. „In Japan gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen dem, was man sagt, und dem, was man denkt.“

Aber was denken die Menschen, die man in den TV-Berichten aus Tokio und Sendai sieht und deren Gesichter wir, wie es scheint, nur unzureichend lesen können? Sind sie wirklich so stoisch, gefasst und schicksalsergeben, wie uns die westlichen Nachrichtenleute erklären? Besteht ein Unterschied zwischen dem, was wir sehen und was sie denken?

„Ich wäre mir nicht so sicher, ob diese Gelassenheit etwas mit Stoizismus zu tun hat“, sagt Roland Domenig, Lehrbeauftragter am Institut für Japanologie der Uni Wien. „Was wir ganz objektiv erleben, ist die ausgeprägte Disziplin der Bevölkerung. Diese Disziplin ist das Ergebnis einer langen Erfahrung mit Naturkatastrophen und eine ganz pragmatische, rationale Angelegenheit. Es wäre nicht vernünftig, in einer derartigen Situation panisch zu reagieren, vor allem nicht in einem Land, in dem fast 130 Millionen Menschen auf relativ engem Raum zusammenleben. Egoismus hat unter solchen Umständen keinen Platz. Diese Tatsache wird in Japan schon Kleinkindern vermittelt.“

Eine andere Form von Pragmatismus praktiziert dagegen der gemeine Europäer: Die deutsche Journalistin Maren Bekker berichtete in der Vorwoche von ihrer überstürzten Abreise aus Tokio und von ihrem Vermieter, Herrn Yamada, der Verständnis zeigte für ihr – nach japanischen Maßstäben hysterisches – Verhalten. Er selbst bleibe selbstverständlich in der Stadt, entschuldige sich aber für das Erdbeben und die Unannehmlichkeiten, die es mit sich gebracht habe. Typisch? Typisch. „Wenn dir in Japan jemand das Leben rettet, wird er sich hinterher bei dir entschuldigen. In Japan entschuldigst du dich dauernd, du entschuldigst dich quasi für deine eigene Existenz“, sagt der österreichische Künstler und Filme­macher Edgar Honetschläger, der seit 1991 überwiegend in Tokio lebt, buchstäblich Stunden vor dem Beben nach Österreich geflogen ist und seit seiner Landung versucht, seine Schwiegerfamilie zur Flucht vor der Atomkatastrophe zu bewegen. Vergeblich: „Die meisten haben auf Ignoranz geschaltet. Jetzt das Land zu verlassen käme ihnen wie Fahnenflucht vor. Sie meinen, ich soll nicht so hysterisch sein.“ Trotzdem ­dürfe man diese Haltung nicht mit Emotionslosigkeit verwechseln: „Japaner sind ­außergewöhnlich gefühlsbetont und sensibel, drücken es allerdings anders aus. Aber sie können auch blitzartig umschalten: Ich habe schon mehrfach am eigenen Leib erfahren, wie cholerisch Japaner aufbrausen können.“
Disziplin, Beherrschtheit, Gruppenmentalität, Unterwürfigkeit und eine prinzipielle Andersartigkeit – das westliche Japanbild zehrt seit Jahrzehnten von einer Hand voll bewährter Klischees, wobei sich das Image Japans trotzdem in regelmäßigem Rhythmus recht wesentlich verändert: Japaner als fanatische Nationalisten und Kriegstreiber (Zweiter Weltkrieg), westlich orientierte Modernisierungsgewinner (sechziger Jahre), vorbildhafte Managerkultur-Exporteure (achtziger Jahre), „schrille“ Popkultur-Avantgardisten (zuletzt). Die japanische Bevölkerung selbst sieht sich übrigens – seit 50 Jahren nahezu unverändert – in erster Linie als fleißig (67 Prozent, laut einer Studie des Tokioter Instituts für Statistische Mathematik) und höflich (60 Prozent), aber nur wenig kreativ (neun Prozent) oder fröhlich (zehn Prozent).

„Was soll man schon machen?“
Das entspricht ganz dem weit verbreiteten Prinzip des „sho ga nai“, einer japanischen Abart des österreichischen „Was soll man schon machen?“, das in Krisenfällen gern schulterzuckend bemüht und vom Japanologen Domenig so charakterisiert wird: „Einerseits gebietet die Situation, sich anzustrengen und durchzuhalten, andererseits fühlt man sich ohnmächtig und verfällt leicht in Passivität. Es handelt sich im Grunde um einen Verdrängungsmechanismus. Das ist allerdings nichts spezifisch Japanisches.“ Und tatsächlich ist „sho ga nai“ nicht der einzige japanische Wesenszug, den man problemlos auch in Wien und Umgebung wiederfinden kann. Die Klagenfurter Schriftstellerin Lydia Mischkulnig, die mehrere Monate lang an der Uni Tokio unterrichtete, erinnert sich an quälend lange Fakultäts­sitzungen ohne messbares Ergebnis. „Entscheidungen wurden endlos verschoben oder vertagt oder an Unterausschüsse gegeben.“ Irgendwann war die behördliche Selbst­lähmung so weit fortgeschritten, dass ein Sonderausschuss gegründet werden musste, um den Ausschusswust zu durchkämmen. Ohne Ergebnis. „Auch sonst werden immer wieder Umständlichkeiten in den Alltag ­eingebaut, kleine Schwellen im Zeitfluss, die den reibungslosen Ablauf verlangsamen.

Im Supermarkt werden die Waren an der Kassa erst von einem Korb in einen anderen Korb umgeschichtet, von dem aus man sie nach dem Bezahlen in Plastiksackerln einschlichtet. Das Effizienzdenken, wie wir es gewohnt sind, wird regelmäßig aufge­hoben. Man hat dieses Bild vom hochtech­nologisierten Japan im Kopf, aber vieles in ­Tokio hat mich an das Kärnten von vor 30 Jahren erinnert.“

Das moderne Bild von Japan wurde im Jahr 1946, wenige Monate nach den traumatischen Ereignissen von Hiroshima und Nagasaki, geprägt – von einer US-Anthropologin. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlichte Ruth Benedict ihre Studie „Chrysantheme und Schwert“, in der sie das Wesen Japans beschrieb – und veränderte. Das Selbstverständnis der japanischen Nation lässt sich in wesentlichen Punkten auch auf Benedicts Studie zurückführen. Benedict identifizierte eine landestypische, ganz eigene Art von psychologischer Struktur, einen Japanismus, der sich vom westlichen Denken grundsätzlich unterscheide. Ihre pauschalisierende Theorie fiel auf fruchtbaren Boden. Sie entstand zu einer Zeit, als Japaner im Westen als fanatische, nationalistische Unmenschen gesehen wurden, und erklärte den ­bedingungslosen Weltkriegs-Gehorsam des japanischen Volkes mit psychologischen Mitteln. Der Japaner, eben noch ein unfassbares Scheusal, war plötzlich ein Stück weit verständlicher.

Benedict beschrieb die hierarchische Struktur der japanischen Gesellschaft, die nach dem Modell der Familiengemeinschaft modelliert sei und in der sich der Einzelne durch Unterwerfung ein beruhigendes Maß an Sicherheit und Schutz verdienen könne. Indem das Individuum seinen Platz in der Gemeinschaft annehme und sich in deren Dienst stelle, könne es seine Funktion mit Stolz und Würde erfüllen und gesellschaftliche Ansprüche auch unabhängig von einer inneren Motivation zur eigenen Zufriedenheit erfüllen.

„Kategorie Klischee“.
Das legendäre Arbeitsethos des japanischen Volks ordnet der Japanologe Domenig trotzdem in die „Kategorie Klischee“ ein. Tatsächlich fällt – in Wochenstunden gemessen – die reine Arbeitsleistung in Japan nicht wesentlich höher aus als in anderen industrialisierten Staaten. „Allerdings gibt es eine viel stärkere Identifikation mit der eigenen Aufgabe. Arbeit wird nicht als Strafe empfunden und ist, ähnlich wie im protestantischen Ethos, positiv besetzt. Diese Identifikation ist allerdings ein historisches Konzept, eine erfundene Tradition. Sie wurde in den zwanziger Jahren von öffentlicher Seite massiv propagiert, um den aufkeimenden Klassenkampf im Zaum zu halten.“ Das Kalkül ging auf: Wirtschaftlicher Erfolg diente Japan über Jahrzehnte hinweg als Quelle seines ausgeprägten Nationalstolzes. Der asiatische Inselstaat wurde zu einem weltweit beachteten Modellfall für erfolgreiches Wirtschaften, der selbst den westlichen Weltmächten überlegen war. Mit dem abrupten Ende des japanischen Wirtschaftswunders Anfang der neunziger Jahre ist diese Quelle versiegt – mit dramatischen psychologischen Folgen. Seit eineinhalb Jahrzehnten registriert die japanische Selbstmordstatistik jährlich mehr als 30.000 Suizide, eine der höchsten Raten in der entwickelten Welt. Psychische Probleme tragen gleichwohl bis heute ein gesellschaftliches Stigma, Sigmund Freud ist nie in Tokio angekommen. Edgar Honetschläger: „Es ist ein absolutes Tabu, negative Gefühle nach außen zu tragen. Weil das die Gemeinschaft belasten würde. Japaner sind dazu konditioniert, ihre Gefühle mit sich selbst auszumachen.“

Alles hat in Japan eine Vorder- und Rückseite, auch die Sprache unterscheidet konsequent zwischen formalem Schein und innerem Sein, zwischen „tatemae“ und „honne“. Bis vor wenigen Jahren konnte dieser Zwiespalt durch die wohlige Geborgenheit zugedeckt werden, die mit der Einordnung in autoritäre Verhältnisse einherging. Mit dem steigenden Druck durch Jobmangel, prekäre Arbeitsverhältnisse und wachsende gesellschaftliche Widersprüche bricht diese Kluft im zeitgenössischen Japan allerdings immer weiter auf. Zynisch betrachtet, kann die Katastrophe der letzten Tage den ge­sellschaftlichen Kitt wieder stärken. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte Japans.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.