Plötzlich Lehrer: Quereinsteiger zwischen „Traumberuf“ und „Nie mehr Schule!“
Von Clemens Neuhold
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Im Zuge der aktuellen Coverstory hat profil mit etlichen Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern geredet, die der Einladung des Unterrichtsministers gefolgt sind, Lehrer zu werden. Bisher haben 900 Menschen den Sprung ins kalte Wasser gewagt. Zehn von ihnen berichten hier, warum sie im Klassenzimmer angekommen sind oder von dort wieder flohen.
Sigrid B. (56), Neue Mittelschule in Wien-Floridsdorf
„Vor meinem Start als Lehrerin war ich unter anderem als Coach in überbetrieblichen Lehrwerkstätten tätig. Bei der Arbeit mit Jugendlichen, die keine reguläre Lehrstelle fanden, fragte ich mich: Was haben sie in der Mittelschule gelernt, oder besser gesagt nicht gelernt? Durch meinen Quereinstieg ins Wiener Bildungssystem erhielt ich die Antwort: In manchen Schulen ist es einfach unmöglich, zu unterrichten. Dabei hatte ich Jahrzehnte Erfahrung in der Erwachsenenbildung mitgebracht, als ich 2022 Lehrerin wurde. Meine erste Station entsprach noch meinen Vorstellungen: eine ‚Neu in Wien‘-Klasse für junge Flüchtlinge aus der Ukraine. Der Großteil lernte rasch ausreichend Deutsch, bei vielen Schülern diente Englisch als Brücke. 2023 wurden die Ukraine-Klassen aufgelassen, ich wechselte an eine Neue Mittelschule in Wien-Floridsdorf. Und dann war alles anders.
Dort übernahm ich die Deutschförderklasse mit zuerst zwölf, dann 15 Kindern aus Ländern wie Somalia, Syrien, Afghanistan, Pakistan oder Indien. So weit so spannend, solange man nicht allein vor ihnen steht. Es fehlte am Notwendigsten wie einem Somali-Wörterbuch. Doch auch Wörterbücher helfen wenig, wenn Schüler in ihrer alten Heimat nicht gelernt haben, sie zu verwenden. Man müsste eine Krake mit vielen Armen sein, um alle individuell beim Wörtersuchen zu unterstützen. Und mit Bildkarten war spätestens bei der Satzbildung Schluss. Ich telefonierte herum, auf der Suche nach Unterstützung: Antwort, drei Stunden Muttersprach-Unterricht in der Woche. Das ist wie nichts. Ich stellte Lesepaten auf. Doch in Eigeninitiative lassen sich die Betreuungslücken nicht füllen.
Ich war knapp vor dem Burn-out
Es bräuchte 20 Stunden Support. Auch durch Sozialpädagogen. Denn manche Kinder waren traumatisiert, mussten ständig aufs Klo, störten pausenlos aus oder beruhigten sich durch Singen mitten im Unterricht. Als systemischer Coach mit Trauma-Ausbildung erkannte ich die Symptome. 70 Prozent meiner Kollegen waren junge Lehramts-Studenten. Es ist unverantwortlich, sie mit derart bedürftigen Kindern und Jugendlichen allein zu lassen.
Von der Direktorin fühlte ich mich wie eine lästige Besserwisserin behandelt. Schulleiter sollten aber geschult sein, wie sie mit erwachsenen Quereinsteigern umgehen, um sie zu halten. Wir sind keine 22-jährigen Studenten. Wir brauchen Wertschätzung für unsere mitgebrachte Expertise, Unterstützung und Ruhepausen statt Gangaufsicht. Nach vier Monaten reichte es mir. Ich stand knapp vor dem Burn-out. Unter diesen Bedingungen nie mehr Mittelschule in Wien.“
Sabine Größwang (46)*, Fachschule, Wien
„Ich komme aus der Erwachsenenbildung und fühlte mich dazu berufen, Lehrerin zu werden. Der Quereinstieg über ‚Klasse Job‘ verlief reibungslos. Doch ab dem ersten Tag in der Schule fühlte ich mich allein gelassen und überfordert. Wie gehe ich mit den vielen Datenbanken um? Wo sind die Zugangscodes? Wie läuft die Notenvergabe ab? Starthilfe, Fehlanzeige. Mein Mentor meinte nur, es sei normal, am Anfang überfordert zu sein oder gar zu weinen. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Die Kolleginnen und Kollegen sind ja selbst überfordert und abgebrüht.
Keine Zeit mehr für eigene Kinder
Trotz meiner halben Lehrverpflichtung über zwölf Stunden arbeitete ich in manchen Wochen bis zu 50 Stunden. Der Aufwand spiegelte das Gehalt in keiner Weise wider. Neben Vorbereitungen, Korrekturen, Konferenzen, Vorträgen, Elternsprechtagen waren wir auch noch angehalten, an unzähligen Projekten wie dem Tag der offenen Tür oder einer Podcast-Serie mitzuwirken. Und das neben dem Pädagogik-Studium, das Quereinsteiger parallel zur Schule nachholen müssen. Ich schmiss hin. Ich konnte meinem eigenen Kind nicht einmal mehr bei Schularbeiten helfen. Mein Mann arbeitet Vollzeit. Er übernahm alles, stellte mir aber bald ein Ultimatum.
Mein Fazit: Es braucht mehr Aufklärung, was Quereinsteiger leisten müssen und was nicht, mehr Rücksicht auf ältere Quereinsteiger mit Kindern und eine Stelle in der Bildungsdirektion, an die man sich wenden kann, ohne Konsequenzen zu befürchten.“
Eva G. (34), Mittelschule, Mühlviertel
„Ich war Projektmanagerin, wollte aber immer schon Lehrerin werden. Doch ein Lehramtsstudium hätte ich neben meinem Vollzeitjob nicht geschafft. Deswegen kam mir der Quereinstieg über ‚Klasse Job‘ gerade recht. Und seither gefällt mir die Arbeit als Englisch- und Geografie-Lehrerin an dieser Landschule ohne Wenn und Aber. Ich kann ohne viel Störung unterrichten. Und wenn es doch mal laut ist, reicht meist ein ernstes Gespräch auf Augenhöhe. Vom Team wurde ich super aufgenommen.
Ich bin voll motiviert
Ich habe eine kleine Tochter. Das ist zeitlich schon sehr herausfordernd. Ich bin aber dennoch voll motiviert, den fehlenden Hochschullehrgang neben meiner 16-stündigen Lehrverpflichtung in zwei Jahren zu schaffen.“
Chris G. (38), Mittelschule, Wien-Favoriten
„Ich empfinde meine Arbeit als Lehrer als Bereicherung in meinem Leben. Weil ich das Gefühl habe, daran persönlich zu wachsen. Es ist eine tägliche Beziehungsarbeit, und das finde ich sehr reizvoll. Als studierter Physiker und Ingenieur fehlte mir diese soziale Komponente. Jetzt taugt es mir, auch mein praktisches Wissen mit den Schülern zu teilen.
Für jemanden wie mich, gänzlich unerfahren und ohne notwendiges pädagogisches Fachwissen, kann jedoch die Arbeit mit Schülern, die nicht lernen wollen oder gar verhaltensauffällig sind, schnell sehr frustrierend sein. Erst mit der Zeit lerne ich Grenzen und vor allem Konsequenzen richtig zu setzen.
Es ist tägliche Beziehungsarbeit
Trotzdem versuche ich, mich nicht unterkriegen zu lassen. Selbst schwierige Schüler kann man durch Erfolgserlebnisse stärken. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich mir wünschen, besser auf den Quereinstieg und die damit verbundenen Herausforderungen vorbereitet gewesen zu sein.“
Isabella S. (52), Wien, Neue Mittelschule
„Bildung ist mein Herzensthema. Ich hatte vor dem Quereinstieg Jugendliche gecoacht, mit Menschen mit Behinderungen gearbeitet, an der Uni Seminare gehalten. Doch nichts war so chaotisch und unorganisiert wie die Neue Mittelschule in einem Wiener Randbezirk, an der ich durch meinen Quereinstieg landete. Ab Stunde 1 allein in der Klasse – mit bis zu 25 Jugendlichen, die keinen Bock haben. Man schluckt und versucht, die Stunden runterzubiegen. Ein Teil der Schüler konnte kein Deutsch oder hatte speziellen Förderbedarf. Ein anderer Teil war aus den vorigen Schulen geflogen und auf Krawall gebürstet.
Auf Krawall gebürstet
Und die Motivierten, die gab es auch, gingen im konstanten Lärmpegel unter. Zerstörte Klos, ein Fausthieb im Turnunterricht zwischen zwei Schülern, eine verletzte Kollegin. Und das innerhalb von drei Wochen. Ich war völlig überfordert, schlief nicht mehr und fühlte mich wie ein Zombie. Ich schmiss – nicht als einzige an dieser Schule – noch im Herbst hin und wechselte nach Niederösterreich in eine Dorfschule. Eine andere Welt. Dort muss ich nicht überlegen, ob Schüler ein Messer in der Tasche haben. Jetzt macht das Unterrichten Spaß.
Die Herausforderung lag woanders – bei den Kolleginnen und Kollegen. Sie haben weniger Erfahrungen mit Quereinsteigern als in Wien und sind reservierter, nach dem Motto: ‚Sie soll mal zeigen, was sie kann ohne unsere Ausbildung.‘ Du selbst denkst dir dann: Seid froh, dass ich da bin. Doch wir haben uns zusammengerauft. Ich bin zufrieden!“
Wolfgang A.* (50), Realgymnasium, Wien
„Nach 20 Jahren im Controlling war es Zeit für einen beruflichen Wechsel. Und ich bereue den Umstieg in ein Wiener Gymnasium keine Sekunde. Von der Herkunft sind meine Schüler bunt gemischt. Das ist super spannend, auch wenn ich mir als Landei aus dem Waldviertel mit manchen Namen schwertue.
Noch keine Sekunde bereut
Am Anfang brauchst du für die ganzen administrativen Dinge länger. Es fühlt sich derzeit an, als würde ich rund um die Uhr für die Schule arbeiten. Aber das bin ich gewohnt von früher, und mit der Routine wird sich das einspielen.“
Susanne S., (41), Mittelschule, Großraum Linz
„Ich war unterfordert, und der Wunsch nach einer erfüllten Tätigkeit, die ich im Marketing nicht mehr sah, wurde größer. Jetzt unterrichte ich großteils Deutsch und bin in der Sprachförderung tätig. Als ich zum ersten Mal in der Klasse stand, fühlte ich mich wie ins kalte Wasser gestoßen. Ich hatte ja keine Möglichkeit, mich vorzubereiten. Ich musste lernen, mit Schülern umzugehen, die stören oder dich nur mit einem faden Aug’ anschauen. Die Bandbreite ist extrem: von AHS-Niveau bis zum geflüchteten Kind, das kaum Deutsch spricht.
Wir stärken uns gegenseitig
Eine vierte Klasse beschäftigt mich besonders. Vielleicht haben sie während Corona jegliche Motivation verloren, ich weiß es nicht. Sie haben null Plan für die Zukunft oder setzen sich völlig illusorische Ziele. Was hilft, ist die Zweitlehrerin in den Hauptgegenständen und Lehrer für sonderpädagogische Fälle. Wir stärken uns gegenseitig. Die meisten Kinder in den anderen Klassen sind halbwegs motiviert, und es beflügelt mich, wenn ich sie mit meinem Unterricht fesseln kann. Ich bleibe.“
Roman Sandner (42), Gymnasium, Innsbruck
„In der Klasse zu stehen und Kinder beziehungsweise Jugendliche zu unterrichten, scheint mir (meistens zumindest) viel sinnvoller als alle anderen Tätigkeiten, die ich jemals ausgeübt habe. Deshalb bleibe ich Lehrer, auch wenn die Nebengeräusche, die der Job mit sich bringt, oft schwer zu verdauen sind. Das erste Jahr war äußerst intensiv. Der Aufwand, den ich in die Vorbereitung des Unterrichts stecken musste, war enorm. Die Unerfahrenheit und die volle Lehrverpflichtung machten diesen Umstand nicht besser. Eine offizielle Betreuung gab oder gibt es in meinem Fall nicht. Allerdings sind die meisten Kollegen äußerst hilfsbereit und teilen gerne ihre Erfahrungen und Materialien.
Es braucht mehr Geld
Wenn es mehr Unterstützungs- beziehungsweise Assistenzkräfte an den Schulen gäbe, die Aufgaben außerhalb des Klassenraumes zumindest teilweise übernehmen könnten, dann könnte man sich mehr auf den Unterricht konzentrieren. Die bestmögliche Ausbildung unseres Nachwuchses sollte eigentlich in unser aller Interesse liegen. Dazu braucht es mehr Geld.“
Astrid Schuchter (50), AHS, Tirol, Bezirk Imst
„Als AHS-Lehrerin und Gewerkschafterin der ÖLI-UG habe ich es mit vielen Quereinsteigern zu tun. Mein Eindruck: Ob ihr Einstieg ins Schulleben gelingt, hängt im hohen Maß von der Bereitschaft der Kollegenschaft ab, Hilfestellung zu geben und sich auszutauschen. Je größer der Lehrermangel und Stress an einem Standort, desto weniger Zeit bleibt für neue Kollegen.
Spannend, fordernd, überfordert
Die Unterrichtstätigkeit empfinden die meisten als fordernd, aber spannend. Zu schaffen machen Quereinsteigern bürokratische Hürden. Von anderen Dienstverträgen, als nach der Zulassung zum Lehrerjob erwartet, bis hin zu Hürden beim obligatorischen Hochschullehrgang. Manche Quereinsteiger kennen sich nicht aus und haben den Eindruck, dass es den zuständigen Stellen ähnlich geht. Hier mangelt es offenbar an der Abstimmung zwischen Ministerium, Zertifizierungsstelle und Bildungsdirektion. Sie sollten mit einer Zunge sprechen.“
Konstantin W.* (27), Gymnasium, Niederösterreich
„Lehrer war schon mit 16 mein Traumberuf. Ich war ein schlechter Schüler und wollte es selber eines Tages besser machen als meine Lehrer damals. Ich war vor dem Quereinstieg voll auf meine bildende Kunst fixiert und schlug mich mit Brotjobs wie Security durch. Die Kombi mit dem Lehrerjob ist nun ideal. Je mehr ich unterrichte, desto mehr Kunst will ich machen – und umgekehrt. Das Beste am Job ist, wenn du die Fortschritte siehst. Du bringst den Schülern im Kunstunterricht Perspektiven und Schattierungen bei, und zwei Wochen später können sie es. Das liebe ich. Heftig ist das Mobbing von Schülern untereinander. So können Kinder eben sein, aber auch so: Eine 1. Klasse hat sich am Ende des Schuljahres bei mir bedankt und sich vor mir verbeugt. Ich habe mich vor ihnen verbeugt.
Schüler haben sich vor mir verbeugt
Dass sich manche Kollegen mir gegenüber nach dem Motto ‚Schon wieder so ein Quereinsteiger‘ verhalten, versuche ich nicht an mich heranzulassen. Ich halte ihnen die Tür auf. Von der Direktorin bekomme ich enorme Wertschätzung. Und das zählt. Denn an einer Schule musst du dich mit zwei Personen wirklich verstehen: der Direktorin und dem Hausmeister.“
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.