Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Sprachhürden als Koalitionshürden

Sprachhürden als Koalitionshürden

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Österreich wie Deutschland haben Wahlsysteme, die absolute Mehrheiten kaum zulassen – also sind beide Länder fast immer zu Regierungskoalitionen gezwungen, in denen die Partner in wichtigen Fragen diametral entgegengesetzter Ansicht sind. Sobald dabei gar „Weltanschauung“ ins Spiel kommt, erschwert sie das politische Leben beträchtlich: In Deutschland zählt das katholisch motivierte Beharren der CSU auf einem „Betreuungsgeld“ für Eltern, die ihre Kinder nicht in Kindergärten geben wollen, zu den größten Hindernissen auf dem Weg zur Koalition mit der SPD, weil die das Geld lieber in den Ausbau von Kindergärten stecken will. In Österreich erschwert die quasireligiöse Überzeugung der SPÖ, dass nur die Gesamtschule Lernerfolg sichert, die Koalition mit der ÖVP beträchtlich, weil man dort schon den hohen Aufwand für die „neue Mittelschule“ für nicht zielführend hält.

Aparterweise hängen die beiden Probleme eng zusammen: Der Widerstand gegen Kindergärten produziert das größte Schulproblem der Gegenwart – die Sprachlosigkeit.

Dazu eine persönliche Erfahrung: Vor 26 Jahren habe ich ein Nachrichtenmagazin für Kinder gegründet – den Sechsjährigen sollten es die Eltern vorlesen, die Acht- bis Zwölfjährigen sollten es selber lesen. Um ihre Lesefähigkeit zu prüfen, ließ ich 1987 zehn Achtjährige die ersten Texte probelesen und beförderte sie erst zum Druck, nachdem ich mich überzeugt hatte, dass sie sie problemlos verstanden. Heute schreibe ich mit dem gleichen Wortschatz, den ich damals verwendet habe, für Zwölf- bis 15-Jährige und bekomme von jedem vierten Lehrer die Rückmeldung, dass ihnen die Texte zu schwierig sind. Dass auch eine Million Erwachsener nicht lesen kann, wundert mich daher kaum.

Derzeit wird die Schule für dieses Desaster verantwortlich gemacht. Zu Unrecht: Das sprachliche Fundament wird im Vorschulalter gelegt. In den ersten Lebensjahren saugt das Gehirn gehörte Worte wie ein Schwamm auf, den die Schule nur mehr anreichern sollte. Doch spätestens seit 1939 haben zunehmend berufstätige Mütter kaum die Zeit (beziehungsweise sind zu erschöpft), um Kindern im Gespräch oder beim Vorlesen einen „Wortschatz“ im besten Sinne dieses Wortes zu vermitteln (und Väter taten das sowieso nur selten). Die Kinder wachsen in Wortarmut auf.

Konservative Parteien in Österreich oder Deutschland sind der Ansicht, man müsse die Frauen deshalb durch „Betreuungsgelder“ oder Steuervorteile wieder ans Kinderbett locken – und erleiden damit seit Jahrzehnten Schiffbruch, weil die Frauen sowohl verdienen wollen als meist auch müssen.

Einzig in Frankreich haben Konservative, Sozialisten, Kommunisten und die katholische Kirche schon vor Jahrzehnten den gangbaren Ausweg gefunden: Man hat Betriebskindergärten gefördert und damit für eine ausreichende Geburtenrate und ein unverändert gutes Sprachniveau gesorgt. Frankreichs Kindergärten heißen „écoles maternelles“, was ihre Gleichstellung mit der Schule ausdrückt: Man lernt dort lesen und schreiben.

In Österreich hat sich die ÖVP die längste Zeit auf den Standpunkt der CSU gestellt. So wie in Deutschland fehlt es daher an Kindergartenplätzen, weil auch sie stets auf ­die finanziellen Vorteile für die Eltern beharrte, statt dem forcierten Ausbau von Kindergärten zuzustimmen.

Und wirklich überzeugt von der Kindergartenpflicht ist selbst heute nur Sebastian Kurz. In einer Gesellschaft, in der die Zuwanderung ein so gewaltiges Zusatzproblem geschaffen hat, bedarf es nämlich nicht nur der Kindergartenmöglichkeit, sondern der Kindergartenpflicht. (Es sei denn, Eltern erbringen den Nachweis, dass ihr Kind tagsüber von einer voll des Deutschen kundigen Person betreut wird.) Nur so kann sichergestellt werden, dass auch Kinder mit Migrationshintergrund mit ausreichenden Deutsch-kenntnissen in die Schule kommen.

In Holland wird die „Kindergartenpflicht“ daher ohne Rücksicht auf politische Korrektheit durchgesetzt: Eltern, die ihr nicht nachkommen, werden mit einer Geldstrafe belegt, die bei Nichtbezahlung in eine Haftstrafe umgewandelt wird. In Deutschland oder Österreich löste das zur grünen Linken wohl einen Aufschrei aus. Im liberalen Holland kümmerte man sich nicht darum und setzte die angedrohten Haftstrafen zwei oder drei Mal in die Tat um. Seither musste man sie nie mehr verhängen, denn das hat sich bis Anatolien durchgesprochen.

Natürlich muss man KindergärtnerInnen, wenn sie de facto LehrerInnen sein sollen, entsprechend ausbilden und bezahlen. Diese höhere Investition in erstklassige ganztägig geöffnete Kindergärten ist mit Sicherheit effizienter als die Investition in „neue Mittelschulen“, die derzeit nicht selten schlechter als gute ländliche Hauptschulen mit ihren unterschiedlichen Klassenzügen funktionieren. Sonst hätte man längst die Ergebnisse der Evaluierung veröffentlicht, statt zu versuchen, sie zu manipulieren, indem man einen „sozialen“ Faktor einführt, der schwache Leistungen besser bewertet, wenn sie in einem angeblich schlechteren sozialen Umfeld erbracht worden sind.

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