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Heute schon geschwindelt?

Wahrheit und Pflicht: Von den Fortschritten der Lügenforschung bis zum Ibiza-U-Ausschuss.

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Guten Morgen! 

Wenn Sie diesen Text lesen, haben Sie wahrscheinlich gerade einmal das Frühstück zu sich genommen, die Wohnung verlassen oder den Computer für die erste Homeoffice-Videokonferenz gestartet. Vielleicht haben Sie es bis hierher geschafft, ohne dass Ihnen heute bereits eine Unwahrheit über die Lippen gekommen wäre. Aber nur keine falschen Hoffnungen: Der Tag ist noch lang. Und außerdem neigen wir ohnehin eher gegen Abend, wenn die Müdigkeit fortschreitet und die innere Moral schon ein bisschen ausgepowert ist, dazu, ein bisschen zu schwindeln. Völlig ohne Flunkern kommt man üblicherweise nicht durch den Tag – wenn auch die im Internet häufig genannte Zahl von 200 Unwahrheiten pro 24 Stunden stark übertrieben sein dürfte.

Die Lügenforschung hat in den vergangenen Jahren interessante Fortschritte gemacht. So wurde nicht nur das eingangs erwähnte Ehrlichkeitsgefälle bei fortschreitender Tageszeit entdeckt. Wissenschaftler haben zudem herausgefunden, dass Männer häufiger lügen als Frauen und jüngere Menschen es statistisch gesehen mit der Wahrheit weniger genau nehmen als ältere. Viele der alltäglichen kleinen Schwindeleien sind harmlos, manche können aus Höflichkeitsgründen geradezu geboten erscheinen. Wenn es um die Kontrolle von Macht und politischer Verantwortung geht, würde man jedoch annehmen, dass richtige und vollständige Angaben eine unverzichtbare Basis darstellen.

Wahrheit und Pflicht

Umso überraschender, dass Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) am Montagabend in einem Interview auf "Puls 24" nichts weniger zur Disposition stellte, als die Wahrheitspflicht in Untersuchungsausschüssen des Parlaments. Auskunftspersonen hätten „eine ungeheure Sorge“, irgendetwas Falsches zu sagen, beklagte Sobotka und meinte zur Interviewerin: „Wissen Sie, wie das die Leute unter Druck setzt?“

Die Frage, woher dieser Druck stammt, wäre durchaus eine kleine Analyse wert. Die Gefahr, sich – bei besten Absichten – einfach nur falsch zu erinnern, ist im aktuellen Ibiza-U-Ausschuss so gering wie noch nie. Kaum ein anderer Untersuchungsausschuss war – zeitlich gesehen – so nahe am Untersuchungsgegenstand wie dieser. Vielleicht stammt der Druck aber auch eher daher, dass die tatsächlichen politischen Handlungen mitunter deutlich von jenem Bild abweichen, das bisher kunstvoll darüber vermittelt wurde. Dazu kommt, dass Auskunftspersonen durchaus fürchten müssen, dass irgendwo ein Handy-Chat schlummert, der eine Unwahrheit auch als solche entlarvt. 

Halb- und Viertelwahrheiten

Politische Kommunikation funktioniert – zumindest in Demokratien – selten über handfeste Lügen. Diese wären allzu leicht zu erkennen. Es sind jedoch die vielen Halb- und Viertelwahrheiten, die schwierig zu fassen sind und langfristig den Diskurs verzerren können. Untersuchungsausschüsse, in denen Regierungsmitglieder (und deren politische Familienangehörige) unter strafrechtlich sanktionierter Wahrheitspflicht Rede und Antwort stehen müssen, sind eines der wenigen Instrumente, die breitflächige Polit-PR zu durchdringen.

Eine weitere Möglichkeit, Transparenz zu schaffen, ist unabhängiger und kritischer Journalismus. Diesen liefern wir Ihnen Woche für Woche – diesmal unter anderem mit einem Bericht über fragwürdige Ausschreibungen der Stadt Wien, mit einer Story über die Verbindungen zwischen einem ukrainischen Oligarchen und dem zusammengebrochenen Zahlungsdienstleister Wirecard sowie mit einem Artikel über potenzielle Missstände in einem niederösterreichischen Pflegeheim.

Ich wünsche Ihnen – ehrlich und von ganzem Herzen – einen schönen Tag!

Stefan Melichar

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Stefan Melichar
Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ). 2022 wurde er mit dem Prälat-Leopold-Ungar-Journalist*innenpreis ausgezeichnet.