Kehraus im Hohen Haus
Das viel beschworene Hohe Haus am Ring ist die Manifestation einer hehren Idee. In ihrer Architektur spiegelt sich keinerlei Bewegung. Sie ruft stattdessen nach Regeln und Gesetzen, im Denken und im Handeln. Sie atmet den Geist der griechischen Akropolis, der Wiege der Demokratie, in der die niederen Leidenschaften gezügelt werden sollten. So sah es jedenfalls der legendäre Wiener Architekt Theophil Hansen: „Weil zu einem Parlamentarismus nur ein Stil, in welchem jede Subjektivität ausgeschlossen scheint, würdig genug ist.“ An der Auffahrtsrampe zum Parlament ließ er deshalb wie zur Mahnung die Standbilder von Pferdebändigern anbringen, ein Symbol für die Eindämmung von Gefühlsüberschwang.
Doch die Österreicher sind bekanntlich ins Theater vernarrt. Und ein Sitzungssaal, der wie ein Amphitheater angelegt ist, eignet sich nun einmal für dramatische Effekte. „Nur in Wien, wo alles Politische zum reinen Theater geworden war, konnte das Theater sich wirklich an die Stelle der Realitäten setzen“, analysierte Hannah Arendt 1951 in ihrer berühmten Totalitarismusstudie. Auch in der Zweiten Republik herrschte an diesem Ort oft genug Hysterie – was man sich kaum noch vorstellen kann, wenn der Plenarsaal und die Gänge verwaist sind, wie am vergangenen Donnerstag, als der Nationalrat das letzte Mal vor der Sommerpause hier zusammentrat. Es war auch in anderer Hinsicht ein letztes Mal, denn das 130 Jahre alte Parlament wird bis 2020 umfassend saniert.
Der Boden aus mattem Velours, die Nussholzlamellen an den Wänden, dazwischen weißer Marmor, Sitze aus braunem Rindsleder, der überdimensionale Bundesadler aus getriebenem Stahl: Das ergab eine elegante und nüchterne Atmosphäre, als der Sitzungssaal in den 1950er-Jahren – nach der Begradigung von Bombenschäden – neu gestaltet und eingeweiht worden war. Heute sind die Sitze schäbig und abgewetzt. Der Velours ist zerschlissen, der Adler rostet, alte Tastentelefone stehen nutzlos herum.
Alle wissen, dass etwas Neues beginnt, doch niemand weiß, wie es wirklich wird. Damit ist nicht nur das Gebäude gemeint, sondern die Politik selbst. Überkommene Machtrituale scheinen an ihr Ende gekommen zu sein. Spontan aufgestellte „Listen“ ersetzen die Mühlen des alten Parteien-Parlamentarismus.
„Es ist gut, Strukturen aufzubrechen, aber ist es eine Weiterentwicklung oder eine Zerstörung? Beides ist möglich“, sagt Maria Fekter. In ihrer letzten Rede im Nationalrat gibt sich die frühere Ministerin kämpferisch und erklärt, warum es eine Frauenquote braucht. Der Videomitschnitt ihres Auftritts wird zum Hit in den sozialen Medien (300.000 Likes).
Sozialdemokratische Gewerkschafter sitzen noch einmal in der Parlaments-Caféteria, die ebenfalls übersiedeln wird. Wohin, wissen die Angestellten nicht. „Wir warten noch auf Instruktionen“, sagt eine Kellnerin.
Melancholie herrscht in den Reihen der ÖVP. Viele wissen nicht, ob sie sich auf der Liste von Sebastian Kurz wiederfinden. Noch nie wurden während einer Plenardebatte so viele Erinnerungsfotos geschossen (heute nennt man sie Selfies).
Jakob Auer, der dienstälteste Abgeordnete, tritt nach 34 Jahren ein letztes Mal ans Rednerpult. Er warnt vor verbrannter Erde. „Denken Sie an den 16. Oktober“ – den Tag nach der Wahl. Auer war 35 Jahre alt, als er für die ÖVP 1983 ins Parlament einzog. Jeweils zwei Telefonapparate standen damals den großen Klubs, ÖVP und SPÖ, zur Verfügung: zwei Leitungen, mit denen man ohne Fräulein von der Vermittlung nach draußen telefonieren konnte. Auer hatte keinen Schreibtisch, keinen Mitarbeiter. Das Gerede von den neuen Bewegungen sei eine Modeerscheinung, meint Auer. Auch Jörg Haiders F-Bewegung sei sang- und klanglos wieder verschwunden.
Josef Cap ist gerührt, als Auer in seiner Abschiedsrede meint, er wünsche sich, dass jemand wie Cap dem Parlament erhalten bleiben sollte. Er sei einer der besten Redner, wenn auch manchmal süffisant, sagt Auer.
Cap kam ebenfalls 1983 ins Parlament, mit einer Vorzugsstimmenkampagne gegen die rot-blaue Koalition. Cap hat im Laufe der Jahre sich selbst und auch andere diszipliniert. Harte Diskussionen im Klub, sich dann aber an Mehrheitsbeschlüsse halten – anders sei eine Partei nicht regierungsfähig, meint Cap. Er sitzt auf einem aussichtslosen Listenplatz und will es trotzdem noch einmal probieren, wieder mit einer Vorzugsstimmenkampagne. Er habe Erfahrung, und er habe eine Geschichte zu erzählen, sagt Cap.
Die letzte Parlamentsdebatte ist von einer gewissen Müdigkeit aller Beteiligten geprägt. Die Stenotypistinnen sind eleganter gekleidet als die meisten Abgeordneten. Auch die Tonanlage scheint den Geist endgültig aufzugeben. Die Stimmen tragen nicht bis zur Journalistengalerie hinauf, hoch und dünn hören sie sich an, ein Hintergrundrauschen. SPÖ-Klubchef Andreas Schieder lobt die Bemühungen der Regierung, ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka, der um seinen Wiedereinzug in den Nationalrat bangen muss, hadert, und von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache sind bekannte Wortfetzen zu vernehmen: „Salafisten. Islamisten. Kammerfunktionäre. Unglaublich.“
Albert Steinhauser von den Grünen versichert: „Das Feuer brennt noch.“ Matthias Strolz sagt: „Geldbörseln würden NEOS wählen.“ Die Reste des Team Stronach beklagen die Gleichgültigkeit der Wähler und beschwören Berge, Seen und Gletscher. Karl Öllinger von den Grünen, der ebenfalls ausscheidet, bedauert den Niedergang der Debattenkultur. Früher hätte man einander zugehört, es sei noch mit feiner rhetorischer Klinge gekämpft worden.
In drei oder vier Jahren wird das Hohe Haus am Ring wiedereröffnet werden. Die Redner werden nicht mehr die Regierungsbank im Rücken haben, sondern rechts und links vom Rednerpult. Die Abgeordneten werden nicht mehr in steil aufsteigenden, sondern in flach verlaufenden Reihen sitzen, weil das angeblich weniger Aggressionen auslöst. Auch vom warmen, gelben Licht aus vergangenen Zeiten muss man sich verabschieden. Stattdessen werden wohl Halogenstrahler die neue Event-, Medien- und „Listen“-Demokratie grell ausleuchten. Die eigentliche Politik aber wird vielleicht nicht mehr im Plenarsaal stattfinden.