Peter Michael Lingens Merkels Sieg als Spaltpilz Europas
Den zahllosen Kommentaren, die den Wahltriumph Angela Merkels als "Sieg der Kontinuität" feiern, ist in Bezug auf Deutschland nichts hinzuzufügen: Es dürfte weitere vier Jahre wirtschaftlich florieren.
Aber Merkel wird nicht nur Deutschland, sie wird auch die EU weitere vier Jahre dominieren. Und darin sehe ich, im Einklang mit nicht wenigen - in Deutschland freilich unterrepräsentierten - Ökonomen ein beträchtliches Risiko: Die kontinuierliche Fortsetzung ihres Sparkurses könnte zuerst Europas Süden implodieren lassen und in der Folge auch Mittel-und Nordeuropa in diese Abwärtsspirale einbeziehen. Ich will versuchen, diese Sorge zu begründen.
Wie Christoph Leitl reagiert Merkel auf die Wirtschaftskrise, als ob sie durch zu hohe Staatsausgaben ("ausufernde Sozialleistungen") beziehungsweise Staatsschulden verursacht worden wäre. In Wirklichkeit sind die hohen Staatsschulden eine Folge der Wirtschaftskrise. Zum wiederholten Mal: Die Staatsausgaben der Eurozone sind von 1995 bis 2007 von 53,2 auf 46,1 Prozent des BIP gefallen. Ab 2000 fast überall auch die Staatsschulden - die niedrigsten wies mit 36 Prozent das vielgescholtene Spanien aus.
Ursache der Krise war in Nord- und Zentraleuropa der massive Ankauf "toxischer" US-Derivate: Während US-Banken nur 30 Prozent dieser Papiere erwarben, erwarben EU-Banken 60 Prozent. Als diese Papiere sich 2007 als wertlos erwiesen, mussten Europas Banken daher in extreme Schwierigkeiten geraten. Daraus mussten Europas Regierungen sie mit gewaltigen Summen retten und gleichzeitig Konjunkturpakete finanzieren, um den Einbruch der Exporte in die USA abzufedern. Die aus diesen Gründen aufgewendeten Milliarden - nicht "ausufernde Sozialausgaben" - haben die Staatsschulden in Nord-und Zentraleuropa 2009 hochschnellen lassen.
In Spanien oder Portugal haben sich die Staatshaushalte primär genauso wenig verschuldet. Es waren Bürger und Unternehmen, die - verführt von niedrigen Eurozinsen - in unverkäufliche Immobilien investierten und ihre fahrlässigen Banken damit ebenfalls reif für die "Rettung" machten.
Zugleich haben verschleppte Strukturprobleme (stagnierende Produktivität bei steigenden Löhnen) und Währungsspekulationen die Zinsen für südliche Staatsanleihen hochschnellen lassen. Erst diese haben selbst die ursprünglich so niedrige Staatsschuld Spaniens 2009 auf 54 Prozent hochgeschraubt. Aber erst nachdem Merkels Sparkurs die Arbeitslosigkeit und mit ihr die Staatsausgaben für Arbeitslosengeld explodieren ließ, liegt sie heute bei 92 Prozent. Bei Griechenland, Italien, Portugal entsprechend höher.
Denn Merkels falsche Diagnose ließ sie die falsche Heilmethode wählen: Einen "Spar-Pakt" für alle Staatshaushalte der EU, obwohl die das Problem in keiner Weise verursacht, sondern durchaus funktioniert hatten. Bestärkt wurde sie darin durch den US-Ökonomen Kenneth Rogoff, der errechnet haben wollte, dass Staatsschulden ab 90 Prozent die Wirtschaft um 0,6 Prozent schrumpfen lassen.
Das ist inzwischen unhaltbar: Ihm wurden schwere Rechenfehler nachgewiesen und er hat Zeiträume und Volkswirtschaften ausgeklammert, die seiner These sinkenden Wachstums durch steigende Verschuldung widersprachen.
Vor allem aber verwechselt Merkel nicht nur in meinen Augen Betriebs-mit Volkswirtschaft: Ein Betrieb - etwa die Wolford-AG - kann durch Kündigungen und Filialschließungen vielleicht wieder schwarze Zahlen schreiben, aber wenn rundum alle Betriebe Personal einsparen, gibt es für Wolford-Wäsche keine Käufer mehr.
Betriebswirtschaft funktioniert punktuell - Volkswirtschaft kreisförmig mit Rückkoppelungen: Lauter sparende Staaten bringen die beste Wirtschaft um.
Merkel übersieht, was ich hier einmal "mathematisch zwingend" nannte: Jeder Verkauf braucht einen Einkauf. Wenn alle EU-Staaten ihre Einkäufe gleichzeitig zurückfahren, müssen die Verkäufe EU-weit massiv zurückgehen. Deutschland leidet darunter am wenigsten, weil es den Verkaufsrückgang seiner Top-Produkte in der EU durch mehr Exporte nach China usw. kompensieren kann. Der "Süden" hat kaum solche Produkte und leidet daher extrem.
Ein Teil der Ökonomen will den Güterkonsum in der EU daher durch Steuersenkungen steigern. Denn den Staatsschulden entsprechen ja zwingend Guthaben anderer Wirtschaftsteilnehmer, die zum Konsumieren veranlasst werden sollen. Doch das funktioniert in Krisenzeiten ungenügend, weil die Menschen dann trotz Steuersenkungen eher zum Sparen neigen.
Daher vertraue ich eher jenen Ökonomen, die dafür plädieren, dass der Staat durch erhöhte Infrastrukturinvestitionen für vermehrte Nachfrage sorgen möge: Angesichts niedriger Zinsen sollte er das billige Geld zu Investitionen in die Zukunft - Bildung, Forschung, Daten-Netze usw. - nutzen. Höhere Staatsinvestitionen sind freilich mit (noch dazu rascher) Reduktion der Staatsschulden unvereinbar - womit wir wieder bei Rogoff und seinem Rechenfehler wären. Eine mitregierende SPD könnte Merkels Sparwut zumindest eindämmen.