Wenn Kurz narzisstisch war, ist Nehammer dann naiv?
Hat der Kanzler koordiniert oder nur informiert? Auf diese scheinbar belanglose Frage läuft die Interpretation der gestrigen Moskau-Reise hinaus: Hat Karl Nehammer im Ego-Trip auf eigene Faust gehandelt oder ist er wohl abgestimmt im europäischen Konzert zu Wladimir Putin gereist? Recherchen im Vorfeld geben ein diffuses Bild. So erzählt mir ein Mitarbeiter des deutschen Bundeskanzlers, dass Olaf Scholz die Initiative des österreichischen Amtskollegen begrüßt hätte. Dann wird es aber schon eng. Aus keiner der europäischen Staatskanzleien und schon gar nicht aus dem Weißen Haus ist zu hören, dass Nehammer quasi als Friedensengel im neutralen Gewand geschickt worden wäre. Der österreichische Außenminister wiederum erklärte erst nach einer zwölfstündigen Schrecksekunde, dass es Absprachen gegeben hätte — während sich zeitgleich ein Gros der EU-Ländern echauffiert zeigte, weil sie aus den Sozialen Netzwerken von der Reise erfahren hatten. Und die Ukraine? Da ist die Sache eindeutig: Ärger herrscht vor. Der Besuch in Moskau 48 Stunden nach dem Besuch in Kiew wird als Affront gesehen. So ist auch nicht unwahrscheinlich, dass die „Bild-Zeitung“ auf diesem Weg von der Sache Winde bekommen hatte. Was wiederum die österreichischen Journalisten vor den Kopf stieß, die am Sonntag auf eine Sperrfrist Montag 11.00 Uhr eingeschworen worden waren, während „Bild“ quasi zeitgleich die Breaking News postete.
Österreich sagt nein
Warum ist diese Frage überhaupt so wichtig? Erstens: Weil sie anschließt an eine Feststellung, die ich im Leitartikel der dieswöchigen Printausgabe gemacht hatte: „Österreich sagt nein. Maximale Distanz zum europäischen Gundkonsens.“ Nachdem die bisher bündnisfreien beziehungsweise neutralen EU-Mitglieder Schweden und Finnland wohl bald einen Beitrittsantrag zur NATO stellen werden, bleibt Österreich mit seiner Neutralität allein zu Haus. In hohen Norden hat sich die Meinung der Bevölkerung angesichts des Ukraine-Krieges komplett in Richtung NATO geändert. In Österreich hat sie sich auch geändert, allerdings in die andere Richtung: Wir stehen nun bei 91 Prozent, die die Neutralität für wichtig halten – mehr als zu Beginn des Krieges, weit mehr als vor noch vor drei oder vier Jahren. Mit dem Nehammer-Trip nach Russland wird diese Sonderstellung nun nochmals verfestigt. Was Sebastian Kurz mit seiner Opposition zu Angela Merkel und seiner Nähe zu Viktor Orban vorgekocht hatte, wird von Karl Nehammer nun wieder aufgewärmt. Österreich ist kein verlässlicher Partner.
Das führt – zweitens – zur Frage, warum der Bundeskanzler sich überhaupt ins Flugzeug gesetzt hat. Die möglichen Antworten gehen über Küchenpsychologie hinaus: Die ganze Welt blickt gerade zweifelnd in Richtung Wien. Wenn Kurz regelmäßig narzisstisch gehandelt hat, handelt sein Nachfolger dann naiv? Übersieht er, dass Putin diesen Besuch dazu nützen wird, seine Gesprächsbasis mit dem Westen zu dokumentieren, völlig unabhängig davon, was der Österreicher in seiner Pressekonferenz („Direkt, offen, hart. Die Kriegsverbrechen angesprochen.“) von sich gab? Nehammer zeigt jedenfalls eine Mischung aus hochemotionalen Reaktionen und nachgerade militärischem Auftritt. So galt er im ÖVP-Generalsekretariat als zu weich für den Job. Als Innenminister und indirekter Nachfolger von Herbert Kickl kam ihm das aber zugute, auch als Nachfolger von Kurz im Kanzleramt. Freilich: Vor einer Woche lud er überstürzt zu einer skurrilen Pressekonferenz, nachdem zwei – den Kanzler bewachende Cobra-Beamte – einen Unfall mit 1,2 Promille Alkohol im Blut verursacht hatten. Dort stellte sich der Kanzler hochemotional vor seine Familie. Allerdings deutet nun einiges darauf hin, dass der Alkohol in der Kanzlerwohnung geflossen war. Ein PR-Megagau, wenn es wirklich so gelaufen war, der nur durch Kiew und Moskau überdeckt wurde.
Das globalisierte Versteckspiel
Und hier nochmals Russland, aber anders: Russlands Oligarchen, ihre Milliarden, ihre Verstecke. So sehr sich die internationale Gemeinschaft bemüht, die Vermögenswerte sanktionierter russischer Geschäftsleute und Politiker dingfest zu machen, so beschwerlich ist die Übung. Um Besitztümer beschlagnahmen oder einfrieren zu können, muss man zunächst einmal wissen, wem diese überhaupt gehören. Und da wird es kompliziert.
Russlands Elite hat über Jahrzehnte hinweg eine Industrie aus Rechtsanwälten, Bankern, Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern, Vermögensberatern, Treuhändern am Leben erhalten, deren gemeinsamer Daseinszweck sich im Verwischen von Spuren erschöpft. Der Besitz vermögender Leute verschwindet hinter Kaskaden aus Briefkastenfirmen, Strohleuten und Verträgen: Immobilien, Grundstücke, Kunstgegenstände, Firmenbeteiligungen, Flugzeuge, Yachten, Bankkonten, Wertpapierdepots, Edelmetalle – und alles, was es sonst noch für ein sorgenfreies, sanktionssicheres Leben braucht.
„Pandora Papers Russia“: Das ist der Name des jüngsten globalen Rechercheprojekts rund um das International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ), an welchem Stefan Melichar und Michael Nikbakhsh einmal mehr beteiligt waren – seit gestern Abend werden die Ergebnisse nach und nach international abgestimmt veröffentlicht. Aus Österreich ist auch der ORF Teil des Projekts.
Die Pandora Papers führen zu den milliardenschweren Briefkastenfirmen, Trusts und Stiftungen hunderter Oligarchen, Industrieller, Banker, Öl-Manager, Ex-Minister, -Abgeordneter, Kommunalpolitiker. Sie zeigen, wie Besitzverhältnisse durch Zweckgesellschaften in sonnigen Gegenden – allen voran den Britischen Jungferninseln – verwaschen werden. Sie zeigen auch, wie diese Konstruktionen schon in der Vergangenheit dazu genutzt wurden, um drohende internationale Sanktionen zu umgehen.
Siegfried Wolfs „Fontana“ und die Russen
Diese spezielle Form des Hütchenspiels ist längst globalisiert und wird natürlich auch hierzulande gespielt. So landeten Melichar und Nikbakhsh bei den Recherchen zu den „Pandora Papers Russia“ alsbald auch im niederösterreichischen Oberwaltersdorf. Dort betreibt der in und dank Russland reich gewordene Unternehmer Siegfried Wolf den Wohnpark „Fontana“. 2020 verkaufte eines seiner Unternehmen zwei große Bauparzellen an ein undurchsichtiges Firmenkonstrukt. Was das nun mit dem Kreml zu tun hat, lesen Sie hier.
Sie dürfen in den kommenden Tagen mit weiteren Enthüllungen rechnen, bleiben Sie gespannt.
Christian Rainer
Herausgeber und Chefredakteur