profil-Corona-Tagebücher: Wie geht es den Menschen da draußen?
Der Supermarkt-Manager: "Statt applaudiert wird angeschnauzt"
Er ist Wiener Bezirksleiter einer großen Supermarktkette und will anonym bleiben.
WOCHE 1, März 2020: "Die Kunden hamstern. Die Umsätze haben sich verfünffacht. Mitarbeiter haben sich selbstständig Schutzmasken organisiert, legen sie aber wieder ab, weil sie unangenehm sind. Für ihren Einsatz im Ausnahmezustand werden sie von den Kunden mit Wertschätzung überschüttet. Ein völlig neues Gefühl, das beflügelt."
WOCHE 10, Mai 2020: "Die Umsätze haben sich auf ein langjähriges Level eingependelt. Auch sonst ist wieder Normalität eingekehrt, die große Solidarität der Kunden mit den Mitarbeitern ist gefühlt wieder vorbei. Die Masken und Gesichtsschilder haben sich in meinen Alltag integriert. Ich bin echt froh, im Handel beschäftigt zu sein, bei all den Kündigungswellen, von denen man liest."
WOCHE 48, Februar 2021: "Das Klatschen hat sich komplett aufgehört. Jetzt werden Mitarbeiter schnell angeschnauzt, wenn die Maske nur kurz unter die Nase rutscht. Bei mir trudeln wöchentlich Beschwerden ein. Was soll ich antworten: Dass meine Leut' auch atmen wollen? Auf Leitern steigen, Regale einschlichten oder Getränkekisten schleppen - die Arbeit mit FFP2-Maske ist immens schwer. Und auf Maskenpause zu gehen, ist nicht möglich, wenn die Kunden schon rufen: Dritte Kassa! Mehr Personal gibt es ja nicht, um die Verschnaufpausen zu kompensieren. Im Gegenteil. Durchschnittlich gab es bereits in jeder meiner Filialen einen Corona-Fall und dadurch zusätzliche Personallücken. Die Dunkelziffer ist sicher höher.
Ich war seit Beginn der Pandemie keinen einzigen Tag auf Urlaub. Den Mitarbeitern und Kunden die wechselnden Vorschriften zu erklären, sofern sie überhaupt klar sind, das ist allein schon ein Fulltime-Job. Dazu kommen Überstunden wegen der noch immer deutlich höheren Umsätze. Beim Fleischkonsum merken wir die am stärksten. Das wird so weitergehen, solange die Gastro zu ist.
Die Corona-Prämie fand ich gut. Statt der 300 Euro hätte ich mir für die Mitarbeiter aber einen Corona-Tausender gewünscht. Das wäre angesichts der Rekordgewinne wohl drinnen gewesen."
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EDITH MEINHART, CLEMENS NEUHOLD, EVA LINSINGER, GERNOT BAUER, THOMAS HOISL und JAKOB WINTER begleiten ihre TagebuchschreiberInnen nun bald ein Jahr. Wir waren erstaunt, welche Wendungen das Alltagsleben in einem Jahr Ausnahmezustand nehmen kann - oder wie unberührt es davon manchmal bleibt. Für das Jahresjubiläum hätten wir unsere ProtagonistInnen gerne zur Diskussion an einen Wirtshaustisch eingeladen. Aus heutiger Sicht ein naiv optimistischer Plan. Hoffentlich klappt es 2022.