Der Hölle entreißen, den Himmel in Bewegung setzen
Ich kenne kaum eine Kollegin oder einen Kollegen, die ihren Beruf mit soviel Leidenschaft, Hingabe und auch Schonungslosigkeit gegen sich selbst betreibt wie die langjährige profil-Redakteurin Christa Zöchling. Sie lebt und leidet mit den Menschen, die sich ihr anvertrauen. Ende August gelang es ihr, via WhatsApp mit einer afghanischen Richterin in Kabul Kontakt aufzunehmen, die nach der Machtübernahme der Taliban in Todesangst mit ihrer Familie im Keller eines aufgelassenen Lagers in Kabul ihres Schicksals harrte. Ihr notdürftiger Proviant bestand auch aus Giftkapseln, die sie, im Falle entdeckt zu werden, alle schlucken wollten.
Ist da jemand?
Zöchling titelte ihre Geschichte mit der Frage "Ist da jemand?" Und beschloss, was sie sowieso nie tut, danach nicht zur journalistischen Tagesordnung überzugehen. Die Angst, dass sie durch ihre Geschichte die 42-jährige Palwasha, deren Schwestern, den halbblinden Bruder und die alte Mutter vielleicht in Gefahr gebracht habe, nagte an ihr.
Unberechtigterweise: Denn ohne die Energie und Entschlossenheit, mit der sich Zöchling in den Kopf setzte, diese Familie eben nicht ihrem "schwarzen Schicksal", wie eine Schwester das beschrieb, zu überlassen, säße die Familie (vielleicht im besten Fall) noch immer in jenem Keller.
Chronik einer Rettung
Die Chronik einer Rettung nimmt einen unheilvollen Anfang. Denn zuerst wendet sich Zöchling an das Büro von Vizekanzler Werner Kogler, der das Anliegen an das Kabinett des damaligen Außenministers Alexander Schallenberg übermittelt. Die Konsequenz: "keine Reaktion". Sie versucht es weiter mit dem Wiener Bürgermeister-Büro, wird aber dort an die Magistratsabteilung 35 ("Einwanderung") verwiesen.
Am Morgen des 24. August schreibt sie der deutschen Frauenrechtsaktivistin und Herausgeberin der Zeitschrift "Emma", Alice Schwarzer. Die antwortet sofort: "Verbreite die Geschichte über 'Emma online', rufe deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer an und kontaktiere US-Senatorinnen."
Am Abend desselben Tages meldet sich auch das Büro Laschet: "Die Richterin und ihre Familie stehen auf der deutschen Liste. Das bedeutet in der aktuell schwierigen Lage leider nur: Mit Glück rufen die Deutschen an. Es ist hilfreich, dass Schwarzer auch mit AKK (Anm.: Annegret-Kramp-Karrenbauer) redet."
Spätnachts noch einmal Alice Schwarzer: "Sie ist auf einer US-Evakuierungs-Priority-Liste. Wir hoffen, hoffen, hoffen."
Unter welchen Ängsten, Rückschlägen und mit welcher Courage der Familie die Flucht aus der Hölle der Taliban dann doch gelang, lesen Sie in unserer aktuellen Titelgeschichte. Bedauerlich ist nur, dass sie in Luxemburg vorläufig endete.
In einem Interview fragt Zöchling den luxemburgischen Aussenminister Jean Asselborn, was er von der österreichischen Handlungsweise in dieser Causa hält. Seine Antwort: "Ich will nicht ungerecht sein: Österreich hat viele Menschen aus Afghanistan aufgenommen, das ehrt Österreich. Allerdings war das alles vor der Kanzlerschaft von Sebastian Kurz. Mit Kurz kam eine drastische Wende. In dieser Wende erkenne ich die Philosophie eines Politikers, der in seinem ganzen politischen Wirken eine Aversion gegen Migration hegt. Migration war für Kurz das Erfolgsthema schlechthin. Ich werde ihm nie verzeihen können, dass er 2018, als Österreich die EU-Präsidentschaft innehatte, den UN-Migrationspakt hintertrieben hat ... Ich könnte kein Nein über die Lippen bekommen angesichts des Leids. Ich denke, die Leute um Kurz herum haben doch auch Eltern und Kinder. Sie können sich das Ausmaß dieses Elends und dieser Angst vorstellen. Diese beiden Richterfamilien, die jetzt bei uns sind, hätten Österreich nicht überlastet. Es geht um das Prinzip. Das passt nicht zu Österreich, zu dem österreichischen Volk, wie ich es kenne."
Viel Empathie beim Lesen wünscht
Angelika Hager
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