„Problemviertel“ Reumannplatz: Was tun, damit Jugendliche nicht kriminell werden?
Bei Tageslicht sieht der Reumannplatz aus wie jeder andere große Platz in Wien. Vor der Eisdiele „Tichy“ bildet sich eine Schlange, die Saison hat eben erst begonnen. Die Bänke sind fast komplett besetzt. Die Menschen rauchen, essen Sonnenblumenkerne oder trinken Redbull, Kinder laufen quer durch den Platz und spielen.
Der Reumannplatz strahlt an diesem Frühlingstag lebendige Freude aus – wenn da nicht die vielen Polizeiwagen, Kamerateams und Schlagzeilen der letzten Wochen wären. Messerattacken, sexualisierte Gewalt, Schwerpunktaktionen der Einsatzgruppe Jugendkriminalität. Wenn es dunkel wird, ist der Reumannplatz laut Medienberichten der Wiener „Gewalt-Hotspot“, Favoriten Wiens „Problem-Bezirk“. Bundeskanzler Karl Nehammer überlegt, aufgrund der steigenden Jugendkriminalität das Strafmündigkeitsalter zu senken, und Innenminister Gerhard Karner beschloss in ungewohnter Einigkeit mit der rot-pinken Stadtregierung eine Waffenverbotszone um den Reumannplatz.
Favoriten, der Bezirk der kriminellen Teenager?
Im zehnten Wiener Gemeindebezirk leben 218.415 Menschen, mehr als in Linz. Das Durchschnittsnettoeinkommen liegt mit 21.487 Euro pro Jahr deutlich unter dem Wienschnitt von 24.992 Euro.
Die Bevölkerung ist jünger als im Rest Wiens, das Gebiet dichter besiedelt und die Bevölkerung finanziell schlechter gestellt – in keinem anderen Bezirk gibt es mehr Drittstaatsangehörige als in Favoriten (26,7 Prozent), sie dürfen weder bei den Bezirksvertretungs- und schon gar nicht bei den Gemeinderatswahlen ihre Stimme abgeben. Favoriten ist laut Kriminalitätsstatistik der Wiener Bezirk mit den meisten absoluten angezeigten Straftaten. In Relation betrachtet liegt der zehnte Bezirk im oberen Mittelfeld – am unsichersten soll es in der Innenstadt sein. Dort ist die Bevölkerungsdichte allerdings besonders klein und die Anzahl an Tourist:innen und Nachgastronomiebetrieben groß.
Perspektivenlosigkeit, finanzielle Sorgen oder falsche Vorbilder sorgen bei manchen Jugendlichen dafür, dass sie gewalttätig oder kriminell werden. Strafanzeigen gegen Kinder und Jugendliche nehmen zu.
Sind die Teenager erst einmal in die Kriminalität abgerutscht und gehen mit Messern aufeinander los, muss die Polizei einschreiten. Sozialarbeiter:innen wie Merivan Kar oder Rick Reuther möchten mit ihrer Arbeit verhindern, dass junge Menschen das Gesetz brechen.
profil traf die pädagogische Bereichsleitung und den pädagogischen Mitarbeiter im Back on Stage 10-Jugendzentrum am Hebbelplatz in Wien-Favoriten. Das Jugendzentrum befindet sich ziemlich versteckt in einem Gemeindebau der 1960er-Jahre, ist schwer, hin zu finden.
Das Back on Stage 10-Jugendzentrum ist groß, hell und vor allem besonders gepflegt. In den Räumen hängen laminierte Zettel mit motivierenden Sprüchen wie „Du hast den Mut, neu anzufangen“. Im gesamten Jugendzentrum herrscht ein „Snus-Verbot“, worauf mehrfach hingewiesen wird. Es gibt einen Aufenthaltsraum, ein eigenes Tonstudio, eine Küche, einen großen Garten und eine eigene Mädchen*zone, also einen eigenen „safe space“, in dem Mädchen sich zurückziehen können.
Noch ist kein Jugendlicher im Back on Stage 10, dieser öffnet nämlich erst eineinhalb Stunden nach dem Besuch von profil. Die beiden Betreuer:innen wollen die Jugendlichen vor Journalist:innen abschirmen, insbesondere nach den Schlagzeilen der letzten Wochen.
30 Jugendliche am Tag
Sowohl Reuther als auch Kar haben täglich mit Jugendlichen im Alter von zehn bis Anfang zwanzig Jahren aus dem Hotspot zu tun. „Die Mobile Jugendarbeit in Favoriten verzeichnet pro Tag durchschnittlich 30 Kontakte“, erzählen sie profil. Ihren Arbeitsalltag beschreiben sie als abwechslungsreich. „Wir arbeiten sehr an die Situation und an die Bedürfnisse angepasst“, meint Reuther. Der Streetworker ist vor allem viel in Parks unterwegs – im Sommer sind seine Kolleg:innen und er sogar bis Mitternacht auf den Straßen. Mit Jugendlichen wird dort geredet, gespielt oder dabei geholfen, Bewerbungen für Lehrstellen oder Jobs zu schreiben.
Angst vorm Briefe öffnen
Die beiden berichten davon, dass den Jugendlichen die Teuerung zu schaffen macht: „Wir haben zu viele Jugendliche, die sich davor fürchten, Briefe aufzumachen, weil sie Angst vor neuen Rechnungen haben. Zu viele trauen sich nicht, daheim zu heizen. Oder haben kein regelmäßiges warmes Essen. Und das geht an niemandem einfach so spurlos vorbei“, erzählt Kar.
Perspektivlosigkeit und Endlosspirale
Viele der Teenager, mit denen Kar und Reuther arbeiten, sind bemüht, etwas an ihren Situationen zu ändern. Die Perspektivenlosigkeit erschwert es ihnen jedoch. „Viele Jugendliche, die bei uns sitzen, sind ganz motiviert und wollen eine Lehrstelle finden. Wenn du aber vielleicht nicht Maier oder Müller heißt und dann noch den zehnten Bezirk auf deinem Briefkopf stehen hast, dann wird es nicht unbedingt leichter. Auch mit guten Noten, mit Motivation. Und das kann natürlich auch Frust auslösen“, so Reuther.
Vorbestrafte Elfjährige
Was also tun, um den Jugendlichen in Favoriten zu helfen?
Kar und Reuther erzählen profil stolz von „kleineren“ Erfolgserlebnissen. Etwa, wenn Jugendliche pünktlich zu Beratungsterminen erscheinen, aber auch von den „größeren“ Würfen, wenn sie Lehrstellen finden oder die Führerscheinprüfung bestehen.
Rick Reuther berichtet von einem Jugendlichen, der auf der Suche nach einem Lehrplatz war, es aber nicht geschafft hat, alleine Bewerbungsmails zu verfassen. Mit Unterstützung aus dem Jugendzentrum hat er es gelernt und hilft mittlerweile auch anderen Teenagern beim E-Mails schreiben.
Nehammers Vorstoß, das Strafmündigkeitsalter zu senken, unterstützen die Jugendarbeiter:innen nicht: „Das würde einfach nur dazu führen, dass wir elf- und zwölfjährige vorbestrafte Menschen in unserer Gesellschaft haben. Sie werden es als Erwachsene dann noch schwerer haben, einen Job zu finden. Das wäre extrem kontraproduktiv“, so die pädagogische Bereichsleiterin. Stattdessen sollte man verstärkt auf Präventionsarbeit setzen, oder den Jugendlichen bessere Perspektiven und Erleichterungen – wie zum Beispiel bei der Staatsbürgerschaft – ermöglichen.
Einige der Teenager, die ins Jugendzentrum kommen, würden gerne bei der Polizei arbeiten, können dies jedoch nicht, da sie keinen österreichischen Pass haben – obwohl sie hierzulande geboren und aufgewachsen sind.
Waffenverbot, doch was kommt danach?
Die Maßnahmen der Regierung, das Polizeiaufgebot am Reumannplatz zu erhöhen und auf ein Waffenverbot zu setzen, finden die beiden unterstützenswert, doch: „Was passiert danach? Da muss ja was dahinter stecken, warum sich die Person bewaffnet hat. Stecken da Ängste dahinter? Oder ist es auch einfach nur ein unüberlegter Akt gewesen? Da setzen wir an und fragen nach“, so Kar.
Zumindest kurzzeitig dürfte die massive Präsenz der Beamten und die medialen Berichte Wirkung gezeigt haben: Seit Samstag kontrolliert die Wiener Polizei das Waffenverbot. Es heißt, dass bei den Streifen fast keine verbotenen Gegenstände gefunden wurden, die Beamten berichten von einem überaus ruhigen Wochenende.