Interview

24-Stunden-Betreuung: "Pflege-Katastrophe kommt vor Klimakatastrophe”

Helmut Lutz vermittelt hauptberuflich Pflegekräfte an Familien. Im Interview erklärt er, warum die Regierung zu wenig tut, wie viel Geld den Betreuerinnen übrig bleibt und wie akut der Personalmangel bereits ist.

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Die Förderung für die 24-Stunden-Betreuung von Pflegebedürftigen daheim wird angehoben. Ab Herbst soll es um 160 Euro mehr geben – statt 640 Euro also 800 Euro. Aber kommt das Geld auch bei den Pflegerinnen an? Wir haben mit Helmut Lutz, Geschäftsführer der Hilfsorganisation Malteser Care, über die Herausforderungen gesprochen.

Die Regierung hat diese Woche ein Pflegepaket beschlossen, darunter eine Erhöhung der Förderung der 24-Stunden-Betreuung auf 800 Euro. Sind Sie zufrieden?
Helmut Lutz
Nein, die Förderung von 800 Euro ist absolut unzureichend. Es wurde lediglich ein Wertverlust abgeglichen, der seit 15 Jahren nicht mehr angepasst wurde. Menschen, die ein Einkommen über 3500 Euro haben, sind nicht förderungswürdig. Dabei kostet die 24-Stunden-Betreuung pro Monat um die 3000 Euro. Das können sich immer weniger Menschen leisten.
Welche Maßnahmen hätte es im Zuge der aktuellen Reform gebraucht?
Lutz
Man hätte die Honorare erhöhen und einen Mindestlohn pro Tag einführen müssen. Dann würde auch die Förderung genau dort landen, wo sie landen sollte, nämlich bei den Menschen, die den Job machen.
Herrscht auch in der 24-Stunden-Betreuung ein Personalmangel?
Lutz
Ja, Betreuungspersonen kommen zunehmend nicht mehr nach Österreich, weil sie in ihrem Umfeld und bis nach Skandinavien bessere Bedingungen vorfinden. Und das bezieht sich fast ausschließlich auf die Geldsituation. Dazu kommt das Schengen-Veto gegen Rumänien, das atmosphärisch nicht gut getan hat und die Indexierung der Familienbeihilfe. 
Ist Österreich nicht mehr attraktiv genug?
Lutz
Wir hatten lange einen geografischen Vorteil. Österreich liegt extrem nahe an den Herkunftsländern der meisten Pflegerinnen. Mittlerweile wird ein Umweg in Kauf genommen. 
Wohin führt das?
Lutz
Wenn sich nur ein Bruchteil der österreichischen Bevölkerung eine Pflegerin leisten kann, wird die 24-Stunden-Betreuung immer mehr zu einem elitären Thema. Man darf nicht vergessen: Den Familienverbund, wo sich mehrere Menschen die Pflege aufteilen, gibt es immer weniger. 
Wieviel verdient eine 24-Stunden-Betreuerin eigentlich?
Lutz
Im Durchschnitt zwischen 85 Euro und 140 Euro pro Tag – je nach Kompetenz und Betreuungsbedarf. Davon hat sie Sozialversicherungsabgaben und Transportkosten, die im Regelfall übernommen werden.
Wie viel davon geht an die Organisation für die Vermittlung?
Lutz
Für die zertifizierten Organisationen gibt es eine klare Limitierung von zehn Prozent. Da bin ich dafür, dass sie massiv reduziert wird.
Wie ist die 24-Stunden-Betreuung in Österreich organisiert?
Lutz
Es gibt 900 Organisationen für Personenbetreuung. Von diesen sind nur 40 qualitätszertifiziert. Das ist nicht der richtige Zugang. Wir sind in einem Bereich tätig, wo es um Leib und Leben von Menschen geht, es braucht mehr Reglementierung. Diese Regierung hatte das Ziel, Zertifizierungen für Vermittlungsorganisationen verpflichtend zu machen. Das ist nicht passiert.
Warum ist das ein Problem?
Lutz
Pflegerinnen wissen oft nicht, worauf sie sich einlassen. Noch bevor die Betreuung startet, muss gemeinsam mit der pflegebedürftigen Person geklärt werden, welche Art von Betreuung sie braucht. Dann erst werden das Honorar verhandelt und der Vertrag geschlossen. Stattdessen vermitteln nicht-zertifizierte Organisationen Personal an Personen, mit denen sie nie Kontakt gehabt haben. Das ist noch grimmiger als bei Personalleasingfirmen.
Legal wurde die 24-Stunden-Pflege erst im Jahr 2017 …
Lutz
… damals wurden auch die 550 Euro Förderung geboren, die dann auf 640 und jetzt auf 800 Euro angehoben wurde. Das war eigentlich nur der Ausgleich der Teuerung, von der Illegalität in die Legalität und hat zumindest die Sozialversicherung abgedeckt.

 

Wird sich durch die aktuellen Maßnahmen speziell für die Pflegerinnen etwas verbessern?
Lutz
Ich glaube, dass die 800 Euro ein Anreiz sind, dass sich manche Familien ein fairerers Honorar für die Pflegerinnen leisten können.
Pflegerinnen sind aber auf den guten Willen der Klienten und der Vermittlungsstelle angewiesen.
Lutz
Absolut. Der Mangel ist, dass man keine Verknüpfung geschaffen hat zwischen Förderung und Honoraren. Durch die Qualitätssicherung in der häuslichen Pflege ließe sich das auch relativ einfach kontrollieren. Dazu muss man sagen, dass ein Drittel der Pflegerinnen nicht über Organisationen oder Agenturen tätig sind und sich selbst ihre Familien suchen, sei es über Facebook-Gruppen oder Netzwerke.  

"Wir hatten lange einen geografischen Vorteil. Mittlerweile wird ein Umweg in Kauf genommen."

Helmut Lutz, Geschäftsführer der Hilfsorganisation Malteser Care

In Österreich werden rund 30.000 Menschen rund um die Uhr zu Hause gepflegt. Dafür braucht es doppelt so viele Betreuerinnen, die sich dann alle zwei bis vier Wochen abwechseln. Wie kann man hier ein stabiles Setting garantieren?
Lutz
Da greifen einige Faktoren ineinander. Sind die Pflegerinnen mit den Bedingungen der Klienten vertraut? Gibt es Nachbarn und Angehörige, die mit der Situation vertraut sind – oder einen Helferinnenkreis, die im Haushalt helfen? Je vertrauter das Umfeld ist, desto stabiler ist das Betreuungssetting. Wir können sagen, dass wir 80 bis 90% stabile Betreuungssituationen haben.
Und was passiert mit den anderen?
Lutz
Wir haben wahrscheinlich zehn Prozent Betreuungssituationen, bei denen es häufiger zum Wechsel kommt. Wenn die Wechsel für uns nachvollziehbar sind, weil da schon mehrere aufgegeben haben, dann können wir dieses Betreuungsverhältnis auch innerhalb einer Kündigungsfrist auflösen und eine andere Organisation zur Betreuung finden. 

 

Seit 20 Jahren wird vor dieser Entwicklung gewarnt. Die Pflegekatastrophe trifft genau diejenigen, die keine Entscheidungen getroffen haben. Jetzt stellt sich nur die Frage, ob es eine harte oder etwas weichere Landung wird.

Warum wird das Thema Pflege von der Politik immer noch so stiefmütterlich behandelt?
Lutz
Es ist nicht attraktiv, in diesem Bereich Budgetmittel zu verwenden. Viel wird noch immer von Angehörigen erledigt. Das sind rund eine Million Menschen – meistens Frauen.
Österreich droht ein Pflege-Notstand. Bis 2030 werden bis zu 100.000 neue Pflegekräfte gebraucht. Wie kann man hier entgegensteuern?
Lutz
Die Baby-Boomer verlassen uns und gehen in Pension. Seit 20 Jahren wird vor dieser Entwicklung gewarnt. Die Pflegekatastrophe trifft genau diejenigen, die keine Entscheidungen getroffen haben. Jetzt stellt sich nur die Frage, ob es eine harte oder etwas weichere Landung wird. Die aktuellen Maßnahmen der Regierung zeigen zumindest, dass das Problem erkannt wurde, dass die Katastrophe eintritt und wir sie nicht aussitzen können. Das ist wie bei der Klimakatastrophe – nur dass die Pflegekatastrophe noch rascher kommt. 
Elena Crisan

Elena Crisan

war bis Oktober 2024 Journalistin im Online-Ressort.

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Von 2009 bis 2024 Redakteur bei profil.