Rendi-Wagner: Richtige/falsche Frau am richtigen/falschen Platz?
Die perfekte SPÖ-Chefin wäre eine Mischung aus Michael Ludwig und Hans Peter Doskozil - inhaltlich, versteht sich. Sie käme am Land ähnlich gut an wie in der Stadt, wäre ein bisserl weltoffen, aber nur so weit, dass sie sich nicht den Vorwurf einhandelt, sie mache "pseudolinke Politik".Sie wäre ein wenig modern, aber nur so weit, dass sie sozialdemokratische Heiligtümer nicht andiskutiert. Außerdem säße die perfekte SPÖ-Chefin nicht als Oppositionsführerin im Nationalrat - sondern im Kanzleramt. Oder sie hätte zumindest eine realistische Perspektive auf einen baldigen Jobantritt am Wiener Ballhausplatz. Die perfekte SPÖ-Chefin existiert natürlich nicht. Aber wie weit erfüllt Pamela Rendi-Wagner die Anforderungen, die von ihrer Partei an eine Vorsitzende gestellt werden?
Schmerzgrenze: 100 Prozent
Eines muss man Rendi-Wagner lassen: Ein Glaskinn hat sie nicht. Egal ob die Attacken von Gegnern oder Parteifreunden kommen, die Frau hat eine enorm hohe Toleranzschwelle. Und die braucht sie auch. Immer wieder wurde öffentlich über ihren Rücktritt spekuliert. Nach der krachenden Niederlage bei den Nationalratswahlen 2019 (21 Prozent, minus sechs Prozentpunkte). Nach der Kündigung von 27 Mitarbeitern aus der Parteizentrale. Nach Leaks von Dokumenten aus dem Innersten der Partei, die belegten, dass Rendi-Wagner monatelang ihre Parteisteuer nicht gezahlt hatte. Nach Gerüchten, das Ergebnis der SPÖ-Mitgliederbefragung sei gefälscht. Und jetzt, nach dem-freundlich ausgedrückt-bescheidenen Ergebnis beim Parteitag in Wien, bei dem Rendi-Wagner auf nur 75 Prozent Zustimmung kam. "Warum tun Sie sich das eigentlich an?"ist eine der beliebtesten Interviewfragen an Rendi-Wagner. Wenn Journalisten Mitleid mit Politikerinnen haben, ist das freilich selten ein gutes Zeichen.
G'spür: 30 Prozent
Michael Ludwig ist ein geübter Basisflüsterer. Noch bevor er zum Wiener SPÖ-Chef gewählt wurde, lief er bei Parteiveranstaltungen mit einem kleinen Notizblock herum und notierte geduldig die Anliegen der Funktionäre. Ein großer Vorsitzender braucht ein Sensorium für die kleinen Befindlichkeiten. Rendi-Wagner entspricht als Anti-Apparatschik zwar dem Zeitgeist, innerparteiliche Logiken hat sie allerdings kaum verinnerlicht. Bei einem profil-Rundruf durch die SPÖ kam ein Vorwurf besonders oft: "Rendi-Wagner ist vor dem Parteitag nicht auf die Länder zugegangen." Ein hochrangiger Funktionär: "Das ist wie im Wahlkampf. Es bringt nichts, wenn du nur kurz vor der Wahl Hausbesuche machst. Du musst auch in Friedenszeiten bei den Delegierten vorbeischauen." Der Konter von SPÖ-Geschäftsführer Christian Deutsch: "Jene, die beklagen, wir hätten uns zu wenig anschauen lassen in den Ländern, haben vergessen, dass wir mitten in einer Pandemie steckten. Sogar Ortsparteien haben nur online getagt."An Videokonferenzen habe Rendi-Wagner selbstverständlich teilgenommen. Punkt für Rendi-Wagner: Mit Tirols Parteichef Georg Dornauer konnte sie einen ihrer früheren Kritiker besänftigen - inzwischen prangt ihr Plakat sogar auf der Tiroler SPÖ-Zentrale.
Killerinstinkt: 10 Prozent
Um Parteichefin zu werden und zu bleiben, braucht es eine gewisse Skrupellosigkeit. Rendi-Wagner ist anders. Ihr ist das Spitzenamt irgendwie passiert: Erst wurde sie nach dem plötzlichen Tod von Sabine Oberhauser 2017 von der Sektionschefin zur Gesundheitsministerin, dann nach dem plötzlichen Rücktritt von Christian Kern 2018 Parteichefin. Politische Gegner musste sie noch keine aus dem Weg räumen, Attackieren hat sie nie gelernt. Entsprechend unbedarft wirkt sie, wenn die Regierung unter Druck gerät. Dann setzt die SPÖ-Chefin auf eine umstrittene Strategie: abwarten, schweigen, wegducken. Als im Mai bekannt wurde, dass die Korruptionsstaatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Kanzler Sebastian Kurz eingeleitet hat, weil dieser im Ibiza-U-Ausschuss falsch ausgesagt haben soll, schlug Rendi-Wagner eine Einladung ins "Z IB 2"-Studio aus-und ließ sich die Chance entgehen, den Kanzler vor knapp 900.000 Zusehern live zu attackieren. Warum nur? Offenbar will sich die SPÖ-Chefin aus dem tagespolitischen Streit heraushalten und die Staatsfrau geben. Siehe: Breitenwirkung.
Breitenwirkung: 24 Prozent +x
Der Anspruch der SPÖ ist nicht verhandelbar: das Kanzleramt. Ein Gutteil des Frusts über Rendi-Wagner rührt daher, dass ihre Chancen auf den Job als Regierungschefin als gering eingeschätzt werden. Während der Corona-Krise konnte Rendi-Wagner zwar ihren Expertinnenstatus ausspielen, Vertrauenswerte aufpolieren und die SPÖ in Umfragen auf 24 Prozent stabilisieren (drei Prozentpunkte über dem letzten Nationalratswahlergebnis). Doch auf die ÖVP unter Kurz fehlen ihr immer noch etwa neun Prozentpunkte. Viele in der SPÖ meinen: Wenn es Rendi-Wagner trotz türkiser Skandale und Unmut der Bevölkerung am Corona-Management der Regierung nicht schafft, näher an die ÖVP heranzukommen-wann dann? Die rote Hoffnung: dass nach der Pandemie die soziale Frage zur relevantesten politischen Problemstellung wird. Ihr engstes Umfeld rät ihr, den Kampf gegen Arbeitslosigkeit und die sozialen Folgen der Pandemie in den Fokus zu rücken. Auch "die Frage der Kosten der Krise" werde die SPÖ nun thematisieren, kündigt Parteimanager Deutsch an.
Wientreue: 90 Prozent
Wenn es eng für die Parteichefin wird, sorgt Bürgermeister Ludwig im Hintergrund für Ruhe. Auch nach dem schwachen Parteitagsergebnis war es der Wiener Parteivorsitzende, der eine wildere Personaldebatte verhinderte. Entsprechend geknickt bewertet Ludwigs Umfeld den Parteitag: "Die SPÖ war gut unterwegs. Der Mitbewerber ist im Eck, auch die Grünen, in der FPÖ hat sich der Hardliner durchgesetzt. Für uns wäre eigentlich alles angerichtet. Strategisch war das keine besonders kluge Geschichte." Der Preis für die Nähe zur Bundeshauptstadt: Neben dem Vorsitz sind auch die Parteizentrale und viele andere wichtige Positionen in den Händen von Wienern. Das sorgt für Ärger in den Ländern. Ein Roter aus dem Osten: "In Wirklichkeit trifft Ludwig alle Entscheidungen."
Weltoffenheit: 85 Prozent
Rendi-Wagner kann eine sozialdemokratische Bilderbuch-Lebensstory vorweisen, sie verkörpert die soziale Durchlässigkeit, die sich die SPÖ auf die Fahnen schreibt: Vom Gemeindebau gelang ihr der Sprung auf die Medizin-Uni. Rendi-Wagner wirkt urban, intellektuell, authentisch in Fragen der Gleichstellung von Frauen und Minderheiten. Im Game gegen Grün und Pink ist die 50-Jährige ein taugliches Asset. Doch das bringt ihr immer wieder den Vorwurf ein, sie mache "Politik für die Pseudolinken", also für gut betuchte, liberale Großstädter. In Wien ist sie mehrheitsfähig, im restlichen Bundesgebiet weniger. Ein strategisches Dilemma, das den Großteil aller SPÖ-internen Debatten erklärt.
Erdung: 40 Prozent
Sportwägen, alte Weine, teure Uhren, Kinder in der Privatschule, Urlaub bei Reich und Schön - geht für eine SPÖ-Chefin gar nicht. Beziehungsweise: sorgt garantiert für öffentliche Empörung. Ex-SPÖ-Geschäftsführer Thomas Drozda bekam parteiintern den Spitznamen "Protzda" verpasst, weil er einen alten Porsche fährt. Rendi-Wagner musste sich mit Kritik an einem Urlaub im französischen Nobelort Saint-Tropez herumschlagen. Der Vorwurf: Wie kann eine, die Arme und Schwache vertreten will, selbst im Luxus leben? Es mag zwar stimmen, was der frühere Chef der deutschen Linkspartei, Gregor Gysi, einmal sagte: "Ein Linker muss nicht arm sein, er muss gegen Armut sein." Es stimmt aber auch, dass Bescheidenheit bei Wählern gut ankommt. Schlag nach bei Kurz, der demonstrativ in der Economy Class fliegt und Urlaub ausschließlich in Österreich macht - zumindest offiziell. Wenn sich ein Konservativer in der Öffentlichkeit anspruchsloser gibt als die Chefin der Sozialdemokraten, ist Selbstreflexion angebracht.