Interview

Peter Neumann: "Natürlich gibt es hier Radikalisierungspotenzial"

Extremismusforscher Peter Neumann über die Ideologie hinter den Aktionen der "Letzten Generation" und den Klima-Protesten

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Extremismusforscher Peter Neumann ist Professor am Londoner King’s College und aus der Islamismusforschung bekannt. In seinem Buch „Die neue Weltunordnung“ behandelt er auch die Klimabewegung.

Orten Sie hinter den Aktionen der „Letzten Generation“ eine Ideologie?
Neumann
Das ist natürlich eine Ideologie. Eine Ideologie wird immer von drei Aspekten getragen. Man definiert ein Problem und stellt es über alle anderen Probleme. Man identifiziert Schuldige für das Problem. Und man gibt eine klare Definition vor, was gegen das Problem zu tun ist. Im Fall der „Letzten Generation“ ist das Problem der Klimawandel, der Schuldige ist die kapitalistische Marktwirtschaft, die Lösung sind direkte, auch illegale Aktionen.
Wie radikal ist die Szene?
Neumann
Natürlich gibt es hier Radikalisierungspotenzial. Die „Letzte Generation“ – hier in London nennt sich die verwandte Gruppe „Just Stop Oil“ – tut genau das, was andere radikale Bewegungen auch tun. Sie postuliert eine existenzielle Krise und vertritt den Standpunkt: Wenn nicht sofort etwas geschieht, dann verbrennt ihr alle. Die Zeit läuft uns davon. Alle werden sterben. Die Ärmsten zuerst. Dann auch wir im reicheren Westen. Wenn man dieser Auffassung ist, dann sind natürlich praktisch alle Mittel legitim, um die Krise abzuwenden. Denn was ist schlimmer, als wenn die ganze Welt verbrennt?
Damit wird aus illegal dann legitim?
Neumann
Genau. Sich über Gesetze hinwegzusetzen, ist in den Augen der Aktivisten zwar nicht legal, aber legitim, weil die existenzielle Krise, die damit bekämpft wird, so groß ist. Diese Unterscheidung ist entscheidend. Irgendwann wird es dann vielleicht einigen aus diesem apokalyptischen Weltbild heraus nicht mehr genügen, sich „nur“ auf die Straße zu kleben oder Tomatensuppe auf Gemälde zu kippen. Die „Letzte Generation“ ist ja bereits eine radikalere Abspaltung von Extinction Rebellion, die wiederum eine radikale Abspaltung der Fridays For Future ist.

Alle werden sterben. Wenn man das glaubt, sind natürlich alle Mittel legitim, um die Krise abzuwenden.

Peter Neumann

Kann der radikale Klimaaktivismus in Gewalt umschlagen?
Neumann
Bisher war Gewalt nicht im Spiel. Das muss betont werden. Aber es ist nicht auszuschließen, dass sich eine kleine Gruppe immer mehr radikalisiert und am Ende auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Die Studentenbewegung in den 1970er-Jahren war zu 99 Prozent friedlich. Dennoch ging aus ihr die Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) hervor, die Menschen entführte und ermordete. Man kann sich vorstellen, dass es solche gewaltbereiten Abspaltungen auch bei der Klimabewegung geben kann.
Warum lassen sich hier Parallelen ziehen?
Neumann
Abgesehen vom selben Feindbild, der westlichen Marktwirtschaft, gibt es innerhalb von Bewegungen immer intensivere Debatten über den richtigen Weg. Ist es nach den Klebeaktionen im Museum und auf der Straße auch legitim, Pipelines zu sprengen, wenn keine Menschen zu Schaden kommen? Die einen meinen ja, die anderen nein. Wenn der postulierte Klimakollaps gefühlt näher und näher rückt, sagen dann Einzelne: Seht her, die Gewaltfreiheit hat uns nirgendwohin geführt. Dann werden die meisten schockiert abwinken. Aber nicht unbedingt alle.
Was unterscheidet die Ideologie der Klimaaktivisten von anderen Ideologien?
Neumann
Rechtsextreme warnen vor dem großen Bevölkerungsaustausch, Dschihadisten kämpfen für eine utopische Interpretation von Religion. Die Klimaaktivisten berufen sich nicht auf heilige Schriften oder Rassentheorien, sondern auf Wissenschaft. Das macht sie vielleicht gerade für Studenten so anziehend. Nichtsdestotrotz ist die Bewegung extrem, weil sie ihr Anliegen über das Recht und demokratische Prozesse stellt.
Warum haben Sie begonnen, sich neben Islamisten auch mit Klimaaktivisten zu beschäftigen?
Neumann
Großbritannien ist ein Trendsetter des Klimaaktivismus. Hier entstand vor drei Jahren Extinction Rebellion. Ihre Aktionen finden direkt vor meiner Haustür statt. Was ich da seit Jahren sehe, ist ein klassischer Radikalisierungsprozess von einer sozialen Bewegung ausgehend hin zu immer dramatischeren Aktionsformen, die im äußersten Fall auch gewaltsam werden kann – was aber bisher nicht der Fall war.
Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.