Polizist Stefan S.: Auge in Auge mit dem Attentäter von Wien
Dieser Blick. Stefan S. wird ihn nie vergessen. Total starr. So einen hat er zuvor noch nie gesehen. Er ist noch jung, hat aber als Polizist schnell gelernt, Menschen einzuschätzen. Dass hier nichts mehr zu reden ist, wird S. sofort klar. Sechs Meter ist der Mann entfernt. Er schleudert ihm die „Täteransprache“ entgegen, irgendetwas mit „Waffe weg“, wie man es ihm beigebracht hat, und schießt mit der Dienstpistole in die Luft. Dann hört er das Repetieren des Sturmgewehrs. Stefan S. zielt, drückt ab und spürt einen Schmerz, den er nie zuvor gefühlt hat.
Am 2. November wird sich dieser Moment zum dritten Mal jähren. Die Uniform hat der 31-Jährige seither noch nicht wieder angezogen. Er kommt in Zivil, weißes Hemd, Jeans, helle Mokassins, das Haar zurückgegelt. Seit jener Nacht, in der ein Nordmazedonier in der Wiener Innenstadt im Namen des sogenannten Islamischen Staats ein Blutbad anrichtete und das Leben von S. an einem seidenen Faden hing, hat er noch nie mit Medien gesprochen. Beim Termin mit profil im zweckmäßig-nüchternen Sitzungssaal in der Landespolizeidirektion Eisenstadt ist der Pressesprecher dabei.
Manchmal kam S. in zwei, drei öffentlich gewordenen Nebensätzen vor. Er ist der Streifenpolizist, der den Attentäter Kujtim F. am 2. November 2020 um 20.04 Uhr anschoss und von diesem schwer verletzt wurde. Ein Organ des Staates im Einsatz für die öffentliche Sicherheit. Ein namenlos gebliebener Held. In der Uniform steckte damals Stefan S., ein junger Polizist, der aus dem Burgenland nach Wien pendelte, 28 Jahre alt. Sein 29. Geburtstag stand knapp bevor.
Die Gefahr aufsuchen
Seither hat Stefan S. über einiges nachgedacht. Mut bedeute für ihn, „das zu tun, was man für richtig hält, und sich auf Situationen einzulassen, in denen man Nachteile erwartet“. Stefan S. ist kein Mann der ausschweifenden Schilderungen. Seine Antworten bestehen aus wenigen Sätzen. Darüber, dass es für Polizisten zur Jobbeschreibung gehört, „die Gefahr aufzusuchen“, könnte man Bücher schreiben. „Wir haben eine sehr gute Ausbildung“, bemerkt S.
Zwei Jahre lang werden angehende Polizisten für alle möglichen anzunehmenden Ernstfälle geschult. Auch Amokläufe stehen am Lehrplan. Eine Woche lang präparierte sich S. für Einsätze wie den 2. November. Die Wahrheit ist, dass man sich darauf nur bedingt vorbereiten kann. So sehr man auch versucht, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen, der Abgrund tut sich nie ganz auf: „Man weiß immer, das sind Kollegen, es passiert nichts, und man geht gesund heim.“ Inzwischen weiß S. auch, dass sich erst in einer Extremsituation, die alles von einem fordert, herausstellt, wie man tatsächlich reagiert. In seinem Fall zeigt sich, dass „man nicht mehr nachdenkt, sondern quasi instinktiv das macht, was man gelernt hat“. Am 2. November um 20.02 Uhr heißt das konkret: „Man hört den Funkspruch und schreitet ein.“
Der Tag beginnt für Stefan S. geruhsam. Er besucht seine Eltern in Niederösterreich und isst mit ihnen. Danach fährt er mit dem Auto nach Wien und nimmt seine Schwester mit. Sie besucht hier die Polizeischule, inzwischen ist sie auch „eine Kollegin“. Er legt sich eine Weile hin, um 19 Uhr beginnt sein Nachtdienst. Seine Gruppe teilt sich Streife und Innendienst auf. Die ersten drei Stunden ist ein Zweierteam draußen unterwegs, während die beiden anderen auf der Polizeiinspektion bleiben. Um 22 Uhr wird gewechselt. Die Funkwagen-Paare sind eingespielt. „Jeder hat sich auf den anderen verlassen können“, sagt Stefan S. Er selbst ist ursprünglich für den späten Außendienst eingeteilt. Ein Kollege, gleichzeitig sein Vorgesetzter, muss noch Dienstpläne erstellen und bittet ihn, die Schicht zu tauschen.
Mut bedeutet für mich, das zu tun, was man für richtig hält, und sich auf Situationen einzulassen, in denen man Nachteile erwartet.
Es ist ein lauer Abend, der letzte vor einem Corona-Lockdown. In der Wiener Innenstadt sind viele unterwegs. Die Stimmung ist friedlich. „Es wird nicht viel los sein“, denkt Stefan S. Sein Kollege und er beginnen mit routinemäßigen Taxikontrollen und streifen durch die Fußgängerzone. Als ihr Wagen auf den Stephansplatz einbiegt, hören sie eine Meldung mit „Mann“, „Maschinenpistole“, „Schüsse“. An den genauen Wortlaut erinnert S. sich nicht mehr. Es ist zwei Minuten nach 20 Uhr. Die Funkstelle verordnet einen „Notstopp“. Das ist ein interner Jargon und bedeutet, dass die Lage ernst ist und die Kollegen, die noch in der normalen stich- und bis neun Millimeter schusssicheren Weste unterwegs sind, nun schleunigst die mitgeführte schwere Schutzausrüstung anlegen müssen. Als das Polizeiauto kurz darauf die Rotenturmstraße hinunterfährt, laufen ihm Passanten entgegen und deuten Richtung Ruprechtskirche.
Die Gewalt des Sturmgewehrs
Vor der McDonald’s-Filiale am Schwedenplatz halten sie an. Stefan S. läuft mit gezogener Dienstpistole auf den gläsern überdachten Zugang einer Tiefgarage zu. Deckung ist nicht möglich. Und plötzlich ist da der Schmerz, der für Stefan S. für immer mit diesem Zusammentreffen verbunden bleiben wird. Er fühlt sich zunächst wie der Stich einer Hornisse an, „nur 100 Mal ärger“ und kurz darauf wie ein „extremer Muskelkrampf“. Er hört die Schüsse seltsam leise, als hätte die Welt den Geräuschpegel zurückgedreht. Die Gewalt des Sturmgewehrs haut Stefan S. um.
Als ihr Wagen auf den Stephansplatz einbiegt, hören sie eine Meldung mit „Mann“, „Maschinenpistole“, „Schüsse“.
Der Polizist robbt hinter eine etwa 40 Zentimeter hohe Betonmauer. Der Mann mit dem irren Blick, den Stefan S., wie man ihm später berichten wird, angeschossen hat, rappelt sich auf und marschiert Richtung Ruprechtskirche. Am Schwedenplatz wimmelt es von Menschen. Es sollte noch vier Minuten dauern, bis der Attentäter von Beamten der Sondereinheit WEGA erschossen wird. Die Kugel aus der Dienstpistole des Polizisten aber treibt ihn in die Enge. Auch das weiß Stefan S. zu diesem Zeitpunkt nicht.
Das AK47-Projektil hat seinen Oberschenkel und die Arterie durchschlagen. Stefan S. verliert sehr viel Blut. Drei Jahre später hat er immer noch vor Augen, was danach passiert: Ein Polizeikollege und ein Notfallsanitäter schleppen ihn zum Rettungsauto. Es steht mitten in der roten Zone. Der Attentäter ist noch um die Ecke. Im Fahrzeug nestelt er noch nach dem Mobiltelefon, entsperrt es, drückt es einer Kollegin der Bereitschaftspolizei, die plötzlich neben ihm steht, in die Hand und bittet sie, seine Mutter zu verständigen.
Dann raubt ihm ein Schmerz fast die Besinnung. Ein Sanitäter kniet auf ihm, um die Arterie abzuklemmen und die Blutung zu stoppen. „Die beiden haben ganz genau gewusst, was sie machen. Ich verdanke ihnen mein Leben“, sagt S. Im AKH wartet eine weitere Portion unwahrscheinlichen Glücks auf ihn. Ein Gefäßchirurg, eine Koryphäe auf seinem Gebiet, ist in der Gegend essen. Als er angerufen wird und von der zerschossenen Arterie erfährt, lässt er alles liegen und stehen und übernimmt im OP. Auch das wird man Stefan S. später erzählen.
Der Schmerz fühlt sich zunächst wie der Stich einer Hornisse an, „nur 100 Mal ärger“ und kurz darauf wie ein „extremer Muskelkrampf“.
Notoperation
Sechs Stunden dauert der Eingriff. Danach findet sich S. auf der Intensivstation wieder. Er weiß, was passiert ist, und sagt sich, dass er eben „Pech gehabt“ habe. Er hat noch einen weiten Weg zurück in sein normales Leben vor sich. Im Spital werden seine Schmerzen medikamentös gelindert. Das Projektil verunreinigte die Wunde, sie musste stark ausgeschnitten werden. „Das dauert eine Weile, bis sich das regeneriert.“ (Stefan S.)
Seine Schwester ist eine der ersten Besucherinnen an seinem Krankenbett. Sie ist einige Jahre jünger als Stefan S. und war durch die Hölle eines falschen Gerüchts gegangen. In einem polizeilichen Whats-App-Chat hatte sie erfahren, dass es einen Kollegen erwischt hat. Zu diesem Zeitpunkt war sie sicher, dass es nicht ihr Bruder sein konnte. Er war ja für die späte Außendienst-Tour eingeteilt. Jemand postete, der Kollege sei reanimiert worden und gestorben. Als die Eltern – zwischenzeitlich aus dem Rettungswagen informiert, dass Stefan S. schwer verletzt worden war – ihr mitteilen, um wen es geht, muss sie davon ausgehen, dass ihr Bruder nicht überlebt hat. „Da war die Welt kurz aus für sie“, sagt Stefan S. Die Eltern reisen aus Niederösterreich an, kommen aber wegen der vielen polizeilichen Absperrungen in Wien nur schwer vorwärts. Als sie es ins AKH geschafft haben, läuft ihnen schon der Vorgesetzte und Funkwagen-Kollege ihres Sohnes entgegen: „Er wird gerade notoperiert.“
Dass Stefan S. die Schussverletzung überstand, verdankt sich einer bilderbuchmäßig funktionierenden Rettungskette. Und umgekehrt? Wie viele Menschen leben heute noch, weil ein Projektil aus seiner Dienstpistole den Attentäter in seinem Aktionsradius einschränkte? Man kennt weder ihre Zahl noch ihre Namen. Eine der Lehren aus dem Terroranschlag auf die Pariser Konzerthalle Bataclan im Jahr 2015 lautet jedoch, dass jede polizeiliche Maßnahme, die den Täter beschäftigt, ihn für andere ein bisschen weniger gefährlich macht. Der Terrorist von Wien ermordet am 2. November 2020 vier Menschen und verletzt 23 weitere. Man darf davon ausgehen, dass Stefan S. dafür gesorgt, dass es nicht noch mehr sind.
Polizist Stefan S.
Im Wohnzimmer des „ganz normalen“ Polizisten, der in der Terrornacht zum Helden wurde, hängen nun drei Auszeichnungen. Und ja, darauf sei er „schon stolz“: „Die bekommt man ja nicht einfach so überreicht.“
Ist er ein Held? Er werde mitunter als einer bezeichnet, „dabei habe ich nur das gemacht, wofür ich Polizist geworden bin“, sagt er. Aber der 31-Jährige verhehlt nicht, dass es ihn freut, wenn etwa der Chef der Wiener Polizeieinheit WEGA, Ernst Albrecht, öffentlich bekundet, er ziehe vor dem Polizisten seinen Hut: „So ein Lob aus dem Mund eines fachlich anerkannten Offiziers ist etwas ganz Besonderes.“ Noch im Spital erhält S. Besuch von den Spitzen der Republik. Karl Nehammer, damals Innenminister, und Ex-Kanzler Sebastian Kurz, machen ihre Aufwartung, was S. lapidar resümiert: „Schon irgendwie überraschend, damit rechnet man ja nicht.“ Die beiden ÖVP-Regierungspolitiker bringen das Goldene Verdienstabzeichen der Republik Österreich am roten Bande mit, die höchste Auszeichnung für Lebensretter.
Zurück an den Tatort
Gleichzeitig mit Stefan S. liegt auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen im Spital, der sich bei einem Sturz die Hüfte verletzt hatte. Auch er schaut bei dem verletzten Polizisten vorbei. Am 17. November wird er in häusliche Pflege entlassen. Ein Jahr später, im November 2021, zeichnen der Bundespräsident und der damalige Kurzzeitkanzler Alexander Schallenberg jene Polizeikräfte, die in der Terrornacht im Einsatz waren, mit Tapferkeitsmedaillen aus. S. erhält seine als Erster. Sein Name taucht in keiner Presseaussendung auf, und beim Gruppenfoto steht er abseits. „Ich war damals noch nicht so weit“, sagt er.
Reha-Aufenthalte, Physiotherapie, Training: Stefan S. musste hart dafür arbeiten, „dass das alles wieder geworden ist“. Er war 27, hatte eine Mechanikerlehre und die Meisterprüfung absolviert, als er zur Polizei ging. Viele seiner Bekannten waren schon dabei. Er fand spannend, was sie erzählten, mochte es, in der Gruppe zu arbeiten, schätzte einen „sicheren Job“, bei dem man nie weiß, was auf einen zukommt, und die vielen Möglichkeiten, die er offenhält: „Eigentlich unglaublich, was man bei der Polizei alles machen kann.“ Als seine Schwester mit ihm für die Aufnahmetests lernte, fing auch sie Feuer.
Der Schusswechsel zwischen Stefan S. und dem Attentäter wurde untersucht. Allfällige Lehren daraus fließen in die polizeiliche Ausbildung ein. Die Mittäter der Terrornacht kamen vor Gericht, was S. nur am Rande verfolgte. Es stand für ihn „nie zur Debatte“, seinen Beruf aufzugeben, sagt er. Die Zeit mit seiner Familie, Freunden und Bekannten habe ihm viel geholfen. In die Stadt will der Polizist Stefan S. nicht zurück, er wird künftig im Burgenland Dienst machen. Vorher steht eine weitere Reha an.
„Man genießt mehr, schätzt die kleinen Dinge, die man nicht kaufen kann, weil man gesehen hat, dass es jederzeit aus sein kann. Auch wenn man gesund ist.“
Im Mai des Vorjahres erhielt Stefan S. im Raiffeisenhaus in Wien noch eine Auszeichnung – die Josef-Holaubek-Medaille, benannt nach jenem Polizeipräsidenten, der 1971 einen Geiselnehmer unbewaffnet und in Zivil zum Aufgeben überredete und von dem der Ausspruch überliefert ist: „I bin’s, dein Präsident.“ Im Wohnzimmer des „ganz normalen“ Polizisten, der in der Terrornacht zum Helden wurde, hängen nun drei Auszeichnungen. Und ja, darauf sei er „schon stolz“: „Die bekommt man ja nicht einfach so überreicht.“
Vom Raiffeisenhaus aus sieht man auf die Rotenturmstraße, die McDonald’s-Filiale am Eck, die Betonmauer, zu der S. sich schleppte, als er angeschossen war. Die Zeit schien reif, zum ersten Mal an den Tatort zurückzugehen. Stefan S. stellte sich darauf ein, dass etwas hochkommt. Er setzte sich auf die Mauer und sah auf die Stelle, an der er fast verblutet wäre. Nichts passierte. Kein Gefühl regte sich. Ist das Leben wie vorher? Stefan S. versteht die Frage nicht: „Wie meinen Sie das?“ Nach einer Weile sagt er: „Man genießt mehr, schätzt die kleinen Dinge, die man nicht kaufen kann, weil man gesehen hat, dass es jederzeit aus sein kann. Auch wenn man gesund ist.“