ORF-Programm: Raunzfunk
Manchmal ist das ORF-Fernsehen wie eine Zeitreise - zum Beispiel zurück in die 1990er-Jahre. Auf ORF1 läuft derzeit um 13.45 Uhr "Die Nanny“, Staffel vier. Erstmals wurde diese im deutschsprachigen Raum im Frühjahr 1999 ausgestrahlt - macht nichts, die Programmmacher am Küniglberg zeigen sie 17 Jahre später erneut. Erst kürzlich konnte man dem Millionär Maxwell Sheffield wieder dabei zusehen, wie er dem hochtoupierten Kindermädchen Fran Fine seine Liebe gestand.
Der ORF ist ein skurriles Sammelsurium: ORF1 spielt vergleichsweise viele amerikanische Serien und Filme - viel eingekaufter Kommerz, vereinzelt erfolgreiche Eigenproduktionen wie "Die Vorstadtweiber“ und auf der Infoschiene innovative Formate wie die "Wahlfahrt“. ORF2 ist sogar für öffentlich-rechtliche Sender informationslastig - mit entsprechend altem Publikum. Im Radio wiederum schafft der ORF seit Jahren den Spagat zwischen Breite (Ö3) und Tiefgang (Ö1): 4,7 Millionen Menschen hören jeden Tag ORF-Radios, 3,6 Millionen Menschen schalten ORF-TV-Sender ein. Die Reichweite ist weiterhin enorm, doch eines verraten solche Zahlen nicht: Wie hochwertig ist das Programm?
"Was man nicht sieht, sind die Armin Wolfs von morgen." (Nicole Gonser)
Derzeit wird viel über den nächsten Generaldirektor spekuliert: Kann sich Alexander Wrabetz die Unterstützung der Parteien und damit seine Mehrheit im ORF-Aufsichtsgremium Stiftungsrat sichern? Oder wird der bisherige Finanzdirektor Richard Grasl neuer ORF-Chef? Für Politikjunkies sind ORF-Wahlen eine spannende Zeit, nur über eines wird erstaunlich wenig geredet: das eigentliche Angebot. Bekommen die österreichischen Gebührenzahler für ihr Geld genug geliefert? Und was ist überhaupt die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Jahr 2016?
"In Österreich zählt es fast zum guten Ton, über das Programm zu raunzen. Aber wenn man nachfragt, finden die Bürger doch viel Lob. In unseren qualitativen Interviews beobachten wir zum Beispiel, dass Befragte von selbst Armin Wolf ansprechen und wie gut sie seine Moderationen finden“, sagt Nicole Gonser, Medienwissenschafterin an der FH Wien, die als gebürtige Deutsche den Vergleich zum Ausland kennt. Sie sieht hierbei auch Gefahren: "Für einen Sender kann es riskant sein, wenn ein einzelner Moderator so hervorsticht. Was man nicht sieht, sind die Armin Wolfs von morgen.“
Zuseher äußern solche Kritik auch in den Publikumsgesprächen, die der ORF führt. In einem Protokoll wird eine Teilnehmerin zitiert: "Bei den Eigenproduktionen ist aufgefallen, dass immer dieselben Gesichter zu sehen sind. Vor allem (…) die Allzweckwaffe Mirjam Weichselbraun. Die wird wirklich viel eingesetzt, und man sieht wenig neue Gesichter, obwohl viele das gerne sehen würden.“
Sollte der ORF nach der Wahl neuartige Radio- oder TV-Sendungen starten, darf er diese derzeit gar nicht im Web testen.
Der ORF könnte aus dem Ausland lernen: Deutschland hat eine bekannte junge Fernsehfigur - Enfant terrible Jan Böhmermann, der mit seiner Satire über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eine Staatskrise auslöste. Böhmermanns Sendung startete 2013 in einem Nischenprogramm, dem Jugendsender ZDFneo. Erst 2015 durfte die Sendung spätabends im "richtigen“ ZDF wiederholt werden.
"Im ORF fehlen genau die Nischen, wo ein junges Programm ausprobiert werden kann und sich Zuseher an ein neues Gesicht gewöhnen“, sagt Gonser. Eine solche Nische könnte der Spartenkanal ORF3 sein. Auch ließen sich neue Formate zuerst im Web starten. "Dafür braucht es aber auch Mut: Das ZDF steht hinter Böhmermann, was sicher nicht immer einfach ist. Die beiden Herrn im ORF, Alexander Wrabetz und Richard Grasl, fahren hingegen eher auf Sicht: Sie wollen Eklats mit der Politik vermeiden“, sagt Hans-Peter Siebenhaar, Österreich-Korrespondent des "Handelsblatt“. Hierzulande gibt es zwar die angriffige Talkshow "Willkommen Österreich“ von Dirk Stermann und Christoph Grissemann - ein Angebot, das Siebenhaar in Deutschland vermisst. Aber eine politische Satiresendung wie die "heute show“ fehlt womöglich auch deswegen, weil die Parteien sie nicht lustig fänden.
Zur Überraschung vieler setzten die zuständige Fernsehdirektorin Kathrin Zechner und ORF-Chef Wrabetz sogar das hochgelobte Format "Wir Staatskünstler“ mit den Kabarettisten Thomas Maurer, Robert Palfrader und Florian Scheuba im Vorjahr nur auf Sparflamme um - die "Staatskünstler“ durften lediglich einen Jahresrückblick liefern.
Sollte der ORF nach der Wahl neuartige Radio- oder TV-Sendungen starten, darf er diese derzeit gar nicht im Web testen: Laut ORF-Gesetz können Beiträge nur dann online erscheinen, wenn sie davor auf einem der Sender gelaufen sind. "Ich plädiere dafür, das ORF-Gesetz zu aktualisieren. In Zukunft kann es sinnvoll sein, ein neues Angebot im Netz zu starten. Wir müssen experimentieren dürfen“, sagt Wrabetz zu profil. Er begibt sich erneut in einen Streit mit Zeitungsverlegern und Privatsendern. Die stört schon jetzt, wie viel der ORF online machen darf - vor allem wie viel Werbung.
Abseits des üblichen Raunzens erzielt der ORF gute Umfragedaten.
Dem ZDF ist verboten, online Anzeigen zu verkaufen. Dass der ORF mehr werben darf, liegt nicht zuletzt daran, dass er im Acht-Millionen-Einwohner-Land weniger Gebühren einnehmen kann als ARD und ZDF im 80-Millionen-Bürger-Nachbarstaat (und auch der Betrieb der neun Landesstudios kostet einiges). In der Schweiz gibt es ebenfalls wenig Werbebeschränkungen - und regelmäßig Streit mit Privatmedien, die sich vom gebührenfinanzierten Riesen benachteiligt fühlen. Die österreichischen Privat-TV-Sender verweisen gerne darauf, dass sie mittlerweile ebenfalls originelle Nachrichten- und Talk-Formate anbieten - ohne Gebührengelder.
Selbst innerhalb der geltenden Regelungen könnte der ORF wohl innovativer sein: Auch Dänemark zählt nur sechs Millionen Einwohner - dessen öffentlich-rechtlicher Rundfunk hat aber internationale Erfolge wie das Politikdrama "Borgen“ gedreht. Die Skandinavier forcieren Eigenproduktionen - und sind weniger dem Vorwurf ausgesetzt, viel Kommerz einzukaufen. Das ist wohl einer der Gründe, warum Wrabetz nun ankündigte, stärker ins ORF1-Programm zu investieren und dort eine breitere Informationsschiene aufbauen zu wollen, sollte er wiedergewählt werden.
Die bestehenden Eigenproduktionen könnte man online stärker vermarkten: "Die Vorstadtweiber“ haben nicht einmal eine eigene Site auf ORF.at. Sogar der deutsche Kanal daserste.de bietet hierfür mehr Infos und kurze Videoclips. "Auf ORF.at merkt man gar nicht, dass es sich in erster Linie um einen Fernseh- oder Radiosender handelt. Hier lässt der ORF viele Chancen ungenützt. Zum Beispiel kann man im Netz auch Wirbel rund um die eigenen Produktionen machen. Die BBC hat für manche ihrer fiktionalen Figuren sogar einen Twitter-Account eingerichtet: Dieser tweetet aus Sicht der Figur und spricht online die Hardcore-Fans an. Aus solchen Konversationen hat sich sogar schon neuer Stoff für die Drehbuchschreiber ergeben“, sagt Martin Zimper, Filmkenner und Leiter des Studiengangs CAST/audiovisuelle Medien, einer Ausbildung an der Zürcher Hochschule der Künste.
Mit solchen Details könnte man das Programm aufpeppen. Allerdings: Abseits des üblichen Raunzens erzielt der ORF gute Umfragedaten. Insgesamt geben die Bürger dem Gesamtangebot die Note 2,1 - diese Zahl ist seit 15 Jahren recht konstant. Der frühere ZDF-Chef Markus Schächter, der Gutachter für das Qualitätsmanagement des Senders ist, sagt: "Österreich und der ORF haben eine ausgesprochen starke Bande. Der Sender liegt mit seiner Akzeptanz in der Bevölkerung im europäischen Spitzenfeld. Generell tun sich alle öffentlich-rechtlichen Sender mit jungen Zusehern schwer - aber sogar da schneidet der ORF vergleichsweise gut ab.“
Nur in zwölf Prozent der Nachrichtenbeiträge auf ORF2 stehen Frauen im Mittelpunkt.
Das führt zu einer Zukunftsfrage: Derzeit wird eine neue Führungstruppe im ORF gesucht - nur wie sehen zeitgemäße öffentlich-rechtliche Inhalte aus? Eine Studie der Akademie der Wissenschaften gibt Aufschluss. "Wir fragten uns: Wie lässt sich die demokratiepolitische Bedeutung von Medien heute messen? Immerhin befindet sich die Demokratie im Wandel - Parteien sind nicht mehr so bedeutend wie einst, viele Bürger wollen sich selbst engagieren, sie wollen sich auch als Individuum von Medien angesprochen fühlen“, sagt Forscher Josef Seethaler. Für die Regulierungsbehörde RTR untersuchte er die Informationsqualität heimischer Medien - und sah sich zwei Aspekte an. Erstens Objektivität und Unparteilichkeit, zweitens "Diskursivität“.
Er ermittelte dabei, ob das Publikum direkt angesprochen wird und ob Vertreter der Zivilgesellschaft oder Frauen vorkommen: "Den klassischen öffentlich-rechtlichen Programmauftrag erfüllt der ORF sehr gut: Die Radio- und TV-Nachrichten sind äußerst ausgewogen, bilden die Parteien im Parlament ab. Bei der diskursiven Leistung sieht die Sache schon anders aus. Zwar spiegelt das Programm die Vielfalt der Parteien wider, aber weniger die Vielfalt der Bevölkerung.“ Nur in zwölf Prozent der Nachrichtenbeiträge auf ORF2 stehen Frauen im Mittelpunkt. Auf ORF1 waren es zumindest 20 Prozent - obwohl ja Frauen die Hälfte der Bevölkerung stellen. Er lobt die jungen News "ZIB 20“ und "ZIB Magazin“: "Ich weiß, dass es oft Kritik an ORF1 gibt, das manchen zu unterhaltungslastig ist - aber bei den Nachrichten versucht ORF1 einen größeren Teil der Bevölkerung abzubilden und jüngere stärker anzusprechen.“
Seethaler wünscht sich eine Neudefinition des öffentlich-rechtlichen Auftrags: "Es wäre fatal, den Informationsauftrag hauptsächlich daran zu messen, ob alle Parlamentsparteien vorkommen. Damit spricht man einen Teil der Bevölkerung nicht mehr an - und um die Bevölkerung sollte es eigentlich gehen.“
Das ORF-Programm in Zahlen
- 63 Jahre alt sind die Zuseher der "ZIB 1“ im Schnitt, 61 Jahre jene der "ZIB 2“. Bei der "ZIB 20“ sind es 49 Jahre, wobei die Sendung ein vier Mal kleineres Publikum erreicht.
- 94 Prozent des TV-Konsums wird klassisch "linear“ ferngesehen, nur 6 Prozent der Zeit fällt auf digitale Angebote wie Mediatheken. Das zeigt eine Studie des Vereins Media Server.
- 2,75 Millionen Österreicher sitzen zwischen 21.00 und 21.05 Uhr vor dem TV-Apparat, ergab der Teletest im Jahr 2015. Es ist jene Uhrzeit, zu der am meisten ferngeschaut wird.
- 103 Sender empfängt ein durchschnittlicher TV-Haushalt heute. Im Jahr 2000 waren es laut Teletest nur 29. Im Schnitt nutzen Menschen aber nur 13 Sender im Monat.