Macht und Einfluss des Bundespräsidenten
Charakter und Format, Weltanschauung und Ehepartner. Das waren in den vergangenen Jahrzehnten die Themen, in denen sich Hofburg-Aspiranten beweisen mussten. Doch dieses Mal ist alles anders. Plötzlich geht es um Macht und Einfluss.
Szenarien wie Auflösung des Nationalrats, Entlassung der Regierung, fliegender Wechsel und Notverordnungen werden heraufbeschworen. Der freiheitliche Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer sagt unverblümt, er hätte die Bundesregierung im vergangenen Herbst wegen ihrer Flüchtlingspolitik entlassen. Er würde sie aber auch entlassen, wenn ihm irgendetwas anderes nicht passe – wenn er den Eindruck habe, sie regiere am Volk vorbei. Darf er das? Es wäre ein Paradigmenwechsel.
Die Österreicher sind es zu Recht gewohnt, im Bundespräsidenten einen moralisch einwandfreien Zeitgenossen zu sehen, der bisweilen den Zeigefinger hebt und mahnt; der sich diskret nach dem Fortgang der Regierungsgeschäfte erkundigt; der auch einmal einen Akt für eine Postenbesetzung liegen lässt. Denn so ist es immer gewesen.
Es braucht nur das politische System ins Wanken zu geraten, und schon stehen die Kompetenzen des Bundespräsidenten im Brennpunkt des Geschehens
Als der verstorbene Bundespräsident Thomas Klestil aus dieser Rolle ausscherte und sich unter Vorlage eines Rechtsgutachtens bei der Unterzeichnung des österreichischen EU-Beitritts 1994 neben den Kanzler drängte, wurde er zum Gespött aller. Als er im Jahr 2000 gegen seine Überzeugung die schwarz-blaue Regierung angeloben musste, trug er seine Abscheu im Gesicht. Immerhin hatte er zwei Freiheitliche von der Kabinettsliste gestrichen, einen Industriellen, der gegen Ausländer gehetzt, und einen Politiker, der ihn, Klestil, öffentlich angepöbelt hatte. Doch insgesamt war ihm nicht mehr vergönnt gewesen, als das berühmte „Schnoferl“ zu ziehen.
Bei allem persönlichen Ehrgeiz entstammte Klestil eben doch der Kultur der Großen Koalition, der Sozialpartnerschaft, des Aushandelns und Abtauschens. Er hätte nie mit Konventionen gebrochen. Klestil wird immer wieder als Beispiel für die faktische Machtlosigkeit des Bundespräsidenten herangezogen. Doch die Zeiten haben sich geändert, die alten Parteien zerbröseln, der Protest sammelt sich rechts. Deshalb sollte man sich mit den Rechten des Staatsoberhaupts vertraut machen.
Der frühere Präsident des Verwaltungsgerichtshofs, Clemens Jabloner, stellte schon vor einigen Jahren fest: „Es braucht nur das politische System ins Wanken zu geraten, und schon stehen die Kompetenzen des Bundespräsidenten im Brennpunkt des Geschehens. Sie sind so gewichtig, dass er die Republik jederzeit mit vier aufeinanderfolgenden Entschließungen in eine ganz andere Lage bringen kann. Dazu hätte er bloß mit der ersten Entschließung (über die er allein entscheiden kann; Anm. d. Red.) die gesamte Bundesregierung zu entlassen, mit der zweiten eine ihm genehme Person als Bundeskanzler zu bestellen, mit der dritten auf Vorschlag dieses Bundeskanzlers die übrigen Bundesminister und mit der vierten auf Vorschlag dieser neuen Bundesregierung die Auflösung des Nationalrats zu verfügen.“
Was heißt das konkret? Bisweilen bekommt man bei Hofers Fernseh-Auftritten den Eindruck, genau dieses Szenario, das nach allen Umfragen der FPÖ sehr zupass käme, habe er bereits im Kopf: Er entlässt die Regierung, ernennt Heinz-Christian Strache zum Kanzler, der sich ein Kabinett herrichtet, das Hofer zur Auflösung des Nationalrats auffordert.
Das Einzige, in das er seine Nase stecken dürfe, sei sein Schneuztüchel
Hofer müsste dieses Vorgehen allerdings begründen: Er könnte sagen, er sei eben erst vom Volk gewählt und damit frisch legitimiert worden, während der Nationalrat längst nicht mehr die politische Stimmung im Lande abbilde. Die alten Regierungsparteien seien zudem zerstritten. Deshalb müsse neu gewählt werden. Strache gewinnt diese Wahlen hoch und bildet mit einer demoralisierten ÖVP und/oder Teilen der SPÖ (Niessl-SPÖ) eine populistische Regentschaft im Stile von Viktor Orbán, eine illiberale Demokratie.
Entschließungen des Bundespräsidenten sind übrigens sofort wirksam, nicht erst nach Veröffentlichung im Amtsblatt. Jederzeit kann der Bundespräsident auch vier Wochen lang mit Notverordnungen regieren. Dafür braucht er nur ein willfähriges Kabinett und eine Situation, in welcher der Nationalrat nicht tagt oder nicht in der Lage oder willens ist zusammenzutreten. Die einzige Einschränkung: Er darf den Bürger weder mit neuen Steuern belasten noch das Mietrecht abschaffen. Nicht zuletzt daran erkennt man in der Verfassung den Geist vergangener Zeiten.
Ein eigenes Staatsoberhaupt gab sich die Republik Österreich im Jahr 1920. Die Sozialdemokraten hatten erfolglos dagegen opponiert. Sie hätten es lieber gesehen, die wenigen Agenden dem Nationalratspräsidenten aufzubürden. Von Machtfülle war damals keine Rede. Der erste Bundespräsident, der deutschnationale Michael Hainisch, soll bei Gelegenheit gesagt haben, das Einzige, in das er seine Nase stecken dürfe, sei sein Schneuztüchel. Rückblickend war das gut so. Hainisch wollte die Anzahl von Juden in leitender Stellung beschränken; da fehle die „arische Mentalität“.
1928 stand die junge Republik am Rande eines Bürgerkrieges. Die Polizei ging bewaffnet gegen Demonstranten vor, der Justizpalast brannte, der Ruf nach einem starken Mann wurde laut. 1929 wurde der österreichische Bundespräsident nach dem Vorbild der Weimarer Verfassung mit stärkerem Durchgriff ausgestattet. So kam ein paar Jahre später Adolf Hitler in Deutschland an die Macht: 1933 wurde er vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Kanzler ernannt und regierte in der Folge mit Notverordnungen.
Am Ende der Machtergreifung, die völlig legal im Rahmen der Weimarer Verfassung vonstatten gegangen war, wurden Kanzler und Präsident in ein Amt zusammengelegt, der Reichsrat aufgelöst, des Führerprinzip etabliert. Die Deutschen zogen daraus nach 1945 die Lehre, die Rechte des Bundespräsidenten extrem zu beschneiden, ihn auf die Repräsentation des Staates zu beschränken.
Die Realverfassung kann sich ändern, die Wortverfassung bleibt gleich
In Österreich hatte man mit einem starken Bundespräsidenten ebenfalls keine guten Erfahrungen gemacht. Der Christlichsoziale Wilhelm Miklas nützte seine Rechte nur zugunsten der eigenen Leute. Die Ausschaltung des Parlaments und die Errichtung einer ständestaatlichen Diktatur ließ er ungerührt geschehen. Trotzdem wurden nach 1945 die alten Rechte des Bundespräsidenten wieder in Kraft gesetzt – man redete nur nicht darüber.
Vor allem die SPÖ achtete darauf, dass der jeweilige Amtsinhaber seine Rolle sehr restriktiv anlegte, obwohl es sich meist um Genossen handelte (oder gerade deshalb). Da kam es vor, dass der SPÖ-Vorstand einen Genossen Präsidenten rügte, wenn er ein Interview gab, ohne den Text vorher mit der großkoalitionären Regierung abgesprochen zu haben. Schon Ratschläge des Bundespräsidenten galten als „Überschreitung“, die „in Richtung eines persönlichen Kurses oder eines autoritären Regimes ausgelegt werden könnten“.
Der erste vom Volk gewählte Präsident, der frühere Wiener SPÖ-Bürgermeister Theodor Körner, weigerte sich 1953, ein Kabinett mit dem VDU (Verband der Unabhängigen), der Vorläufer-Organisation der FPÖ, anzugeloben. Er hatte ein stichhaltiges Argument: Mit ehemaligen Nazis in der Regierung werde Österreich niemals einen Staatsvertrag bekommen. So bildeten sich über die Jahrzehnte hinweg sogenannte Usancen heraus. Dazu gehört etwa, dass die Bundesregierung nach der Wahl eines neuen Bundespräsidenten ihre Demission anbietet und sofort wieder bestellt wird. Ein Akt der Höflichkeit, nicht mehr. Er ist in der Verfassung nicht einmal vorgesehen, erweckt aber den Eindruck, es sei ohnehin alles eine Formalie.
Der Verfassungsjurist Manfried Welan sagt, man könne das Amt des Bundespräsidenten wie ein Vexierbild betrachten, gefährlich bis harmlos, je nachdem. „An Jabloners Szenario stimmt jeder Satz. So kam es auch von Hindenburg zu Hitler. Aber heute haben wir Medien, und wir befinden uns nicht in den 1930er-Jahren.“ Eine leise Warnung sei dennoch angebracht: „Die Realverfassung kann sich ändern, die Wortverfassung bleibt gleich.“
Und der frühere Höchstrichter Jabloner hält das Gerede von den Konventionen und der Realverfassung für fahrlässig. „Es gibt kein totes Recht. Das Recht gilt.“