Peter Seisenbacher vor Gericht: "Ich glaube, ich war ein cooler Trainer"
Im August 1984 jubelte das ganze Land. Der damals 24-jährige Peter Seisenbacher ging bei den Olympischen Spielen in Los Angeles mit Außenseiterchancen ins Turnier. Dann deklassierte der Wiener Judoka Gegner um Gegner, brachte am Ende den Amerikaner Robert Berland in zweieinhalb Minuten zu Boden und holte Olympia-Gold. In der Eagles Nest Arena wurde Seisenbacher schlagartig zum Star – als vierter Goldmedaillengewinner der österreichischen Nachkriegszeit. Vier Jahre später war er der erste Judoka der Geschichte, der den Titel verteidigen konnte.
Als Justizwachebeamte den mittlerweile 59-Jährigen vergangenen Montag in den Großen Schwurgerichtssaal in Wien führen, ist vom früheren Ruhm nichts mehr übrig: Der Ex-Sportler muss sich wegen des Verdachts schwerer Sexualdelikte verantworten. Trotzdem erhebt sich im Publikum ein älterer Herr und beginnt zu klatschen. Peter Seisenbacher, der in braunem Anzug und weißem Rollkragenpullover vor Gericht erschienen ist, wirkt von der bizarren Szene überrumpelt. Beim Gang zum Anklagestuhl runzelt der bullige Beschuldigte zunächst die Stirn, dreht sich dann zur Zuschauerbank, lächelt und hebt den Daumen. Schließlich nimmt er vor Richter Georg Bauer und dessen Schöffensenat Platz. Staatsanwältin Ursula Schrall-Kropiunig wirft Seisenbacher schweren sexuellen Missbrauch Minderjähriger in zwei Fällen vor, außerdem Missbrauch seines Autoritätsverhältnisses in einem weiteren Fall. Drei mittlerweile erwachsene Personen beschuldigen den ehemaligen Judotrainer, sie als Minderjährige bedrängt und mit ihnen geschlechtliche Handlungen durchgeführt zu haben. Eine betroffene Person sei zu Beginn der Übergriffe erst elf Jahre alt gewesen. „Ein Fall mit einigen Außergewöhnlichkeiten“, so die Staatsanwältin.
Der tiefe Fall des Peter Seisenbacher begann im Juni 2014. Damals meldete das Sportportal „laola1“, dass gegen den einstigen Olympiasieger wegen sexuellen Missbrauchs ermittelt werde. Zuvor waren im Umfeld des Ex-Sportlers bereits einschlägige Gerüchte kursiert. Ausgerechnet auf der Hochzeit seiner Tochter soll Seisenbacher zum ersten Mal von drohenden Anzeigen erfahren haben.
Flucht als "Kurzschlussreaktion"
Im November 2016 erhob die Staatsanwaltschaft Wien schließlich Anklage. Doch der Prozess, der für 19. Dezember 2016 anberaumt war, platzte. „Mir scheint, es fehlt einer“, bemerkte Richter Bauer. Peter Seisenbacher war abgetaucht. Seit 2010 war Seisenbacher vornehmlich im Ausland tätig gewesen, trainierte die Judo-Nationalmannschaften von Georgien und Aserbaidschan. Im Kaukasus verlief sich seine Spur. Durch einen internationalen Haftbefehl konnte er im August 2017 in Kiew aufgespürt und verhaftet werden. Doch die Ukraine verweigerte eine Auslieferung nach Österreich. Begründung: Die Vorwürfe seien nach dort geltendem Recht verjährt. Seisenbacher kam nach wenigen Wochen wieder frei. Probleme mit den Behörden hatte er aber aufgrund seines illegalen Aufenthalts, wogegen der Ex-Sportler mithilfe von Asylanträgen vorzugehen versuchte. Im September 2019 wurde Seisenbacher schließlich nach Wien überstellt; er war an der polnisch-ukrainischen Grenze mit falschen Papieren aufgegriffen worden. Die Flucht sei eine „Kurzschlussreaktion“ gewesen, wird es dann vor Gericht heißen.
Vor dem Wiener Schöffensenat rollt Staatsanwältin Schrall-Kropiunig die Vorwürfe im Detail aus. „Der Angeklagte war für seine Opfer eine Autorität, ein Idol, eine Art Vaterersatz. Sie haben ihn sicher verehrt.“ Seine engsten Schützlinge durften mit ihm gemeinsam im Auto fahren, auf seinem Schoß sitzen. Mit der Hauptgeschädigten sei es ab dem Alter von elf Jahren zu sexuellen Handlungen gekommen, die sich zwischen 1999 und 2004 30 bis 40 Mal wiederholt hätten. Das Opfer nahm vor Jahren eine Personenstandsänderung vor und lebt heute als Mann. „Mit den Geschehnissen hat das nichts zu tun“, betont die Opfervertreterin Eva Plaz. Ein zweites Mädchen soll bei den Übergriffen 13 Jahre alt gewesen sein. Die dritte Betroffene sei von Seisenbacher als 16-Jährige bedrängt worden, habe den Übergriffe jedoch abgewehrt.
„Die irren sich“, antwortet Seisenbacher dem Richter knapp und weist jede Schuld von sich. „Sie meinen, das ist eine Verschwörung?“, fragt der Vorsitzende. „Davon bin ich überzeugt“, entgegnet Seisenbacher. Dass man in Schlafsälen und auf Matten, wo die Übergriffe begonnen haben sollen, gemeinsam übernachtete, sei im Judosport „völlig normal“. Was die Vorwürfe der mutmaßlichen Opfer betrifft, so habe es „nicht einmal ein Küsschen“ gegeben. Eine einvernehmliche Beziehung zu einem 16-jährigen Mädchen (im Prozess nicht vertreten) räumt der Angeklagte dann doch ein: „Ich habe mich jung gefühlt.“
"Kein Vaterersatz"
Die mutmaßlichen Geschädigten werden später unter Ausschluss der Öffentlichkeit aussagen. Auch die Mutter eines der Opfer wird nicht öffentlich vernommen, nachdem Seisenbacher Anspielungen über ein früheres Verhältnis mit ihr gemacht hat. Ob er als Vaterersatz fungiert habe, will Richter Bauer am Ende der Befragung wissen. „Ich glaube, ich war ein cooler Trainer, aber kein Vaterersatz“, entgegnet der Angeklagte.
In der heimischen Sportwelt hatte der Olympasieger stets polarisiert, war für mitunter arrogantes Auftreten und Kompromisslosigkeit berüchtigt. Vor dem Triumph in Los Angeles war er eigens nach Japan gereist, um sich mit der dortigen Lehre vertraut zu machen. Zuvor war der gelernte Goldschmied vom britischen Judoka George Kerr unterrichtet worden. Nach Ende seiner aktiven Laufbahn wurde Seisenbacher Chef der Österreichischen Sporthilfe. Für Aufsehen sorgte ein Wettkampf 1991 in Leonding. Als einer seiner Schützlinge im Ring unterlag, versetzte der Trainer ihm eine Ohrfeige. Der junge Mann erlitt einen Trommelfellriss; Seisenbacher musste eine Geldstrafe zahlen.
In den 1990er-Jahren lieferte er sich oft öffentliche Scharmützel mit Teilen des Judoverbands, sprach etwa von „DDR- Trainingsmethoden“ in Österreich. Ab 1996 funktionierte er im burgenländischen Güssing einen alten Bauernhof zum Trainingslager für Jugendliche um. Personen, die sich gelegentlich dort aufhielten, sprechen von einer „familiären Atmosphäre“. Auf dem Hof sowie in einem Judoclub in der Wiener Blattgasse soll es zu den inkriminierten Übergriffen gekommen sein.
Trotz seiner polarisierenden Tendenzen genoss Seisenbacher stets auch großen Rückhalt – bis heute. Sein Anwalt Bernhard Lehofer ist ein langjähriger Freund und selbst Judoka. „Er hat gegen die stärksten Männer der Welt gekämpft, er hatte viele Frauen. Das, was ihm vorgeworfen wird, hat er überhaupt nicht nötig. Das passt überhaupt nicht ins Schema“, so der Verteidiger vor Gericht. Der Zeuge H., der Seisenbacher seit 40 Jahren kennt, erweist sich ebenfalls als wahrer Freund. Vor Gericht revidiert er Angaben, die er gegenüber der Polizei machte.
Finanzielle Unterstützung durch Spenden
Eine Reihe von Fragen wirft auch Seisenbachers Aufenthalt in der Ukraine auf. Mehrmals, so bestätigen verschiedene Personen gegenüber profil, seien Freunde und Funktionäre, etwa der langjährige Nationalteamtrainer Norbert Herrmann, in die Ukraine gefahren, um den Ex-Sportler zu besuchen. Zur finanziellen Unterstützung des Flüchtigen seien Spenden Dutzender Personen gesammelt worden. Einer, der laut eigenen Aussagen selbst spendete, ist Bondi Setzger – der Mann, der Seisenbacher vor Gericht applaudierte. „Ich wollte ein Zeichen setzen“, meint der mehrmalige Seniorenweltmeister gegenüber profil.
Pikant ist auch die Affäre um den gefälschten österreichischen Pass, den Seisenbacher bei seinem versuchten Grenzübertritt in Polen mit sich trug. Laut APA-Recherchen soll er aus dem Kreis heimischer Judo-Sportler stammen. Die Staatsanwaltschaft Wien ermittelt deshalb wegen Fluchthilfe.
Für den Missbrauchsprozess sind diese Umstände jedoch nebensächlich. Wegweisende Bedeutung hat die Causa Seisenbacher vor allem im Hinblick auf den Umgang mit sexueller Gewalt im Sport. Die forensische Psychologin und Judoka Chris Karl arbeitet gemeinsam mit Nicola Werdenigg, die 2017 Missbrauch im österreichischen Skiverband aufdeckte, an strukturellen Verbesserungen im heimischen Sport. Karl war eng mit Seisenbacher befreundet. „Ich hätte mir bei ihm so etwas niemals vorstellen können“, sagt sie gegenüber profil. Bei anderen habe es immer wieder Gerüchte von Übergriffen gegeben, nicht aber bei Seisenbacher. „Es ist halt schon so, dass Täter in der Regel sehr manipulativ sind und alles daransetzen, dass das Umfeld nichts mitbekommt.“ Am Ende müsse das Gericht entscheiden, dringend notwendig seien Präventivmaßnahmen aber in jedem Fall. „Wenn es zu Missbrauch kommt, dann meist aus einem Graubereich heraus – gemeinsames Schlafen, Einzeltrainings, Einladungen in die Wohnung. Das sind Situationen, die Raum für Übergriffe zulassen. Wenn es damals schon Präventivregeln gegeben hätte, würden wir heute nicht hier sitzen und diesen Fall diskutieren.“
Das Urteil im Prozess gegen Seisenbacher soll am Montag dieser Woche gesprochen werden.