Die Generalprobe für den Mauerfall

Paneuropäisches Picknick: Die Generalprobe für den Mauerfall

Zeitgeschichte. Vor 25 Jahren nützten DDR-Flüchtlinge ein Fest zur Massenflucht nach Österreich

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Es war ein glühend heißer Sommertag, aber niemand auf dem Campingplatz von Fertörakos in der Nähe von Sopron (Ödenburg) dachte an ein Bad im nahen Neusiedler See. Auch Hermann Pfitzenreiter grübelte am 19. August 1989 über einen Fluchtweg nach Österreich. „Jeden Tag war wieder ein Zelt leer, wenn jemand übers Schilf oder über die Weinberge abhauen konnte“, erinnert sich Pfitzenreiter im Gespräch mit profil.
Am Abend wollte er sich mit seiner Frau über die grüne Grenze nach Mörbisch schleusen lassen. Doch da las er auf einem Flugblatt die Nachricht von einem seltsamen „Paneuropäischen Picknick“. Demnach sollte noch am selben Tag am Ort des erst kürzlich abgebauten Eisernen Vorhangs eine „einmalige, okkasionelle Grenzüberschreitung“ nach St. Margarethen im Burgenland stattfinden.

„Wir waren endlich im Westen!“
Pfitzenreiter dachte zunächst an eine Falle der Stasi: „Dort warten vielleicht Busse, die uns zurück in die DDR bringen“, fürchtete er, fuhr aber dann doch dem Tross Richtung Grenze nach. Dann ging es nur noch zu Fuß weiter. „Es war eine ziemlich große Ansammlung vor dem hölzernen Tor. Es herrschte ein totales Durcheinander. Die wenigen ungarischen Grenzsoldaten hielten uns nicht auf. Wir rannten, so schnell es ging. Kinder weinten, und dann fielen wir uns alle um den Hals. Wir waren endlich im Westen!“

Der Massenexodus vor 25 Jahren lief über die ab 1948 gesperrte Landstraße zwischen Sopron (Ödenburg) und St. Margarethen ab. Rund 700 DDR-Flüchtlinge nutzten die Möglichkeit zur Flucht in den Westen. Es war die größte Fluchtbewegung aus Ost-Deutschland seit dem Bau der Berliner Mauer.

An dem Grenzübergang entlang der alten Bernsteinstraße, auf der heute hauptsächlich ungarische Pendlerinnen fahren, stehen heute Denkmäler und ein nachgebauter „Eiserner Vorhang“, wie der mehrteilige Grenzzaun samt Elektrodrähten und Minenfeldern genannt wurde.

Ein kleiner Kreis von Oppositionellen der Ungarischen demokratischen Front (MDF) in Sopron hatte das Picknick organisiert. „Wir haben nicht geahnt, dass so viele Menschen aus der DDR kommen würden“, erinnert sich László Nagy, ein Hauptorganisator. „Geplant war ein Fest mit den österreichischen Nachbarinnen. Jeder sollte ein Stück von den Resten des Eisernen Vorhangs abzwicken und mit nach Hause nehmen. Und außerdem wollten wir mit der symbolischen Grenzöffnung Oppositionellen in anderen kommunistischen Staaten Mut machen, ähnliche Aktionen zu planen. Warum nicht auch am Checkpoint Charlie in Berlin

Die reformfreudige ungarische KP-Führung war über das „Picknick“ mit der für drei Stunden angesetzten Grenzöffnung informiert worden. Premierminister Miklós Németh erklärte später, er wollte damit ausloten, wie die sowjetische Führung reagieren würde. Würde sie die damals in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen an die Westgrenze Ungarns schicken? „Es war ein Wunder, dass damals alles unblutig ablief“, erklärte Nemeth im vergangenen Mai bei einem Seminar in Wien.

Seine Regierung hatte Anfang 1989 den Abbau der wegen der in Ungarn eingeführten Reisefreiheit als sinnlos eingestuften Grenzschutzanlagen angeordnet. Am 27. Juni wurde bei Klingenbach ein – eigens für ein Foto – wiederaufgebautes Teilstück des Zauns von den Außenministern Österreichs und Ungarns, Alois Mock und Gyula Horn, durchschnitten. Bilder davon machten über westdeutsche TV-Stationen auch in der DDR die Runde. Ein Tor in den Westen schien aufgestoßen.

„Wie hätten wir zu sechst hunderte Flüchtlinge aufhalten sollen?“
Da hätte Der EU-Abgeordnete und Kaisersohn Otto Habsburg hatte zuvor bei einem Vortrag in Debrecen über Ungarns neue Rolle in Europa gesprochen. Die Idee einer Feier an der gefürchteten Grenze zwischen Ost und West tauchte auf. Mitglieder des Demokratischen Forums in Sopron machten sich an die Organisation des Picknicks. Als Schirmherren der Veranstaltung wurden Otto Habsburg und der Reform-Kommunist Imre Pozsgay ausgewählt.
Beide kamen aber dann doch nicht persönlich zur Feier an der Grenze. Habsburg schickte seine Tochter Walburga, Pozsgay seinen Staatssekretär. „Ich hielt eine Rede und habe die historischen Dimension der Ereignisse erst später mitbekommen“, so Walburga Habsburg-Douglas, heute Abgeordnete zum schwedischen Reichstag. Auf dem Weg zum Picknick-Gelände fielen ihr verschreckte Menschen auf, die alle deutsch sprachen – mit DDR-Akzent. Jetzt verstand Habsburg die Frage eines westdeutschen Diplomaten vom Vorabend. „Der wollte wissen, ob wir auf alles vorbereitet seien.“

Dafür, dass dieser Massenexodus so friedlich ablief, ist an erster Stelle der Grenzwache-Offizier Árpád Bella verantwortlich. „Man hat mir nichts von einem möglichen Ansturm von DDR-Flüchtlingen berichtet. Meine fünf Beamten und ich sollten uns hauptsächlich um die Grenzformalitäten unserer Gäste aus Österreich kümmern“, erzählt Bella. „Und wie hätten wir zu sechst hunderte Flüchtlinge aufhalten sollen? Da hätte leicht eine gefährliche Panik entstehen können.“

Er wies seine Grenzsoldaten an, keinesfalls auf Flüchtende zu schießen, obwohl der Gebrauch von Schusswaffen damals bei Missachtung von Befehlen und zur Selbstverteidigung noch immer vorgeschrieben war. Der inzwischen pensionierte Oberstleutnant ließ seine Soldaten mit dem Gesicht zur österreichischen Grenze Aufstellung nehmen. „Da wir hinten keine Augen haben, konnten wir niemanden aufhalten“, meint Bella verschmitzt.
Die burgenländischen Behörden waren von den ungarischen Organisatorinnen erst im letzten Moment über das Fest an der Grenze informiert worden. Der damalige Bürgermeister Andreas Waha hatte trotz des gerade stattfindenden Weinfestes viele Einheimische zum Mitfeiern jenseits der so lange toten Grenze überredet. „Aber noch bevor wir dort ankamen, rannten uns schon hunderte Menschen entgegen“, erinnert sich Alexander Wind, damals Volksschuldirektor. „Sie haben sogar unsere Jägerstände ängstlich angeschaut, ob nicht von dort jemand auf sie schießt.“

Busse brachten die Flüchtlinge noch am Sonntagabend in die BRD-Botschaft nach Wien, wo Fahrgeld und Reisedokumente verteilt wurden. Um Mitternacht fuhr ein Sonderzug vom Wiener Westbahnhof in die Bundesrepublik Deutschland.

Die Organisatorinnen des Picknicks feierten wie geplant mit Gästen aus Österreich und Ungarn auf dem Festgelände. „Erst am nächsten Tag war uns klar, dass wir Zeugen eines historischen Ereignisses gewesen waren“, so László Nagy, heute im Vorstand der Stiftung „Paneuropäisches Picknick“. Bis heute ärgert ihn, dass die Paneuropa-Bewegung oft als Veranstalterin des Picknicks auftritt. „Das ist Geschichtsfälschung. Für Idee und Ausführung war allein unsere Gruppe zuständig“, so Nagy.

Nach der Massenflucht wurde das Tor in den Westen rasch wieder verriegelt. Am 21. August 1989 wurde ein DDR-Bürger bei einem Handgemenge erschossen. Auch bewaffnete Arbeitermilizen wurden an der Grenze stationiert. Wer den Befehl dazu gab, ist bis heute nicht bekannt. Ebenso unklar ist, wer tausende Flugzettel für das Picknick kopiert und auf Campingplätzen bis zum Plattensee verteilte. Organisator Nagy ließ nur je 1500 Stück auf Ungarisch und Deutsch drucken. War es der Bundesnachrichtendienst BND?

„Schlacht von Kópháza“
Gegen den beim Picknick eingesetzten Grenzoffizier Bella lief ein Disziplinarverfahren, das aber bald eingestellt wurde. Er half noch ein zweites Mal mit, ein Blutbad zu verhindern. In der sogenannten „Schlacht von Kópháza“ hatten Ende August ungarische Grenzer dutzende DDR-Flüchtlinge aus einem Bus umkreist. Plötzlich wurden die Uniformierten von Mitgliedern einer nahen Kolchose mit Schimpfworten und Mistgabeln attackiert. Sie sollten die Leute freilassen. Bella gelang es, die gefährliche Lage zu entschärfen.

Hans-Michael Fritz hatte von der gelungenen Massenflucht im Westfernsehen erfahren und brach mit seiner Gattin wenige Tage später nach Ungarn auf. „Wir hatten Angst, dass uns Honecker trotz gültiger Visa nicht mehr nach Ungarn fahren lässt.“ Bekannte in Budapest berichteten von den neuen Repressalien an der Grenze bei Sopron. Das Ehepaar wich auf eine Fluchtroute über die Grenze im Südburgenland aus. Irrtümlich gerieten sie genau vor eine ungarische Grenzkaserne und lösten dort Alarm aus. Erst nach stundenlangen Irrwegen gelang ihnen die Flucht. Im burgenländischen Dorf Bildein empfing sie eine ältere Frau „mit einem sonderbaren Dialekt. Wir dachten im ersten Schreck, dass wir wieder in Ungarn gelandet sind.“ (Fritz)

In Ost-Berlin tagte ein aufgebrachtes Politbüro in Abwesenheit des erkrankten Erich Honecker und klagte über den „Verrat“ der Ungarn. Wie der Historiker Maximilian Graf in DDR-Akten herausfand, schlug DDR-Außenminister Oskar Fischer dringende Gespräche mit der Regierung in Österreich vor. „Fallen sie schon wieder auf den deutschen Chauvinismus herein?“, fragte Fischer.

Bundeskanzler Franz Vranitzky erinnert sich heute an keinerlei Interventionen aus der DDR. „Wir waren schon über das Picknick informiert, aber den Weitertransport der Flüchtlinge hat die deutsche Botschaft bestens organisiert.“

Die ungarische KP-Führung hatte da schon mit der deutschen Regierung geheime Verhandlungen geführt. Am 11. September 1989 öffnete die ungarische Regierung alle Grenzen und ermöglichte so die Ausreise für alle in Ungarn festsitzenden DDR-Fluchtwilligen. Knapp zwei Monate später fiel die Mauer in Berlin und mit ihr Honeckers KP-Regime. Erich Honecker machte für seine Machtablöse Otto Habsburg verantwortlich. Dieser habe die Massenflucht organisiert, klagte der SED-Chef.

An der Grenze zwischen St. Margarethen und Sopron erinnern heute auf ungarischer Seite ein Denkmal und Gedenktafeln an die Ereignisse. Auf österreichischer Seite ist das einzige Hinweisschild kaum mehr lesbar. Kontakte zu den Ungarn jenseits der Grenze sind eher selten geworden, berichtet Bürgermeister Eduard Scheuhammer. Es gebe Klagen über den starken Verkehr an der Ödenburger Straße. Nach der Grenzöffnung stand dort bis zum Jahr 2009 ein Fahrverbotsschild. Zum 20. Jubiläum des Grenzdurchbruchs schaute auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel vorbei. Da wäre nach dem Wegfall der Grenzbalken ein neues Verbotsschild peinlich gewesen.

Bild: Florian Rainer für profil