Warum Anschober nicht gescheitert ist
Guten Morgen!
Sitzt man mit einigen der am besten vernetzten JournalistInnen Österreichs mehrmals wöchentlich in Videokonferenzen, überraschen einen Rücktritte nur mehr selten. Flattert die Ankündigung einer „persönlichen Erklärung“ dann ins Mail-Postfach, ist der Schockfaktor meist gering - ebenso am vergangenen Dienstag bei Rudolf Anschober. Die Erklärung des Gesundheitsministers war dann aber doch denkwürdiger als viele andere. Aus zwei Gründen:
Anschober sprach uns allen aus der Seele. Der Kampf mit der Pandemie ist lang und mühsam – und er lastet auf unser aller Schultern. „Nichts ist mehr unbeschwert“, sagte meine Mutter vor Kurzem und sie hat recht. Das Damoklesschwert Corona-Infektion hängt über allem, was Freude macht, und das ist anstrengend. Undenkbar, wie es jenen geht, die seit Monaten ohne Pause auf den Intensivstationen schuften. Wir sind alle müde und es ist erfrischend, dass einer der wichtigsten Politiker des Landes das auch so ausspricht.
Ich bin überarbeitet und ausgepowert. Das ist es.
Was mich zum zweiten Punkt bringt: In einer Welt der nimmermüden Leistungsträger, wie die ÖVP sie gerne propagiert, repräsentieren Anschobers Verwundbarkeit und Emotionalität einen neuen Stil. Eine Blaupause für eine neue politische Männlichkeit jenseits der „immergleichen Business- und Leistungsmännlichkeiten, die sich keine Fehler eingestehen und immer funktionieren“, wie sie Männerforscher Christoph May auf derstandard.at beschreibt, „es ist absolut einzigartig, dass ein männlicher Politiker sich öffentlich so äußert“. Nicht zu vergessen, wie Anschober durch den offenen Umgang mit seinem Burnout in der Vergangenheit zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen beiträgt. Auch wenn man viele Corona-Maßnahmen kritisieren kann - nicht zuletzt das Chaos beim Impfen, das Clemens Neuhold und Thomas Hoisl hier beschreiben - Scheitern sieht anders aus.
Für Erkrankungen braucht sich niemand zu schämen
In diesem Sinne, wagen wir doch ein Gedankenexperiment: Stellen Sie sich einen Teller vor, darauf all Ihre Aktivitäten, Verpflichtungen, Freunde, Familie, Job etc. Corona hat uns diesen Teller im letzten Jahr zwangsweise geleert. Was wollen Sie nach der Pandemie wieder darauf geben? Und worauf können Sie auch in Zukunft getrost verzichten?
Für Rudolf Anschober waren das wohl Corona-Maßnahmen und die ÖVP. Man kann es ihm nicht verdenken.
Ines Holzmüller
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