Postenschacher und ORF-Umbau: Das Geheimpapier von Türkis-Blau

Wie ÖVP und FPÖ Verfassungsrichter, Aufsichtsräte und ORF-Führungskräfte untereinander aufteilten – und auch bei Türkis-Grün wurden Nebenabreden getroffen.

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Die Gerüchte hielten sich lange und hartnäckig. Es gebe eine streng vertrauliche, schriftliche Vereinbarung zwischen dem damaligen ÖVP-Chef Sebastian Kurz und seinem FPÖ-Pendant Heinz-Christian Strache aus dem Jahr 2017; ein geheimes türkis-blaues Regierungsprogramm, abseits des offiziellen, in welchem delikate Inhalte festgeschrieben worden seien. Eine Bestätigung dafür gab es nie, im Gegenteil: nur Dementis.

Das Dokument existiert tatsächlich. Es hat fünf Seiten, trägt den programmatischen Titel „Vereinbarungen“ und dazu (auf jeder Seite) die Unterschriften von Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache. Seit wenigen Tagen ist es Teil eines Ermittlungsakts der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA).

Nach Recherchen von profil und ORF (auf Grundlage einer legalen Akteneinsicht durch verfahrensbeteiligte Personen außerhalb der Justiz und der Exekutive) war der amtierende Klubdirektor der FPÖ Norbert Nemeth vergangenen Montag bei der WKStA geladen. Er sagte als Zeuge im WKStA-Verfahren gegen Sebastian Kurz wegen vermuteter Falschaussagen vor dem „Ibiza“-Untersuchungsausschuss 2020 aus. Kurz hatte bisher jedwedes Fehlverhalten zurückgewiesen, es gilt die Unschuldsvermutung (profil berichtete ausführlich).

Cluster und Hintergrundschleifen

Im Zuge seiner Einvernahme legte der FPÖ-Klubdirektor der Staatsanwaltschaft mehrere Schriftstücke vor, die seit Ende 2017 im Tresor des FPÖ-Parlamentsklubs versperrt gewesen waren. Darunter: die im Vorfeld der türkis-blauen Regierungsbildung 2017 getroffenen geheimen „Vereinbarungen“ zwischen Kurz und Strache. „Es handelt sich um eine Grundsatzvereinbarung und zwei Zusatzvereinbarungen“, gab Norbert Nemeth zu Protokoll. „Während der Koalitionsverhandlung gab es sehr viele Unterarbeitsgruppen (Cluster) und auch viele Hintergrundschleifen. Die Verhandlungsergebnisse bilden sich darin ab.“

Es ist ein kostbares Stück Zeitgeschichte, ein in dieser Form einzigartiger Beleg für politischen Postenschacher in seiner reinsten Form – also das ziemliche Gegenteil des „neuen Stils“, den Sebastian Kurz zu seinem ersten Amtsantritt versprochen hatte. Justiz, Staatsbesitz, Europäische Institutionen, ORF, Bundespräsident: die bis jetzt unter Verschluss gehaltenen Handelsgeschäfte von Kurz’ ÖVP und Straches FPÖ waren weitreichend wie kleinteilig, Namenslisten inklusive. Das Dokument liefert darüber hinaus auch Indizien für zumindest irreführende Aussagen von Sebastian Kurz im parlamentarischen „Ibiza“-Ausschuss. Und dürfte alsbald auch den nahenden „ÖVP-Korruptionsausschuss“ beschäftigen.

Im Zuge der gemeinsamen Recherchen von profil und ORF geschah Freitagabend Wundersames. Den beteiligten Medien wurde eine weitere geheime Vereinbarung zugespielt – in dem Fall jene zwischen ÖVP und Grünen, unterzeichnet von Sebastian Kurz und Werner Kogler. Sie ist kürzer, behandelt nur Personalfragen und entspricht im Aufbau frappant dem türkis-blauen Papier aus 2017 – ganz so, als hätte die ÖVP eine Druckvorlage aus dem Archiv geholt (dazu später).

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Höchstrichter, Aufsichtsräte, Direktoren und ein HBP

Die späteren Regierungsparteien ÖVP und FPÖ versprachen einander schon Ende 2017 Posten und Positionen im Verfassungsgerichtshof, im Verwaltungsgerichtshof, im ORF, in der Oesterreichischen Nationalbank, den ÖBB, der Asfinag, der Staatsholding, den Gerichtshöfen der Europäischen Union, der EU-Kommission, dem EU-Rechnungshof und der Europäischen Investitionsbank, wobei vor allem die ÖVP kräftig zulangte. Der Schlüssel lautete im Bereich der Staatsbeteiligungen grosso modo: Zwei Vertreter der ÖVP für jeweils einen Vertreter der FPÖ (dort, wo die Blauen das Sagen hatten, war der Schlüssel umgekehrt, das betraf aber nur das Infrastrukturministerium).

Zusätzlich wurde auch noch der ORF-Umbau paktiert. Kurz und Strache hatten sich einerseits auf eine Abschaffung der ORF-Gebühren verständigt, sofern budgetär darstellbar (eine alte wie umstrittene Forderung der FPÖ); andererseits auch auf neues Führungspersonal. Die neuen Machtverhältnisse im Stiftungsrat wurden ebenso schriftlich zementiert, wie der Führungsanspruch der ÖVP in der Geschäftsführung und die Namen leitender Redakteure.

Hier können Sie das gesamte Dokument einsehen.

Das Kurz-Strache-Papier unterteilt sich in 14 Kapitel, darunter „Personalia“, „ORF“, Kammern“, „Kopftuch“, „Kompetenzen Europäische Union“, „Freihandelsabkommen CETA“, „Bundesheer“, „Bildung“ und „Innere Sicherheit“.

Teils bestehen die Abreden nur aus einem vagen, gleichlautenden Satz; so heißt es etwa zu den Bereichen Bildung, Landesverteidigung und Exekutive: „Es wird vereinbart, dass das Budget … beginnend mit Budget 2018 einen leichten budgetären Anstieg erfährt.“

Sehr viel konkreter – und politisch ungleich brisanter – sind die Arrangements in Kapitel Nummer eins, „Personalia“ – es ist auch der mit Abstand längste und detaillierteste Teil.

Gleich einleitend wird in dem Dokument eine Art Waffenruhe verkündet – und zwar mit Blick auf spätere Bundespräsidentschaftswahlen. Türkis und Blau wollten damals vielmehr auf einen gemeinsamen künftigen Kandidaten hinarbeiten: „Die Koalitionsparteien stimmen überein, dass sie bis zum 1.12.2021 eine Abstimmung zur allfällig gemeinsamen Vorgangsweise bzgl. der Nominierung eines Kandidaten für die Wahl der Bundespräsidenten vornehmen.“

Was unmittelbar darauf folgt, zeichnet ein desaströses Bild von Besetzungsusancen in diesem Lande, die auch den Verfassungsgerichtshof und den Verwaltungsgerichtshof nicht verschonen. Zusammen mit dem Obersten Gerichtshof bilden sie Österreichs Höchstgerichte.

Sowohl am VfGH als auch am VwGH arbeiten Richterinnen und Richter, die teils von der Bundesregierung, teils vom Nationalrat und teils vom Bundesrat vorgeschlagen und jeweils vom Bundespräsidenten ernannt werden. Das ist gesetzlich so vorgesehen. In keinem Gesetz steht aber, dass die Höchstgerichte nach Parteiräson und koalitionärem Kalkül zu besetzen seien. Ist Österreichs Gerichtsbarkeit wirklich so unabhängig, wie es ihrem Selbstverständnis entspricht? Erst vor wenigen Tagen veröffentlichte die Online-Plattform zackzack.at Chats, die das politische Geschiebe rund um das Avancement der ÖVP-nahen Juristin Eva Marek zur Vize-Präsidentin des Obersten Gerichtshofs 2018 indizieren.

Der Generationenwechsel im VfGH

Der Verfassungsgerichtshof stand Ende 2017 vor Rochaden, drei Mitglieder mussten mit 31. Dezember wegen des Erreichens der geltenden Altersgrenze von 70 Jahren ausscheiden: VfGH-Präsident Gerhard Holzinger, Senatspräsident Rudolf Müller und die Rechtsanwältin Eleonore Berchtold-Ostermann. Als Vizepräsidentin des VfGH agierte die spätere Interims-Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein, die der Altersgrenze mit damals 68 Jahren ihrerseits nahegerückt war.

Der Generationenwechsel wurde im Jahresverlauf 2018 vollzogen – auf Grundlage der geheimen Absprachen, die in der profil und dem ORF vorliegenden Vereinbarung dokumentiert sind. Im Februar 2018 wurde Brigitte Bierlein von Bundespräsident Alexander van der Bellen auf Vorschlag der Bundesregierung als erste Frau zur Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs ernannt, das VfGH-Mitglied Christoph Grabenwarter rückte zum Vizepräsidenten auf – und Grabenwarters Platz nahm der vormalige ÖVP-Justizminister Wolfgang Brandstetter ein. Nun wird offenbar: Nicht nur der Ex-Politiker Brandstetter war damals politisch klar punziert: Bierlein war der FPÖ zugeschlagen worden, Grabenwarter der ÖVP. Soweit es Grabenwarter betrifft, war das keine allzu große Überraschung. Der heute 55-Jährige Jurist ist seit 2005 Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, die damalige schwarz-blaue Bundesregierung unter Kanzler Wolfgang Schüssel hatte ihn vorgeschlagen. In den Nullerjahren war Grabenwarter auch ein Mitglied des damaligen „Verfassungskonvents“ gewesen, entsandt von der ÖVP.

Dass Brigitte Bierlein auf ein FPÖ-Ticket gesetzt wurde, war indes nicht unbedingt zu erwarten. So oder so musste auch die nähere Zukunft abgestimmt werden, schließlich würde Bierlein schon im Juni 2019 den 70. Geburtstag erreichen und folglich Ende desselben Jahres aus dem Verfassungsgerichtshof ausscheiden müssen.

So heißt es beim Punkt „Verfassungsgerichtshof“ stichwortartig: „Präsident: bis zum 31.12.2019 Brigitte Bierlein (FPÖ) – ab 1.1.2020 Christoph Grabenwarter (ÖVP) … Nachfolge Grabenwarter: Brandstetter (ÖVP)“.

Wolfgang Brandstetter wurde im Februar 2018 auf Vorschlag der Regierung zum VfGH-Richter ernannt, er hielt sich bis 2021, ehe er im Gefolge der Affäre um eine mutmaßlich verpfiffene Hausdurchsuchung beim Unternehmer Michael Tojner abdanken musste (alle Betroffenen haben die Vorwürfe bisher zurückgewiesen, es gilt auch hier die Unschuldsvermutung).

Da Christoph Grabenwarter auf Wunsch von Kurz und Strache Anfang 2020 zum neuen VfGH-Präsidenten avancieren sollte (was am 19. Februar 2020 auch geschah), brauchte es wiederum einen designierten Vize. Und den bekam die FPÖ zugesprochen. „Vizepräsident: bis 31.12.2019: Christoph Grabenwarter (ÖVP) – ab 1.1.2020: Hauer (FPÖ)“.

Der Oberösterreicher Andreas Hauer, ein schlagender Burschenschafter, nicht unumstritten, wurde im März 2018 im Nationalrat mit den Stimmen von ÖVP und FPÖ als VfGH-Mitglied vorgeschlagen und wenig später auch ernannt und angelobt. Er trat als solcher die Nachfolge von Rudolf Müller an; ganz so, wie es ÖVP und FPÖ niedergeschrieben hatten. „Nachfolge Müller: Hauer (FPÖ)“.

Nun war aber bereits Ende 2017 absehbar, dass Andreas Hauer alsbald zum Vize-Präsidenten aufsteigen und dann abermals ein neues VfGH-Mitglied gebraucht werden würde. Auch daran wurde gedacht, die 2020 frei werdende Funktion sollte von der FPÖ zur ÖVP zurückwandern, noch ohne weiteren Namen: „Ab 1.1.2020 Nachfolge für Hauer Nominierung durch ÖVP“ (tatsächlich wurde Hauer nicht wie vorgesehen Vize-Präsident, die Funktion bekam 2020 die Rechtsprofessorin Verena Madner. Die türkis-blaue Bundesregierung war da längst Geschichte).

Und weil das immer noch nicht alles ist, kümmerte man sich damals auch gleich um eine Nachfolge für die Ende 2017 ausgeschiedene Höchstrichterin Eleonore Berchtold-Ostermann, die vom Bundesrat zu nominieren war. Als Kandidat wurde der Rechtsanwalt und „Krone“-Kolumnist Tassilo Wallentin auserkoren, neben dessen Namen in Klammern „unabhängig“ vermerkt wurde. Wallentin wurde es nicht. An seiner Statt rückte noch 2018 der Wiener Rechtsanwalt Michael Rami ein, der in der Vergangenheit als FPÖ-Anwalt von sich reden gemacht hatte.

Es ist schon erstaunlich, mit welcher Akribie und Konsequenz hier sensibelste Jobs im österreichischen Justizapparat gesichert und verteilt wurden. Auch der Verwaltungsgerichtshof wurde bei den Planspielen nicht vergessen, wenngleich der Veränderungsdruck hier nicht so groß war, weil mittelfristig keine Abgänge bevorstanden. Man ging auf Nummer sicher, wobei die ÖVP auch hier keinen Zweifel am Führungsanspruch aufkommen ließ. Die Nummer eins am Verwaltungsgerichtshof war für Türkis gedacht, die Nummer zwei für Blau. Zum Punkt „VwGH“ heißt es demnach: „Sollte die Position des Präsidenten des VwGH im Laufe der Legislaturperiode nachzubesetzen sein, hat die ÖVP das Nominierungsrecht. Sollte die Position des Vize-Präsidenten im Laufe der Legislaturperiode nachzubesetzen sein, hat die FPÖ das Nominierungsrecht.“

Die Begehrlichkeiten der beiden Parteien endeten nicht an den Landesgrenzen. Siehe etwa den Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit Sitz in Luxemburg. Im März 2019 wurde der Grazer Rechtswissenschafter Andreas Kumin zum Richter am EuGH ernannt. Die Entscheidung darüber hatte sich das türkise Lage ausbedungen. „EuGH – Nominierung durch die ÖVP“.

Die zweite wichtige Instanz der europäischen Gerichtsbarkeit ist das Gericht der Europäischen Union (EuG), das ebenfalls in Luxemburg sitzt. Auch hier hatte man in die Zukunft geschaut, zunächst durfte die ÖVP ran, anschließend sollte die FPÖ einen Kandidaten oder eine Kandidatin benennen dürfen. „EuG – Nachbesetzung für Position 2019 (Nominierung 12 Monate vor Amtsantritt): ÖVP. Nachbesetzung für Position 2022 (Nominierung 12 Monate vor Amtsantritt): FPÖ“.

Am 16. Mai 2019, einen Tag vor Veröffentlichung des „Ibiza“-Videos wurde der langjährige Sektionschef im Bundeskanzleramt Gerhard Hesse vom Hauptausschuss des Nationalrats als neuer EuG-Richter vorgeschlagen, seine Funktionsperiode am Gerichtshof läuft Ende August dieses Jahres aus.

Dass auch weitere EU-Spitzenjobs abgetauscht wurden, überrascht dann nicht mehr. Österreichs EU-Kommissar, damals wie heute Johannes Hahn: „Nominierung durch die ÖVP“. Die Europäische Investitionsbank, für welche der frühere ÖVP-Chef und -Vizekanzler Wilhelm Molterer seit 2011 in leitender Funktion tätig ist (seit 2015 ist er Direktor des Europäischen Fonds für strategische Investitionen), sollte ihrerseits eine ÖVP-Erbpacht bleiben, im Gegenzug hätte die FPÖ einen Kandidaten für den Europäischen Rechnungshof aufbieten dürfen, wenn auch erst 2020.

„Der Vorstand der Beteiligungsgesellschaft wird durch die ÖVP nominiert“

Für Sebastian Kurz ist vor allem der Punkt „Beteiligungen“ von besonderer Bedeutung, weil womöglich strafrechtlich relevant. Wie eingangs beschrieben, ermittelt die WKStA gegen Kurz wegen vermuteter Falschaussagen im „Ibiza“-Ausschuss. Im Kern geht es dabei um seine Rolle bei der Restrukturierung der Staatsbeteiligungen, die 2017 noch an der Holding ÖBIB hingen, aus welcher dann die neue ÖBAG hervorging – mit einem gewissen Thomas Schmid an der Spitze (dessen Mobiltelefon wir erst kürzlich zur „Person des Jahres 2021“ kürten).

Der damalige Bundeskanzler hatte im U-Ausschuss geschickt den Eindruck erweckt, er habe zu keinem Zeitpunkt auch nur irgendeinen Einfluss auf die Zusammensetzung des neuen ÖBAG-Aufsichtsrats oder gar die Bestellung von Thomas Schmid zum ÖBAG-Alleinvorstand genommen. Sebastian Kurz verwies immer wieder auf das Formale: Für die Auswahl der ÖBAG-Aufsichtsräte sei das Finanzministerium unter der Leitung von Minister Hartwig Löger zuständig gewesen. Und den ÖBAG-Vorstand habe dann der Aufsichtsrat bestellt.

Das ist schon richtig. Wenn es aber nach dem von Kurz unterschriebenen Geheimpapier geht, dann hatten hierbei weder der Finanzminister, noch der Aufsichtsrat etwas mitzureden. Die Entscheidungen fielen andernorts, siehe Punkt 11b, „Unternehmensbeteiligungen“: „Der Vorstand der Beteiligungsgesellschaft wird durch die ÖVP nominiert. Der Aufsichtsrat der Beteiligungsgesellschaft wird durch die ÖVP nominiert. Die FPÖ erhält eine Person bis zu 1/3 der Aufsichtsratsmandate in den Unternehmensbeteiligungen“ – an der nunmehrigen ÖBAG hängen bekanntlich wichtige Staatsbeteiligungen, darunter OMV, Telekom Austria, Post, Bundesimmobiliengesellschaft und Verbund. Dass eine Partei den Vorstand einer Aktiengesellschaft „nominiert“, steht übrigens in recht deutlichem Widerspruch zum Aktiengesetz. Das ist tatsächlich einzig und allein Aufgabe des Aufsichtsrats.

Die Passage zu den Staatsbeteiligungen aus der geheimen Regierungsvereinbarung ist der WKStA übrigens nicht erst seit der nunmehrigen Vorlage durch die FPÖ bekannt. Bei der Auswertung des sichergestellten Mobiltelefons von Ex-Minister Löger stießen die Ermittler auf ein gelöschtes Foto. Die IT-Experten der Justiz konnten die Aufnahme wiederherstellen – und diese zeigt eins zu eins die entsprechende Passage zu den staatlichen Unternehmensbeteiligungen aus dem Kurz-Strache-Papier. Spannend sind aus Ermittlersicht die näheren Umstände: Das Foto wurde am 14. Jänner 2019 aufgenommen. Vom selben Tag existiert ein Handy-Chat zwischen dem damaligen Finanzminister und Thomas Schmid. In einem Amtsvermerk der WKStA heißt es dazu: „Aus dem Chat geht im Zusammenhalt mit dem Foto hervor, dass Kurz, Blümel, Löger, Mag. Bonelli (Anm.: damaliger Kabinettschef von Kurz) am 14. Jänner 2019 die Besetzung des Aufsichtsrats der ÖBAG diskutierten.“ Es erscheine „sehr wahrscheinlich“, dass Löger das Foto „im Rahmen dieser Diskussion anfertigte“. Die Ermittler halten fest: „Im Ergebnis ist daher mit höchster Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Löger das von ihm als ‚Regierungspapier‘ bezeichnete Dokument im Rahmen dieses Gesprächs am 14. Jänner 2019 abfotografierte und später wieder löschte.“

Demnach müsste das Papier den anderen mutmaßlichen Gesprächsteilnehmer wohl auch bestens bekannt gewesen sein. Als Löger von den Ermittlern im Rahmen einer Beschuldigteneinvernahme mit dem Foto konfrontiert wurde, behauptete er, er könne „dieses Dokument nicht zuordnen“ und habe das „noch nicht gesehen“.

Als Kurz im vergangenen Jahr im Falschaussage-Ermittlungsverfahren als Beschuldigter befragt wurde, sagte er zum Oberstaatsanwalt der WKStA, der nach einem derartigen „Regierungspapier“ fragen wollte: „Aber ich würde jetzt gerne wirklich einen Punkt machen. Das funktioniert nicht so gut zwischen uns.“

 

OeNB, ÖBB, Asfinag

Der zu verteilende Kuchen war groß. Siehe die Oesterreichische Nationalbank: „Nominierung Präsident bzw. Gouverneur: Der ÖVP obliegt das Wahlrecht zur Nominierung einer der beiden Positionen. Die jeweils andere Position wird von der FPÖ nominiert. Direktorium: 2 der 4 Positionen für die FPÖ.“ Und so kam es dann auch. Den OeNB-Präsidenten auf einem ÖVP-Ticket gibt bis heute Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer, den Gouverneur auf einem FPÖ-Ticket Robert Holzmann, das Direktorium wurde fiftyfifty besetzt.

Die Österreichische Bundesbahnen, die Schieneninfrastrukturgesellschaft SCHIG und der Straßenbetreiber Asfinag gehörten und gehören zum Infrastrukturministerium, das Ende 2017 die FPÖ erfolgreich für sich beansprucht hatte. Die ÖVP ließ sie damit allerdings keinesfalls allein. „Die ÖVP erhält eine Person bis zu 1/3 der Aufsichtsratsmandate im Bereich der Infrastrukturbeteiligungen“.

Der ORF, die Gebühren, das Personal

Nie realisiert wurde das wahrscheinlich kühnste Vorhaben in dem Geheimpapier: Die Abschaffung der ORF-Gebühren. Es gibt Einvernehmen darüber, dass die ORF-Gebühren unter Voraussetzung budgetärer Machbarkeit in das Budget des Bundeshaushalts übergeführt werden. Den Zeitpunkt vereinbaren die beiden Koalitionspartner gemeinsam.“ Das Dokument verweist auf eine weitere Vereinbarung zwischen ORF-Stiftungsratschef Norbert Steger (FPÖ) und dem Leiter der ÖVP-Delegation im Stiftungsrat Thomas Zach, die auch inhaltliche Fragen behandelt. Die Verhandler waren demnach übereinkommen, die „Österreich-Kompetenz“ und den „besonderen Bezug zu Österreich“ in allen ORF-Programmen „spürbar“ zu machen, regionale Inhalte sollten „gestärkt“, die Landesstudios „aufgewertet“ und mehr „Autonomie“ ausgestattet werden. Im Ermittlungsakt findet sich auch eine Liste mit Namen von ORF-Leuten, allesamt nur mit Kürzeln erfasst. Unter „kurzfristige Maßnahmen“ waren gleich neun ORF-Leitungsfunktionen abgesprochen worden: zwei Chefredakteure, zwei Channel Manager, die Leiter von Rechts- und Personalabteilung, zwei Hauptabteilungsleiter und ein Sendungsverantwortlicher (nicht alle Funktionen wurden später auch so besetzt).

Ein weiterer Punkt behandelte „Gremien und ORF-Struktur“. FPÖ-Mann Norbert Steger wurde zum Vorsitzenden des Stiftungsrats bestimmt, wobei nach „nach allfälligem Ausscheiden Dr. Steger“ der Vorsitz der ÖVP zugefallen wäre (Steger wurde im Mai 2018 Vorsitzender des Stiftungsrats und ist es bis heute).

Auch das damals nicht unmittelbar zur Disposition stehende ORF-Direktorium wurde im Voraus geplant – zumindest, was die Verteilung der Macht betrifft. Und die lag selbstredend bei der ÖVP. „Geschäftsführung bei gesamter Neubestellung: 3:2 (GD + 2 VP, 2 FP).“ In einer allfälligen neuen ORF-Struktur wollte man mit vier Direktoren auskommen, zwei von der ÖVP und zwei von der FPÖ, wobei der Generaldirektor mit einem „Dirimierungsrecht“ ausgestattet werden sollte (bei Gleichstand einer Abstimmung entscheidet die Stimme des Generaldirektors).

„Die VP tobt!“

Just dieser Sideletter zum ORF sorgte im März 2019 für koalitionsinterne Misstöne. Chat-Nachrichten deuten darauf hin, dass die Abreden zum ORF damals an einen Journalisten der „Kronen Zeitung“ geleakt wurden. Kurz war außer sich. In einer gemeinsamen Chatgruppe der Regierungsspitze wetterte er: „Ich halte das für eine wirkliche Grenzüberschreitung! Wer so etwas tut bringt nicht nur die Koalition sondern jeden einzelnen von uns in Gefahr!“ Strache antwortete: „Von uns hat er es nicht! Aber es ist sehr ärgerlich! Lg“. Tags darauf schrieb Strache dem „Krone“-Journalisten: „Von mir hast du das nicht!!!!! Die VP tobt!“ Auch über Geopolitik tauschte Strache sich mit Redakteur: „Orban ist mit offenen Armen willkommen, gemeinsam eine zukünftig starke patriotische europäische Fraktion sicherzustellen! J

Kopftuchverbot, CETA und die Landtagswahlen

Bemerkenswert erscheinen schließlich auch die Absprachen zu politisch heiklen Vorhaben, die entweder vor oder nach Landtagswahlen eingetaktet werden sollten, je nachdem. Siehe das Kapitel „Kopftuch“. Das Kopftuchverbot an Kindergärten und Schulen sollte demnach „im Einvernehmen zwischen den Regierungsparteien“ bis spätestens 2020 eingeführt werden – „oder in Abstimmung im Hinblick auf die Wiener Landtags- und Gemeinderatswahlen“. Tatsächlich trat das Kopftuchverbot im Herbst 2019 in Kraft, knapp ein Jahr vor der Wien-Wahl im Oktober 2020 (im Dezember 2020 kippte der VfGH das Verbot wieder).

Andersrum lief es beim vieldiskutierten transatlantischen Freihandelsabkommen CETA. Hier sollte Österreichs Ratifikation erst nach der Salzburger Landtagswahl am 22. April 2018 (im Dokument ist versehentlich das Jahr 2017 genannt), aber vor dem Beginn des österreichischen EU-Ratsvorsitzes am 1. Juli 2018 erfolgen. Was auch geschah. Mitte Juni 2018 wurde das Handelsabkommen von der Mehrheit des Nationalrats ratifiziert.

Das türkis-blaue Projekt war nach kaum mehr als 500 Tagen an seinem Ende. Dafür wurde erstaunlich viel aus dem Geheimpapier umgesetzt, was vor allem die ÖVP für sich zu nutzen wusste.

Und das wirft natürlich die Frage auf: Haben auch die Grünen anlässlich der Regierungsbildung Nebenabreden mit der ÖVP getroffen? Sie haben. Freitagabend wurde profil und ORF ein Dokument zugespielt, das nicht Teil des WKStA-Akts ist (wo es auch nicht hingehört). Es handelt sich um eine Vereinbarung zwischen ÖVP und Grünen, unterzeichnet von Sebastian Kurz und Werner Kogler. Das Dokument ist vergleichsweise schlank und besteht nur aus einem Kapitel: „Personalia“. Es kann kein Zufall sein, dass die zu verteilenden Schrebergärten weitgehend jenen entsprechen, die schon mit der FPÖ verhandelt worden waren. Die ÖVP hat im Gestalten derartiger Vereinbarungen offenbar Routine – und auch die richtigen Vorlagen zur Hand.

Die Vereinbarung zwischen ÖVP und Grüne im Volltext.

Im Unterschied zum ÖVP-FPÖ-Papier finden sich darin allerdings (mit einer Ausnahme) keine Namen, vielmehr Nominierungsrechte beider Parteien, die wiederum hauptsächlich die ÖVP für sich beansprucht hat.

Besonders interessant: Im Jahr 2023 will sich die türkis-grüne Regierung die beiden Vorstandsjobs bei der Finanzmarktaufsicht teilen – „vorbehaltlich möglicher Änderungen aufgrund von Reformen“. Geregelt ist auch die Zukunft der Oesterreichischen Nationalbank. Sollten dort Direktoren ausscheiden, wurde ein „abwechselndes Nominierungsrecht beginnend bei der ÖVP“ vereinbart.

Wie zuvor bei Türkis-Blau kam die ÖVP auch mit den Grünen überein, Aufsichtsratsmandate bei Staatsbeteiligungen so zu vergeben, dass jede Partei zumindest ein Drittel der Vertreter benennen darf.

Die grüne Handschrift findet sich ganz am Schluss: „Grundsätzlich ist festzuhalten, dass alle Besetzungen auf Basis von Kompetenz und Qualifikation erfolgen.“

Diesen Satz konnte die ÖVP nicht von ihrer Vorlage aus 2017 übernehmen. Da stand er nämlich nicht drin.

Michael   Nikbakhsh

Michael Nikbakhsh

war bis Dezember 2022 stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Wirtschaftsressorts.

Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ).